„GSG 9“ trainiert im geheimen Senne-Dorf


Auf dem Truppenübungsplatz Senne werden in einer „Geisterstadt“
Spezialeinsätze geprobt

[Westfahlen-Blatt] Das Dorf ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Es liegt irgendwo
auf dem Truppenübungsplatz in Senne, versteckt zwischen dichten,
dunkelgrünen Kiefernwäldern. Im Dorfteich tummeln sich kapitale
Fische, Musik dringt gedämpft in einer Kneipe. Und dennoch hat
hier noch nie ein Mensch gelebt. „Es ist eine Geisterstadt“,
sagt der britische Major Martin Waters. „Wir haben sie 1965 gebaut,
um den Häuserkampf für Einsätze in Nordirland zu trainieren.“
Mehr als drei Jahrzehnte haben die Briten keinen Zivilisten in die Nähe
dieses lange geheim gehaltenen Kampfdorfes gelassen. „Hätte
die IRA erfahren, wie wir uns vorbereiten, hätte das unsere Soldaten
gefährdet“, sagt der Major. Inzwischen findet das Nordirland-Training
in Großbritannien statt, und das Senne-Dorf dient der deutschen
Elite-Truppe „GSG 9“ sowie Soldaten aus den USA, Holland,
Belgien, England und Deutschland als regelmäßig als Übungsgelände
für Spezialeinsätze.

Das Dorf hat alles, was es zu einer echten Siedlung gehört: Zweigeschossige
Reihenhäuser, eine Bankfiliale, eine Kirche, zwei Kneipen und eine
Post. Die Häuser sind rot, blau und ockerfarben angestrichen, und
hinter ihren Fenstern baumeln vergilbte Spitzengardienen. An den Straßenrändern
parken Autos, an den Bürgersteigen stehen verbeulte Mülltonnen
aus Blech. Nur eines unterscheidet das Dorf von einer echten Siedlung:
die vielen hundert Einschüsse, die den Putz in mehr als ? Jahren
von den Fassaden haben bröckeln lassen. Denn im Geisterdorf wird
scharf geschossen.
„Bei uns trainieren Soldaten zum Beispiel, wie sie einen Kriegsverbrecher
aus einer serbischen Siedlung holen. Oder sie üben, einen Verwundeten
aus feindlichem Gebiet zu evakuieren“, erklärt uns Martin
Waters. Vier bis sechs Mann stark sind die Gruppen, die von ihren Ausbildern
mit einem bestimmten Auftrag in die Siedlung geschickt werden. Hinter
den Kulissen sorgt Army-Mitarbeiter Stewart Johnstone mit aufwendiger
Technik dafür, dass die Mission nicht zu einfach wird: Während
sich die Soldaten durch die Siedlung pirschen, wird plötzlich ein
Fenster aufgerissen, in dem die Attrappe eines Mannes mit einem Gewehr
im Anschlag erscheint. Platzpatronen, die ferngesteuert unmittelbar
neben den Soldaten explodieren, zeigen den Männern, dass sie unter
Beschuss stehen. Die Nahkämpfer erwidern das Feuer und treffen
die Attrappe, als plötzlich neben ihnen eine Tür aufgeht und
eine Frau einen Kinderwagen auf die Straße schiebt. „Auch
auf diese Puppe haben Soldaten schon geschossen“, erzählt
Stewart Johnstone. „Man ist eben sehr angespannt, wenn man von
allen Seiten Angriffe erwarten muss.“ Dabei nutzt der Brite von
seinem Kontrollturm aus alle Möglichkeiten, um die Nerven der Trainierenden
zusätzlich zu strapazieren: Da werden die Soldaten unvermutet aus
einem Haus heraus mit Bierdosen beworfen, oder eine Mülltonne fliegt
plötzlich polternd um und zerreist die gespenstische Stille. Nicht
einmal in der gemütlichen „Lounge-Bar“, aus der Musik
auf die Straße dringt, sind die Soldaten sicher: Wenn sie versuchen,
mit den drei einheimischen Papp-Kameraden am Tresen ins Gespräch
zu kommen, müssen sie sich von den Puppen Feindseligkeiten anhören,
die Johnstone von seinem Kontrollpult aus per Mikrophon loslässt.
Stewart Johnstone ist nicht der einzige Mann im Hintergrund: In einem
der Häuser sitzt sein Kollege Robert Ord vor einer Wand von Monitoren
und beobachtet den Einsatz der Soldaten. Mit ferngesteuerten Kameras
folgt er jedem ihrer Schritte und kann mit Hilfe von Infrarotscheinwerfern
das Training selbst nachts auf Videobändern aufzeichnen. Bilder
für die ausgiebige Manöverkritik, die jeder Übung im
Geisterdorf folgt. „Bei der nächsten Übung sehen die
meisten Soldaten oder Polizisten schon besser aus“ schmunzelt
Robert Ord.
400 000 Mark werden die britischen Streitkräfte in den kommenden
Wochen investieren, um das Dorf zum ersten Mal gründlich zu renovieren.
Noch realistischer werden sie es allerdings kaum gestalten können.
Erst vor einigen Wochen schlich sich ein Unbekannter nacht sauf das
Gelände und brach in die Bankfiliale ein.

Source:
Westfahlen-Blatt Nr. 59, 10. März 2000