Vernetzte Sicherheit? – Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren

[IMI] Wolfgang Schäuble (CDU) ist scheinbar besessen: Seit Jahr und Tag
predigt er den Inlandseinsatz der Bundeswehr, vom Objektschutz über die
Bekämpfung von Demonstranten bis zum Abschuss „verdächtiger“
Zivilflugzeuge. Doch der Bundesinnenminister ist nur der lauteste
Vertreter einer Heimatschutz-Fraktion, die das Militär zum
innenpolitischen Ordnungsfaktor machen will. Sie redet nicht nur,
sondern handelt. Davon, dass die deutsche Geschichte nur allzu viele und höchst
abschreckende Beispiele von militärischen Inlandseinsätzen kennt, ist
bemerkenswert wenig die Rede. Dabei war es im 19. Jahrhundert noch
Alltag, das Militär als innenpolitisches Hilfsmittel der Herrschenden
einzusetzen. „Militair- und Civilbediente sind vorzüglich bestimmt, die
Sicherheit, die gute Ordnung, und den Wohlstand des Staats unterhalten
und fördern zu helfen“, hieß es in Paragraph 1 des Allgemeinen
Preußischen Landrechts von 1794. Soldaten wurden mangels einer
flächendeckenden Polizei gar als Zwangsvollstrecker für simple
Verwaltungs- und Gerichtsbeschlüsse verwendet, in Sachsen bis 1868 als
Steuereintreiber, in Hessen-Nassau als Wildtreiber.[1]

Im Deutschen Reich ist nach 1871 die Polizei ausgebaut worden, eine
strikte Trennung zwischen Militär- und Polizeiaufgaben gab es jedoch
nicht. Weiterhin agierten militärisch strukturierte Länder-Gendarmerien
„im Grenzbereich zwischen Militär und Polizei“,[2] und die in den
Kolonien stationierten Kaiserlichen Schutztruppen waren für die gesamte
Palette der „öffentlichen Sicherheit“ zuständig.

Aber auch für die regulären Streitkräfte sah die bismarcksche
Reichsverfassung Möglichkeiten zum inneren Einsatz vor. So zum Zwecke
des „Staatsschutzes“: Nach Artikel 68 konnte der Kaiser, „wenn die
öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden
Teil desselben in Kriegszustand“ erklären, was bis 1914 zwar nie
vollzogen, aber mehrfach erwogen wurde, um gegen Streiks vorzugehen.

Zusätzlich konnten einzelne Länder den so genannten „kleinen
Belagerungszustand“ verhängen, der einzelne Grundrechte lokal und
zeitlich begrenzt suspendierte, etwa in Fällen des Krieges oder des
Aufruhrs. Auch damals nahm man es mit dem Gesetz nicht immer genau: Zur
Verhängung des „großen“ Belagerungszustandes beim Streik 1885 in
Bielefeld war Preußen laut Reichsverfassung gar nicht befugt, dennoch
wurde die Maßnahme vom preußischen Staatsministerium gebilligt.[3]

Streikbekämpfung

Von größerer praktischer Bedeutung waren polizeiliche Verwendungen
außerhalb des Staatsnotstandes. Den Anlass bildeten fast immer Streiks
und Arbeiterproteste.

So marschierten im Juni 1871 frisch von den französischen
Schlachtfeldern kommende Ulanen nach Oberschlesien, um den Streik von
3000 Bergabeitern in Königshütte niederzuschlagen. Laut damaliger
Presse haben sie „mit staunenswerter Gewandtheit und Bravour“ die
Straßen „gesäubert“ und dabei sieben Arbeiter erschossen.

1872 fanden Streiks im Essener und Oberhausen-Mühlheimer Revier statt,
mit denen unter anderem der Achtstundentag gefordert wurde – ein Fall
fürs Militär. Im gleichen Jahr gab es in Berlin Proteste gegen die
miserablen Wohnungsbedingungen, auch diese wurden mit Militär
eingedämmt. 1876 gingen zwei Kompanien Infanterie und eine
Kavallerie-Abteilung gegen demonstrierende Landarbeiter in Ostpreußen
vor, 1885 wurde wegen „öffentlicher Zusammenrottungen“ und „Widerstand“
durch Arbeiter der Belagerungszustand über Bielefeld verhängt. 1887
marschierte Infanterie gegen Bergleute bei Osnabrück auf, 1889 erschoss
das Militär mehrere Arbeiter an der Ruhr, wo sich an der bis dahin
größten Streikbewegung im Deutschen Reich über 100.000 Arbeiter
beteiligten, die Achtstundentag und Arbeiterausschüsse forderten. Eine
Arbeiterdelegation wurde von Kaiser Wilhelm II. mit den Worten bedroht,
er werde „alles über den Haufen schießen lassen“, falls die Streikenden
in Verbindung mit der SPD stünden.[4] Unter dem Kommando des späteren
Reichspräsidenten Paul von Hindenburg marschierten Ende 1909 Soldaten
bei einem Streik im Mansfelder Gebiet auf.[5] Die offiziell hieß es zur
Begründung solcher Einsätze stets, das Militär wolle sich keinesfalls
in Arbeitskämpfe einmischen, sondern lediglich Produktionsanlagen und
Streikbrecher vor Gewalttätern „schützen“.

Eine parlamentarische Kontrolle gab es weder für Militäreinsätze im In-
noch im Ausland. Das Militärbudget wurde vom Reichstag beschlossen,
aber dieses Kontrollmittel entschärfte er selbst, indem er es gleich
für mehrere Jahre verabschiedete. Außerdem wurde die Zuständigkeit für
das Militär weitgehend vom preußischen Kriegsminister auf den vom
Kaiser kontrollierten Großen Generalstab übertragen. Damit gab es
niemanden, der dem Reichstag Rede und Antwort stehen musste.

