Flüchtlingsdramen im Mittelmeer

Menschrechtlsorganisationen klagen: Die EU überlässt Menschen ihrem Schicksal. Auch Deutschland ist an den Patrouillen auf hoher See beteiligt.

[derwesten.de] Anfang Mai brachte die italienische Küstenwache vier Flüchtlingsboote im Mittelmeer auf und drängte sie nach Libyen zurück. Den rund 500 Menschen an Bord wurden angeblich jede Hilfe und Schutz verweigert, stattdessen seien sie wie Stückgut in die Haftlager einer Diktatur zurückgeschickt worden, kritisiert die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.

Ein Angestellter der italienischen Küstenwache erinnert sich: „Es waren schwangere Frauen und Kinder an Bord. Viele waren gesundheitlich in kritischem Zustand. Wir mussten dem Befehl gehorchen, aber ich schäme mich für das, was wir getan haben. Ich werde es meinen Kindern nie erzählen.“

Auch vor den Küsten Griechenlands spielten sich zuletzt ähnliche Dramen ab: Verschiedene Menschenrechtsorganisationen berichten übereinstimmend von Patrouillen, die Flüchtlingsboote fortschleppten ohne festzustellen, ob Kranke, Verletzte, Schwangere oder Opfer von Menschenhandel an Bord sind – ein klarer Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Die Operationen werden teilweise von der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordiniert, an der sich auch Deutschland unter anderem mit Bundespolizisten sowie Hubschraubern beteiligt. Doch die EU fühlt sich für Zwangsrückführungen nicht verantwortlich – nach Ansicht von Pro Asyl der nächste Skandal.

„Frontex handelt in einer rechtlichen Grauzone“, sagt Karl Kopp, Europa-Referent der Organisation. Die EU habe sich eine Agentur mit Unmengen an Konstruktionsfehlern geschaffen. „Alle Operationen müssen dringend auf den Prüfstand.“

Tatsächlich hatte die EU Frontex vor rund fünf Jahren ins Leben gerufen, um die Außengrenzen besser vor illegalen Einwanderern zu schützen. Ein Schwerpunkt der Arbeit sind die Patrouillen im Mittelmeer, über das jedes Jahr Tausende Bootsflüchtlinge aus Afrika nach Europa zu gelangen versuchen, oft unter Einsatz ihres Lebens.

Doch bis heute gibt es für Frontex keine verbindlichen Richtlinien oder Dienstanweisungen, die Europäische Menschenrechtskonvention und das internationale Flüchtlingsrecht einzuhalten – obwohl ein Rechtsgutachten des Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte zu dem Schluss kam, dass die EU-Grenzschützer auch außerhalb der EU-Territorien an Flüchtlings- und Menschenrechte gebunden sind, also auch auf hoher See.

In der Kritik stehen nun Einsätze wie die „Operation Hera“: 2008 zum Beispiel waren Frontex-Schiffe zwischen Westafrika und den Kanarischen Inseln unterwegs; fast 6000 Menschen wurden dabei auf See „umgeleitet“, wie es in der Frontex-Statistik heißt. Bootsflüchtlinge seien entweder zur Umkehr überzeugt oder zum nächsten Hafen im Senegal oder in Mauretanien eskortiert worden. Dies ist möglich, weil die Frontex-Verbände auf Grundlage bilateraler Abkommen Spaniens mit Mauretanien und Senegal operieren können.

Was nach dieser „Umleitung“ in Mauretanien mit den Flüchtlingen geschah, berichtete Amnesty International: Viele wurden festgenommen, misshandelt und in Nachbarländer abgeschoben.

Im Frühjahr unterzeichnete Italien ein Flüchtlings-Rückführungsabkommen mit Libyen, obwohl bekannt war, dass Rückkehrer dort ebenfalls misshandelt und in Haftanstalten gepfercht werden. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und andere EU-Länder kritisierten solche Zurückweisungen als mit der geltenden Rechtslage unvereinbar.

Der Europa-Abgeordnete Manfred Weber (CSU) mahnt zudem: „Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, sich bei der Überwachung der EU-Grenzen an geltendes Recht zu halten.“

Doch Organisationen wie Pro Asyl sehen die gesamte EU in der Pflicht, die Mitgliedstaaten ebenso wie die EU-Kommission: „Wenn sich ein Land nicht an die Regeln hält, darf die EU dort nicht mit Frontex operieren“, sagt Karl Kopp. Bei Verstößen eines Mitgliedstaates müsse es deutliche Sanktionen geben. Auch müsse dringend das Mandat der EU-Grenzschutzagentur überarbeitet werden. „Es darf keine menschenrechtsfreien Zonen an den europäischen Grenzen mehr geben.“

Source: http://www.derwesten.de/nachrichten/waz/politik/2009/10/6/news-135933158/detail.html