Polizeiaufgaben

Neben den eher außerordentlichen Anti-Streik-Einsätzen erfüllten
Soldaten auch reguläre polizeiliche Aufgaben, solange die Polizei noch
nicht flächendeckend aufgebaut war. Dazu gehörte Objektschutz, in Baden
wurden beispielsweise die Paläste des Großherzogs, die
Münzprägeanstalt, die Filialen der Reichsbank und auch Strafanstalten
von Soldaten bewacht – also die Machtbasen der Obrigkeit (heute
„kritische Infrastruktur“ genannt).

In Städten, die über eine Militärgarnison verfügten, wachten Soldaten
im Rahmen des Garnisonswachdienstes über die Sicherheit der ganzen
Stadt. Das war an sich nicht verfassungsgemäß, weil Soldaten nur
zeitweise auf konkrete Anforderung der zivilen Behörden solche Aufgaben
erledigen durften, es wurde aber aus Zweckmäßigkeitsgründen einfach
gemacht. Auch das muss man bis heute bedenken, wenn man über den
Stellenwert juristischer Regelungen redet. Je mehr allerdings die
zivile Polizei aufgebaut wurde, desto mehr erschien den Zeitgenossen
diese Form des militärischen Regiments „befremdlich“.[6]

Die damals geübte Kritik war, ähnlich wie heute, sachbezogen: Soldaten,
vor allem Wehrpflichtige, seien für Polizeiaufgaben nicht ausreichend
qualifiziert. Offenbar haben sie vor allem bei der Bekämpfung der
Prostitution versagt, und generell ist ein übermäßig hartes Vorgehen
beklagt worden.[7] Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die
sogenannte Zabern-Affäre Ende November 1913. In der elsässischen Stadt
hatte ein Leutnant durch grobe Beleidigung elsässischer Rekruten
heftige Proteste der Bevölkerung provoziert. Die Heeresgarnison
besetzte daraufhin mehrere Tage lang gegen den Protest des
Gemeinderates die Stadt und nahm Zivilisten fest. Dieses eigenmächtige
Verhalten rief heftige Proteste in der Öffentlichkeit hervor. Der
Kaiser bekräftigte daraufhin in einer „Allerhöchsten Dienstvorschrift
über den Waffengebrauch des Militairs und seine Mitwirkung zur
Unterdrückung innerer Unruhen“ vom März 1914, das Militär dürfe außer
zur Eigensicherung nur eingreifen, wenn die Polizeikräfte nicht
ausreichten und die Zivilbehörden den Militäreinsatz anforderten.

„Vorbereitung zum Bürgerkrieg“

Völlig neuartig in der deutschen Geschichte war es, dass das
Grundgesetz der BRD Inlandseinsätze komplett untersagte. Selbst nachdem
1956 die Bundeswehr aufgestellt wurde, bestimmte der damalige Artikel
143: „Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die
Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen,
können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des
Artikel 79 erfüllt“, d. h. ein Gesetz, das seinerseits
verfassungsändernd ist. Solange das fehlte, war jegliche obrigkeitliche
Tätigkeit der Bundeswehr im Inland untersagt. Das zeugt vom damals
herrschenden Misstrauen und der Furcht davor, das Militär könne zu
einer Belastung „der demokratischen Entwicklung unseres Volkes werden“,
wie der CDU-Abgeordnete Georg Kliesing im Oktober 1955 ausführte.[8]

Dennoch beauftragte der Hamburger Innensenator und spätere
Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) während der Sturmflut im Jahr 1962
die Bundeswehr, gegen Plünderer vorzugehen und den Verkehr zu lenken.
Schmidt erklärte später: „Wir waren damals durchaus in dem Bewusstsein,
gegen Artikel 143 zu verstoßen“.[9] Dennoch gab es keine öffentliche
Kritik.

Der Sprung zu den Regelungen, die heute noch gelten, geschah 1968. Im
Rahmen der Notstandsgesetze beschloss die Große Koalition aus SPD und
CDU/CSU eine Verfassungsänderung, die dem Militär Einsätze zur „Hilfe“
bei Katastrophen erlaubte.

Zu den heftigsten Kritikern gehörte damals der Chef der Gewerkschaft
der Polizei, Werner Kuhlmann, der vor dem Bundestags-Rechtsausschuss
ausführte: „Die Gefahr steckt doch auch hier darin: Sobald es darum
geht, Bundeswehreinheiten hoheitsrechtliche Aufgaben zu übertragen,
taucht doch sofort die Frage der Bewaffnung auf […] Ich meine, wir
sollten einen ganz klaren Trennstrich ziehen und dafür sorgen, dass in
Fällen der Naturkatastrophen und bei schweren Unglücksfällen die
Bundeswehr […] durchaus eingesetzt werden kann, aber nicht mit Waffen
und ohne hoheitsrechtliche Aufgaben.“ Kuhlmann verwies auf die Gefahr
der Gewöhnung. Je mehr Inlandseinsätze es gebe, desto größer werde die
Missbrauchsmöglichkeit und die Gefahr, dass „unter dem Deckmantel der
Legalität“ ein Staatsstreich unternommen werde. Deswegen müsse „jeder,
auch jeder Soldat, […] zweifelsfrei wissen, dass Bundeswehreinheiten,
die in innere Angelegenheiten eingreifen, die Verfassung brechen.“

Der Verfassungsrechtler Helmut Ridder warnte: „Die Zurüstung der
Streitkräfte auf einen sogenannten Polizeieinsatz ist – wenn an den
Repressiv-Polizeieinsatz gedacht ist – Vorbereitung zum
Bürgerkrieg.“[10]

Befürchtungen, allzu weite Befugnisse der Bundeswehr könnten das
„demokratische Kräftegleichgewicht“ stören, gab es bis hinein in die
Regierungspartien. Daher wurden die Militärkompetenzen relativ eng
gehalten.

Zentral an den neuen Regelungen, die heute noch gelten, ist der Artikel
87a des Grundgesetzes, der Inlandseinsätze sowohl im Krieg als auch im
Frieden zulässt. Im Spannungs- und Verteidigungsfall – die hier nur
kurz gestreift werden – können Soldaten zivile Objekte bewachen,
„soweit“ dies zur Verteidigung notwendig ist. Wie auch schon im
Kaiserreich und der Weimarer Republik soll das Militär bei Bedarf
revolutionäre Bestrebungen niederschlagen (bei „Gefahr für den Bestand
oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes“), jedoch
nur subsidiär, d. h. wenn die Polizeikräfte nicht ausreichen
(GG-Artikel 87a Absatz 3 und 4).

Ansonsten gilt kategorisch: „Außer zur Verteidigung dürfen die
Streitkräfte nur eingesetzt werden, sofern dieses Grundgesetz es
ausdrücklich zulässt“ (Artikel 87a, Absatz 2). Es genügt mithin kein
einfaches Gesetz und schon gar nicht eine schlichte
Regierungsverordnung, sondern es wird explizit eine Verfassungsregelung
verlangt – ein „Ausdruck der Besorgnis, die Bundeswehr könnte als
innenpolitisches Machtinstrument missbraucht werden.“[11]

Eine solche Genehmigung enthält Artikel 35 Absatz 2. Die Bundeswehr
kann zur „Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders
schweren Unglücksfall“ herangezogen werden und polizeiähnliche
Maßnahmen durchführen, soweit es zur Erfüllung dieser Hilfe notwendig
ist. Denkbar ist also, dass Soldaten den Verkehr lenken, Straßen
absperren oder Platzverweise aussprechen, um Hilfsmaterial rasch ans
Ziel bringen zu können – sofern die Polizei dazu nicht in der Lage ist
(subsidiär). Ein Vorgehen gegen Plünderer wäre hiervon nicht gedeckt,
außer wenn es unmittelbar darauf gerichtet ist, die Hilfe
durchzuführen.[12] Erforderlich ist in der Regel ein Hilfeersuchen des
Bundeslandes, das, anders als im Kaiserreich, das Oberkommando behält.
Rechtlich möglich, aber bisher nicht erfolgt, ist ein vom Bund
angeordneter Einsatz, wenn mehrere Bundesländer gleichzeitig betroffen
sind.

Die in Artikel 35 Absatz 1 vorgesehene Amtshilfe, d. h. die technische
und logistische Unterstützung anderer Behörden, verleiht der Bundeswehr
hingegen keine polizeilichen Befugnisse.

Bundeswehr im Innern

Anfang der 1990er Jahre hat die Bundeswehr mit den Auslandseinsätzen
begonnen, und für Schäuble ist der Inlandseinsatz die logische
Konsequenz. Ende 1993 stellte er in einem Brief an die CDU-Mitglieder
die rhetorische Frage, „ob die Bundeswehr nicht unter streng zu
definierenden Voraussetzungen auch bei größeren Sicherheitsbedrohungen
im Innern – wie die Armeen aller anderen zivilisierten Staaten –
notfalls zur Verfügung stehen sollte“[13]; er dachte dabei an
Castor-Transporte, Chaos-Tage und die Abwehr von Flüchtlingen.

Damals sind die Argumente entwickelt worden, die heute gang und gäbe
sind: „Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen innerer und äußerer
Sicherheit“, sagte der damalige Verteidigungsminister Rupert Scholz
(CDU) am 14. Januar 1994 im Bundestag, und Johannes Gerster,
Fraktions-Vize der Union, meinte, die Bundeswehr müsse das
„Überschwappen“ von Kriminellen und Terroristen verhindern.
Konsensfähig war das damals noch nicht. Selbst in der Union gingen
viele auf Distanz, und Rudolf Scharping von der SPD, der spätere
Verteidigungsminister, verglich die Schäuble-Vorstellungen mit dem
spanischen Franco-Regime. Doch Schäuble hatte sein Thema gefunden und
prophezeite: „Das Thema wird so lange auf der Tagesordnung bleiben, bis
es in dem Sinne gelöst wird, den ich vorgeschlagen habe.“[14]

Schon der Begriff „Krieg gegen den Terrorismus“ als solcher zeigt eine
ungeheure Ausdehnung des Bereichs, für den Militär zuständig sein soll.
Terrorismusbekämpfung ist klassischerweise eine Aufgabe der Polizei und
nicht des Militärs, und sie wird mit den Vorgaben der Polizeigesetze
und der Strafprozessordnung erfüllt; dabei gelten, jedenfalls
rechtstheoretisch, die Unschuldsvermutung, das
Verhältnismäßigkeitsgebot usw. Einen „Krieg“ hingegen führt
normalerweise eine Armee gegen eine andere Armee oder gegen
Aufständische.

Doch solche Trennungen sollen nicht mehr gelten. Die Trennung zwischen
Militär und Polizei, zwischen innerer und äußerer Sicherheit, auch die
zwischen Polizei und Geheimdiensten – all das wird mit Hilfe des neu
eingeführten Stichworts von der Vernetzten Sicherheit über den Haufen
geworfen. Dieser Schlüsselbegriff taucht mittlerweile in praktisch
allen strategischen Papieren auf und soll dazu dienen, die Aufrüstung
der Staatsmacht zu legitimieren. Gemeint ist damit: Sicherheit zu
gewährleisten ist nicht Sache voneinander strikt genannter
Institutionen, sondern eine gesamtgesellschaftliche, ja globalisierte
Aufgabe, die ressortübergreifend, also unter Inanspruchnahme sowohl
militärischer als auch ziviler Mittel, erfüllt werden muss. Das
schließt es aus, Staats- oder andere Grenzen als Zuständigkeitsgrenzen
zu akzeptieren.

Im Weißbuch der Bundeswehr heißt es unter Vernetzte Sicherheit:
Sicherheit könne „weder rein national noch allein durch Streitkräfte
gewährleistet werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz
[…] in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen“. Diese
Strukturen umfassen, so heißt es weiter, „neben den klassischen Feldern
der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik unter
anderem die Bereiche Wirtschaft, Umwelt, Finanz-, Bildungs- und
Sozialpolitik.“ Man kann das kürzer ausdrücken: Praktisch alle
Politikbereiche, alle Ressorts sollen ihren Beitrag zur Sicherheit
leisten und dabei mit dem Militär kooperieren. So wie es in
Kriegszeiten immer schon war.

Von der Verteidigung zum Schutz

Was auffällt, ist zunächst, dass der Begriff „Sicherheit“ ganz
offensichtlich den Begriff der Verteidigung abgelöst hat. Das Weißbuch
bestätigt eindrücklich, dass es um Verteidigung gar nicht mehr geht; es
wirft implizit all jenen, die das Militär auf Territorialverteidigung
reduziert wissen wollen, vor, nicht die aktuellen Erfordernisse zu
verstehen.

Eine der Zeitschriften, in der diese Erfordernisse erklärt, um nicht zu
sagen, geschaffen werden, ist die ´Europäische Sicherheit´. Sie ist ein
halboffizielles Blatt, das qua Impressum mit der bundeswehreigenen
Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) kooperiert und in dem
regelmäßig hochrangige Ministeriumsvertreter schreiben. Diese
Monatszeitschrift hat sich zur Aufgabe gestellt, „unsere
Sicherheitspolitik, die nicht allein als Verteidigung mit Streitkräften
zu verstehen ist, in sämtlichen komplexen und komplizierten
Zusammenhängen zu beschreiben.“ Sicherheitspolitik ist nicht allein
Verteidigung mit Streitkräften, sondern eben eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das muss geradezu darauf hinauslaufen,
der Bundeswehr ein Mitspracherecht in ausnahmslos allen
gesellschaftlichen Bereichen zu geben.

In der August-Ausgabe 2007 hat ein Angehöriger der BW-Akademie für
Information und Kommunikation (AIK) einen Artikel publiziert, der schon
fast idealtypisch zusammenfasst, was denn die neuen Aufgaben und der
neue Stellenwert der Bundeswehr sein solle. (Es sei kurz darauf
hingewiesen, dass das AIK die Nachfolgerin der Akademie für
Psychologische Verteidigung ist. Dementsprechend ist ihre wichtigste
Aufgabe, in der Bevölkerung „Informationsarbeit“ zu leisten, sprich:
Begründungen für die Militärpolitik zu liefern.)

Der Autor Stephan Böckenförde spricht von einem „Sicherheitspolitischen
Paradigmenwechsel von Verteidigung zu Schutz.“ Er bestätigt, dass die
Gefahren heute nicht mehr in einer möglichen Verletzung der
Staatsgrenzen durch einen militärischen Gegner bestehen. Stattdessen
hätten wir es mit neuen Gegnern zu tun, die sich die „Verletzlichkeit“
unserer technisierten und globalisierten Gesellschaft zunutze machen
wollten.

Aus diesem Denkansatz ergeben sich folgende Konsequenzen: Erstens gibt
es keine festgelegten bzw. begrenzenden Orte mehr – Landesgrenzen sind
irrelevant. Vielmehr sollen „Bedrohungen“ dort bekämpft werden, wo sie
vermutet werden oder wo sie entstehen könnten. Hierzu hat
BAKS-Präsident Rudolf Adam in einer Rede ausgeführt: „Deutschland ist
aufgrund seiner intensiven internationalen Verflechtungen verwundbarer
als die meisten anderen Länder vergleichbarer Größe. Wer Deutschland
verwunden will, muss nicht in Deutschland selbst zuschlagen. Es sind
nicht nur Botschaften – wie in Stockholm – deutsche Soldaten; deutsche
Investitionen, deutsche Touristen – wie in Algerien, deutsche
Facharbeiter – wie neulich im Irak – können Ziel von Anschlägen werden.
Verkehrsrouten können blockiert, Flugzeuge entführt werden. Und der
Zugang zu lebenswichtigen Rohstoffen – wie etwa Erdöl oder Erdgas –
kann wegbrechen, weil Produzenten nicht mehr lieferfähig oder
lieferwillig sind.“[15] So flexibel und grenzenlos wie die Gefahren
soll dann auch die deutsche Sicherheitspolitik sein. So wird die Hälfte
aller Schifffahrtsrouten zum konkreten und die ganze Welt zum
potentiellen Einsatzgebiet erklärt.

Zweitens gibt es keine festgelegten Zeiten mehr. „Es geht längst nicht
mehr darum, punktuell auf Krisen zu reagieren. Wir müssen langfristig
Krisenprävention und Krisennachsorge betreiben“, erklärt der
Akademiechef Adam. Böckenförde, der all das teilt, beklagt sich:
Gewaltmaßnahmen seien leider „höchst umstritten, was die Frage der
militärischen Prävention so schwierig macht“.

Keine Orte, keine Zeiten und drittens auch keinen klaren Gegner:[16] Es
geht nicht darum, wer an der Landesgrenze eine Bedrohung darstellen
könnte, sondern wer mit welchen Fähigkeiten schädliche Wirkungen
anrichten könne. Paradebeispiel ist wiederum der 11. September. Auch
hier gibt es deutliche Parallelen zu innenpolitischen Debatten, man
denke an den Besuch von „Terrorcamps“, wo keineswegs konkrete Anschläge
vorbereitet, aber Kenntnisse erlangt werden, die potentiell zur
Bedrohung werden könnten. Ins Blickfeld soll aber schlechthin jede nur
denkbare Bedrohung fallen: Reduziert man sich ausschließlich auf den
„Schutz vor“ und die „Wirkung von Gefährdungen“ – also egal, was man
eigentlich über denjenigen weiß, von dem sie (vielleicht) ausgehen –
dann, so Böckenförde, „öffnet sich der Blick für die Bedrohungen
allgemein bis hin zu Natur- und Umweltkatastrophen.“

Wer für all diese Bedrohungen verantwortlich sein könnte – wer weiß.
Böckenförde spricht von einem neuen Sicherheitsbewusstsein, dass auch
solche Bedrohungen beinhaltet, die „indirekt, mittelbar durch
Folgeeffekte und zeitverzögert eine Bedrohung für die eigene Sicherheit
darstellen könnten.“ Das klingt ungefähr genauso allgemein wie die
Vorschriften, wer alles in der Anti-Terror-Datei zu speichern sei. Im
Zweifel herrscht der Generalverdacht.

Insgesamt, so Böckenförde, müsste ein „funktionales Denken“ in der
Sicherheitspolitik Einzug halten. „Funktional“ muss hier als Gegensatz
zu „rechtlich begrenzt“ gelesen werden. Und selbstverständlich sei es
vor dem Hintergrund all der diffusen Bedrohungen „sicherheitspolitisch
unsinnig, die Streitkräfte exklusiv von der Erfüllung bestimmter
Aufgaben“ im Inneren fernzuhalten.

Heimatschutz

In dieser Logik liegt das von der Union geforderte „Gesamtkonzept
Sicherheit“. Ein Beschluss der CDU/CSU—Fraktion vom März 2004 sieht
„eine starke Heimatschutzkomponente“ aus 25.000 Soldaten vor, als Teil
der „Vorsorge gegen asymmetrische und terroristische Bedrohungen“. Die
Union will dafür bis zu 50 „Regionalbasen“ mit jeweils bis zu 500
Soldaten bereithalten, die mit Reservisten auf bis zu 5000 Soldaten
„aufwachsen“ können.

Als Aufgaben dieser Heimatschutzverbände nennt das Fraktionspapier
unter anderem die „Bereitstellung personeller Ressourcen für Bewachung,
Kontrolle und Sicherung im Fall besonderer Gefahrenlagen“ und „im
Rahmen der Abschreckung die Bewachung von Liegenschaften und kritischer
Infrastruktur“, also klassische Polizeiaufgaben.

Der Begriff „kritische Infrastruktur“ umfasst alles, was den
Kapitalismus ausmacht: Kraftwerke, Banken, Kommunikationsanlagen,
Verkehrswege, Staudämme usw. Im Ausland schießt die Bundeswehr den
Zugang zu Ressourcen frei, und im Inland stellt sie sich vor die
Einrichtungen, die zur Profit bringenden Verarbeitung dieser Ressourcen
notwendig sind. Die Union argumentiert, dies seien „allesamt
Fähigkeiten, die die Bundeswehr im Spannungs- und Verteidigungsfall in
großem Umfang leisten müsste“ und im Ausland tatsächlich schon leiste.
Wer darauf beharrt, es mache einen Unterschied, ob nach Besatzungsrecht
serbische Klöster im Kosovo bewacht werden oder mitten im Frieden der
Hauptbahnhof in Berlin, dem ruft die Union entgegen: „Es muss endlich
Schluss sein mit ideologischen Blockaden“.

Einige der Unions-Forderungen sind bereits umgesetzt: in Form der
sogenannten Zivil-Militärischen Zusammenarbeit/Inland (ZMZ/I), die Teil
des „Heimatschutzes“ ist.

Es werden zwar nicht 25.000 Heimatschützer aufgestellt, aber im vorigen
Jahr sind Dienstposten für immerhin 5500 Reservisten geschaffen worden.
Die Bundeswehr hat sich an die zivilen Verwaltungsstrukturen
angeglichen und das ganze Land mit Kommandos überzogen. Auf der unteren
Ebene – Landkreise und kreisfreie Städte – agieren 426
Kreisverbindungskommandos, in den Regierungsbezirken 31
Bezirksverbindungskommandos. Sie bestehen aus jeweils 12 Reservisten
(angestrebt: vier Stabsoffiziere, drei Offiziere und drei Feldwebel),
an ihrer Spitze jeweils ein „Beauftragter der Bundeswehr für ZMZ“.
Dieser hat die Aufgabe, bereits im „Grundbetrieb“ den engen Kontakt mit
den örtlichen zivilen Katastrophenschutzstäben zu pflegen und ein Büro
in der entsprechenden Behörde (Rathaus, Landratsamt,
Regierungspräsidium) zu beziehen. Bei Bedarf werden dann die anderen
elf Reservisten aktiviert. Sie werden unterstützt durch 32 mobile
Regionale Planungs- und Unterstützungstrupps, die zu Beginn von
Einsätzen eine Art Starthilfe leisten sollen.

Auf Landesebene sind Landeskommandos in den Hauptstädten der 16
Bundesländer installiert worden, in denen bis zu 90 Soldaten arbeiten.
Die Oberhoheit hat das Streitkräfteunterstützungskommando in Köln. Bis
zum Jahr 2010 sollen noch 16 ZMZ-Stützpunkte mit besonderen Kapazitäten
in den Bereichen Pionierwesen, Sanitätsdienst und ABC-Abwehr
hinzukommen, wofür weitere 5000 Reservistendienstposten vorgesehen sind.

Bundesweite Militär-Zivil-Kommandos

Diese Entwicklung läuft auf einen zentralisierten
Katastrophenschutz-Apparat unter militärischem Oberkommando hinaus.
„Führung aus einer Hand durch die erprobte Struktur der Bundeswehr“
fordert das Konzept der Unionsfraktion. Der erste Schritt zur
Zentralisierung ist bereits mit dem vor drei Jahren gegründeten
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) erfolgt,
das zur zentralen Regulierungsstelle werden soll.[17] Es arbeitet eng
mit der Bundeswehr zusammen, in seiner Vierteljahreszeitschrift
„Homeland Security“ räsonieren regelmäßig Generäle über
„Sicherheits“-Fragen und Grundgesetzänderungen. Das Amt bietet
gemeinsame Schulungen für ziviles und militärisches Personal und führt
die länderübergreifende Katastrophenschutzübungen LÜKEX durch. Im
vorigen November wurde eine Grippe-Pandemie simuliert. Diese Übung, so
freute sich Schäuble in der abschließenden Presseerklärung, sei ein
wichtiger „Beitrag zur Weiterentwicklung der gesamtstaatlichen
Schutzmaßnahmen“ gewesen, natürlich unter Beteiligung der ZMZ-Kommandos.

Die Länder treiben die Militarisierung des Katastrophenschutzes voran.
Dabei droht die Subsidiarität auf der Strecke zu bleiben. Denn wenn die
Bundeswehr permanent in die Arbeit der Zivilbehörden eingebunden ist,
steigt unwillkürlich ihr Einfluss. Zivilbehörden neigen bereits jetzt
dazu – schon aus Kostengründen – sich zu sehr aufs Militär zu
verlassen. Im Bericht eines Arbeitskreises der Innenministerkonferenz
vom April 2005 wird gefordert, die Bundeswehr solle ihr gesamtes
Potential „für den Schutz der eigenen Bevölkerung im Inland“ einsetzen,
und zwar dauerhaft und eigenverantwortlich. Und die Bundesrats-AG „Neue
Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ forderte im März 2006, zwecks
„Planungssicherheit“ dürfe die Unterstützung des Heimatschutzes „nicht
nur ‚subsidiär’ erfolgen, sie muss vielmehr zu einer originären Aufgabe
der Bundeswehr werden.“

Nun nutzt die Bundeswehr gerne die Möglichkeit zum Imagegewinn, wenn
sie sich als professioneller Akteur auf allen Ebenen in Szene setzen
kann. Doch derart festlegen wie von den Ländern gefordert will sie sich
nicht und erklärt: Für Katastrophenschutz im Inland stehen nur jene
Kapazitäten zur Verfügung, „die nicht im Auslandseinsatz gebunden
sind.“ Das zeigt, wie riskant der Kurs der Bundesländer ist, beim
Katastrophenschutz aufs Militär zu bauen und die warnenden Stimmen aus
Feuerwehr und anderen Hilfsorganisationen zu ignorieren.

„Lineare Eskalation“ zum Staatsnotstand

Dass Katastrophenschutzleistungen das Ende der Fahnenstange sein
werden, sollte man nicht annehmen. Die ZMZ-Beauftragten der Bundeswehr
erhalten regelmäßige Fortbildungen an der Schule für Feldjäger und
Stabsdienst der Bundeswehr, unter anderem im Bereich „Alarmierung und
Mobilmachung“. Es werden jetzt Strukturen geschaffen, die ausbaufähig
sind, um von Hilfseinsätzen zur Repression überzugehen – ähnlich wie
bei den Auslandseinsätzen, die mit vorgeschobenen „Hilfs“-Argumenten
begannen und bald schon in völkerrechtswidrige Angriffskriege
umschlugen.

Der eigentliche Sinn von Grundgesetz-Artikel 87a war, das Einnisten des
Militärs in zivile Strukturen zu verhindern. Aber diese alten
Regelungen entsprechen offenbar nicht mehr den Bedürfnissen eines Krieg
führenden Staates. Wohin die Reise beim Heimatschutz geht, wird vom
ehemaligen Bundeswehrjuristen Roman Schmidt-Radefeldt in den
„Unterrichtsblättern für die Bundeswehrverwaltung“ folgendermaßen
beschrieben: Das Konzept umfasse „einen Schnittmengenbereich zwischen
militärischer Verteidigung, zivilem Katastrophenschutz, polizeilicher
Gefahrenabwehr und – in einer linearen Eskalation – dem inneren
Staatsnotstand.“[18]

Geht es nach Schäuble und Jung, dann wird dieser Staatsnotstand künftig
infolge von Terroranschlägen erklärt. Die Union will den
Verteidigungsfall in der Verfassung neu definieren. Das Vorhaben geht
zurück auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das im Februar
2006 das Luftsicherheitsgesetz verworfen hatte, weil der Abschuss eines
„verdächtigen“ Zivilflugzeuges die Menschenwürde der Passagiere
verletzen würde. Das will die Union mit der Änderung des Artikel 87a
Grundgesetz ändern: Nicht mehr nur bei einem kriegerischen Angriff,
sondern bereits bei „sonstigen Angriffen auf die Grundlagen des
Gemeinwesens“ soll der Verteidigungsfall erklärt werden. In diesem
Zusammenhang hat Schäuble von einem „Quasi-Verteidigungsfall“
gesprochen[19]. Dieser erlaubt es seiner Logik nach, auch Zivilisten
gezielt zu töten. Wie sehr „funktionales“ Denken darauf hinausläuft,
zentrale Grundwerte in Frage zu stellen, zeigt Schäubles Behauptung:
„Ob völkerrechtlicher Angriff oder innerstaatliches Verbrechen, ob
Kombattant oder Krimineller, ob Krieg oder Frieden: Die überkommenen
Begriffe verlieren ihre Trennschärfe und damit ihre Relevanz.“[20] Da
ist es nur konsequent, dass Kriegsminister Jung im vorigen September
ankündigte, im Zweifelsfall auch ohne Rechtsgrundlage seinen
„Alarmrotten“ den Abschussbefehl zu erteilen.

Der SPD gehen diese Notstandspläne zu weit. Sie möchte es lieber dabei
belassen, das polizeiliche Instrumentarium um militärische Komponenten
zu erweitern. Der Hebel soll eine Änderung der
Katastrophenhilfe-Bestimmungen des Artikel 35 sein, welcher der
Bundeswehr künftig den Einsatz spezifisch militärischer Mittel – also
etwa Jagdflugzeuge – erlauben soll. Das wäre ein kleinerer Schritt,
aber in die gleiche Richtung.

Amtshilfe und Einsatz

Eine Ahnung vom anvisierten Staatsnotstand vermittelte der Polizei- und
Bundeswehreinsatz in Heiligendamm. Wie im „kleinen Belagerungszustand“
des Kaiserreiches waren Grundrechte ausgesetzt und die Bundeswehr nahm
teils direkte, teils indirekte Polizeimaßnahmen wahr. Die Regierung
beharrt indes darauf, die Truppe habe nur technisch-logistische
Amtshilfe geleistet, aber keinen „Einsatz“ im Sinne des Artikel 87a.
Damit steht die Frage im Raum: Was eigentlich unterscheidet einen
„Einsatz“ von „Amtshilfe“? Im Grundgesetz fehlen Definitionen, aber es
gibt wichtige Hinweise in der Fachliteratur.

Die meisten Juristen unterscheiden zwischen einer so genannten
„schlichten Verwendung“ (Amtshilfe) und dem Ausüben einer
„obrigkeitlichen“ Tätigkeit (Einsatz). Sobald Soldaten Aufgaben
erfüllen, die sonst Polizisten vorbehalten sind, sie also gegenüber
zivilen Bürgern Zwang anwenden, leisten sie einen Einsatz. Sandsäcke
zum Deich bringen ist eine „schlichte Verwendung“, werden jedoch
Passanten daran gehindert, den Deich zu betreten, handelt es sich um
einen Einsatz. Oder: Aufklärungstornados nach vermissten Kindern suchen
zu lassen, ist erlaubt, die Beteiligung der Bundeswehr an der Suche
nach Straftätern aber nicht, weil Festnahmen nur die Polizei vornehmen
darf.[21]

Nicht nur, wenn die Bundeswehr selbst in Bürgerrechte eingreift, ist
sie im Einsatz, sondern bereits dann, wenn sie die Polizei in einer
Form unterstützt, die es dieser erst möglich macht, obrigkeitlich zu
handeln.

Diese Einsicht ist nicht neu. Bereits in den 80er Jahren lösten
Berichte über ein „Amtshilfeabkommen“ zwischen Bundeswehr und
bayerischer Polizei betreffend der Demonstrationen an der geplanten
Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf heftige Kritik aus. Die
Völkerrechtler Ralf Jahn und Norbert K. Riedel hielten fest: „Eindeutig
Einsatzqualität besitzt die Zurverfügungsstellung von militärischem
Gerät einschließlich der sie bedienenden Soldaten, wie z. B.
Aufklärungsflüge von Bundeswehrhubschraubern bei Demonstrationen. Hier
wird militärisches ‚know-how‘ in Anspruch genommen, das seinem Zweck
nach innenpolitisch nicht neutral ist.“[22] Auch in der Zeitschrift
„Bundeswehrverwaltung“ ist damals die Unterstützung „durch
militärtypische Mittel, wie z. B. Hubschrauber, Mannschaftswagen,
Spezialfahrzeuge usw.“ für verfassungswidrig erklärt worden. Die
Bundeswehr müsse sich aus inneren Konflikten heraushalten, um nicht
„die von ihr erwartete innenpolitische Neutralität dem ganzen Volk
gegenüber“ zu verlieren.[23]

In einer neueren Arbeit bestätigt der Jurist Jan-Peter Fiebig, ein
Einsatz sei „gegeben, wenn Soldaten Fahrzeuge, insbesondere
Luftfahrzeuge, der Streitkräfte […] zur optischen Überwachung von
Großveranstaltungen und deren Umgebung verwenden und etwaige
Aufklärungsergebnisse an die für unmittelbar obrigkeitliches Vorgehen
vorgesehenen“ Polizeistellen weitergeben.[24]

Das lässt sich mühelos auf den G8-Gipfel übertragen. 14mal stiegen die
Aufklärungs-Tornados auf, die Polizei konnte sich aus dem Bildmaterial
frei bedienen und hat nach offiziellen Angaben 101 Bilder mitgenommen,
die meisten von den Protestcamps. Neun Spähpanzer „Fennek“ überwachten
vor allem nachts mögliche Anfahrtsrouten von Demonstranten und machten
bei Verdacht sofort die Polizei aufmerksam. Das macht die
Bundeswehr-Tätigkeiten zum Einsatz, für den es – mangels einer
Katastrophe – keine Verfassungsgrundlage gab.

Hinzu kommt der Aspekt des so genannten „show of force“, also der
demonstrativen Präsenz des Militärs. Wenn Soldaten in großen Gruppen
auftreten, ist aus Bürgersicht „kein anderer Schluss möglich, als
derjenige, dass diese Soldaten dort als Ordnungskräfte eingesetzt sind
und zur Aufrechterhaltung der Ordnung […] notfalls Gewalt und eben
auch Waffengewalt anwenden werden“, schreibt Fiebig. Das stelle
„aufgrund des Eindrucks, der bei den Anwesenden erzeugt wird“, die
„Ausübung von Zwang“ dar.[25]

Ein Blick zurück auf Heiligendamm: Bis zu 640 Feldjäger mit Pistolen
oder dem Maschinengewehr G36 waren in der ganzen Region unterwegs,
mehrfach in der Nähe der Protestcamps. Dass sich Demonstranten hiervon
nichts Gutes versprachen und annehmen mussten, die Feldjäger würden
einschreiten, wenn man – trotz Demonstrationsverbot – demonstrieren
ginge, liegt auf der Hand, weswegen auch hier ein verfassungswidriger
„Einsatz“ vorliegt.

Reaktion rüstet sich

Tatsächlich nehmen, wie von der Union behauptet, Soldaten im Ausland
bereits Polizeiaufgaben wahr. Feldjägereinheiten üben beharrlich „Crowd
and Riot Control“, sprich Aufstandsbekämpfung bzw. die Niederschlagung
von Demonstrationen. Dazu erhalten sie auch die entsprechende
Ausrüstung – Abwehrschilde, Pfefferspray. In Afghanistan sind Feldjäger
gar als Ausbilder für afghanische Polizisten tätig.

Den umgekehrten Weg gibt es auch: Polizisten verstärkt in Kriegs- und
Krisengebiete zu schicken. Die EU hat schon vor Langem die Schaffung
eines 5000 Mann starken gemeinsamen Pools aus Polizeibeamten
beschlossen, aus dem bei Bedarf rekrutiert wird, um militärische
Einsätze zu flankieren. Parallel dazu wurde die European Gendarmerie
Force gegründet, ein Verbund aus paramilitärischen Einheiten, der
explizit solche Operationen durchführt, die irgendwo zwischen Kriegs-
und Polizeieinsätzen liegen. Deutsche Polizisten beschränken sich
bislang noch überwiegend darauf, Ausbildungsmaßnahmen und sonstige,
beratende Tätigkeiten auszuführen, aber auch dabei zeichnen sich
Änderungen ab. Die Bundespolizei baut Hundertschaften für
Auslandseinsätze auf, der Chef der Gewerkschaft der Polizei hat
angeregt, dafür auch schwere MGs anzuschaffen, und in der
Bundesregierung wird überlegt, Bundespolizisten künftig zum
Auslandseinsatz verpflichten zu können, statt wie bisher nur auf
Freiwillige setzen zu müssen.

Seit mindestens fünf Jahren stellt die deutsche Militärdoktrin
Inlandseinsätze in Aussicht – „im Rahmen der geltenden Gesetze“, den
die Regierungsparteien erweitern wollen. Bis sie soweit sind,
laborieren Innen- und Verteidigungsminister am Rand der Verfassung bzw.
übertreten ihn, wie in Heiligendamm. Gleichzeitig ist in den letzten
Jahren ein rasanter Anstieg der „Amtshilfeleistungen“ zu verzeichnen:
Von einem pro Jahr auf zehn, wie die Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage von Ulla Jelpke (LINKE) mitteilte.[26] Wenn auch die
parlamentarische Kontrolle heute besser ausgeprägt ist als im
Kaiserreich und der Weimarer Republik, effektiv kann man sie kaum
nennen. Beim G8-Gipfel wurde der Bundestag nach Strich und Faden
getäuscht, und „Amtshilfe“-Einsätze sind weder zustimmungs- noch
berichtspflichtig.

Wozu das Ganze? Bangen die Herrschenden tatsächlich um ihre Macht?

Die Frage ist müßig. Als 1968 die Notstandsgesetze eingeführt wurden,
sprachen die Konservativen ständig von möglichen Aufständen und
Revolutionen. Sie gaben zu, dass es keinerlei Anzeichen dafür gebe,
aber man könne ja nie wissen und müsse stets vorbereitet sein. Auch
heute ist eine Revolution nicht in Sicht, doch die Hetztiraden, denen
wochenlang die Lokführer der GDL ausgesetzt waren, erinnern daran, dass
Militäreinsätze in Deutschland immer schon im Dienste der Reaktion
standen.

Die Linken hatten 1968 vor allem Sorge vor einem möglichen Putsch der
Bundeswehr. Heute geht die größte Gefahr für die Demokratie wohl von
Regierungspolitikern aus, die bei jeder Gelegenheit zentrale
Grundrechte in Frage stellen und sich auf eine Generalität stützen
können, die Befehle völlig kritiklos ausführt.

Schließlich sei die Bundeskanzlerin zitiert, die einige Monate vor
ihrem Amtsantritt, auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar
2005, klare Worte gesagt hat:

„Die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen zunehmend.
Internationale Einsätze unter Beteiligung Deutschlands und Heimatschutz
sowie Einsatz der Bundeswehr im Innern sind deshalb zwei Seiten ein und
derselben Medaille.“

Anmerkungen

[1] Wolfgang Grubert, Verteidigungsfremde Verwendungen der Streitkräfte
in Deutschland seit dem Kaiserreich außerhalb des inneren Notstandes,
Frankfurt am Main 1997, S. 133.
[2] Grubert, S. 56.
[3] Pannkoke, Jörg: Der Einsatz des Militärs im Landesinnern in der
neueren deutschen Verfassungsgeschichte, Münster 1998, S. 64f.
[4] Vorangegangene Zahlen und Zitate: Peter Bachmann/Kurt Zeisler, Der
deutsche Militarismus vom 17. Jahrhundert bis 1917. Illustrierte
Geschichte, Köln 1986, S. 296ff.
[5] Grubert, S. 77.
[6] Grubert, S. 75.
[7] Beleg z. B. bei Grubert, S. 75.
[8] Bundestagssitzung vom 2 Oktober 1955.
[9] Bundestagssitzung vom 16. 5 1968.
[10] Kuhlmann: Protokoll des Notstandshearings am 30. 11. 1967, Ridder: Hearing vom 9. 11. 1967.
[11] Pannkoke, S. 201.
[12] Zahlreiche Belege, z. B.: Erwin Beckert, Die hoheitlichen
Befugnisse der Bundeswehr, in: Bundeswehrverwaltung, Oktober 1983.
[13] Zit. nach Pannkoke, S. 256.
[14] Süddeutsche Zeitung, 14. 1. 1996.
[15] Vortrag am 29. 11. 2006. www.baks.bundeswehr.de.
[16] Ausführlicher hierzu: Christoph Marischka: Rüsten für den globalen Bürgerkrieg, AUSDRUCK – Das IMI-Magazin (Oktober 2007).
[17] Antwort auf eine Anfrage der FDP, Bundestagsdrucksache 16/6867.
[18] Roman Schmidt-Radefeldt, Innere Sicherheit durch Streitkräfte, in: Unterrichtsblätter für die Bundeswehrverwaltung, 5/2006.
[19] Süddeutsche Zeitung, 1. 1.2007.
[20] Tagesspiegel, 5. Januar 2007.
[21] Wolfgang Speth: Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr unter
besondere Berücksichtigung sekundärer Verwendungen, München 1985, S.
188.
[22] Die Öffentliche Verwaltung, November 1988. Weitere Belege für
diese Rechtsauffassung u. a. in der Neuen Zeitschrift für Wehrrecht,
1973, S. 2-13.
[23] Erwin Beckert, Bundeswehr und Polizei, Bundeswehrverwaltung, Juli 1986.
[24] Jan-Peter Fiebig, Der Einsatz der Bundeswehr im Innern, Berlin 2004, S. 192.
[25] Fiebig, S. 178f.
[26] Bundestagsdrucksache 16/6159.

Frank Brendle (Beitrag erschien in veränderter Fassung in junge welt 24./25.1.2008)

 

Source: http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1706 

One response to “Vernetzte Sicherheit? – Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren”

  1. Die äußere Gefahr von innen « Freies in Wort und Schrift

    […] in den letzten Jahren eigentlich dauernd geführt wird. Beispiele von 2009 und nochmal 2009, 2008, 2007, 2005, 2004, 2002. Verständlich, ein militarisierter Staat ist ja auch etwas so schönes. […]