Willkommen in Europa

Von Andrea Böhm

Die EU-Staaten tun alles, um
Flüchtlinge abzuschrecken: Man lässt sie ertrinken, schiebt sie ab oder
pfercht sie in dreckige Lager. Chronologie eines Dramas, das sich
jährlich vor unseren Küsten abspielt

[mobil.zeit.de] Mittelmeer zwischen italienischer und libyscher Küste, Ende Juli:
Das jährliche Drama läuft. Mit den sommerlichen Temperaturen steigt die
Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die versuchen, über See statt über
Land nach Europa zu kommen. Wie jedes Jahr haben sich alle Beteiligten
auf ihre Weise vorbereitet: Nationale Küstenwachen und die europäische
Grenzschutzagentur Frontex verschärfen ihre Patrouillen, Schleuser
pferchen Flüchtlinge in immer kleinere Nussschalen, um den Patrouillen
zu entgehen. Fischer markieren gesunkene Boote mit Leuchtbojen, weil
sich immer öfter Leichen in ihren Netzen verfangen. Stoff für
Kurzmeldungen.
Doch ein Boot wird in diesem
Sommer Europa aufschrecken. Ende Juli brechen 78 Eritreer nachts von
der libyschen Küste Richtung Lampedusa auf. Ihre Chancen, Asyl zu
erhalten, stehen gut – vorausgesetzt, sie erreichen Europa. Die
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bezeichnet Eritrea
aufgrund von Folter, Zwangsarbeit und oft lebenslangem Wehrdienst als
»gigantisches Gefängnis«. Die Überfahrt nach Lampedusa ist die letzte
Etappe einer Tausende Kilometer langen Reise. Die Flüchtlinge haben
Trinkwasser und Treibstoff für drei Tage an Bord.
 

Brüssel, im Juli: Die schwedische Regierung hat
inzwischen die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. In ihrer Amtszeit
soll das »Stockholmer Programm« zur gemeinsamen Asyl- und
Flüchtlingspolitik der EU für die nächsten fünf Jahre verabschiedet
werden.
Aber die EU-Mitglieder können sich
auf keine einheitliche Flüchtlingsdefinition einigen. Irakische
Christen erhalten in Schweden problemlos Asyl, in Griechenland werden
sie fast durchweg abgelehnt. Tschetschenen haben leidlich gute Chancen
auf Flüchtlingsschutz in Österreich, wenige Kilometer weiter in der
Slowakei ist die Anerkennungsquote gleich null. Asylrecht und
Migrationskontrolle sind Bastionen der nationalen Souveränität
geblieben. Die EU ist machtlos.
Das
grundsätzliche Problem aber ist: Seit unter dem Banner des »Kampfes
gegen illegale Migration« Einreiseregelungen verschärft worden sind,
haben Flüchtlinge aus Diktaturen und Kriegsgebieten kaum mehr eine
Chance, nach Europa zu kommen, jedenfalls nicht legal.
»Politisch
Verfolgte genießen Asylrecht« – dieses Prinzip steht zwar unter Artikel
16a immer noch im deutschen Grundgesetz. Doch der Satz gilt faktisch
nur noch für jene, die direkt nach Deutschland gelangen – was ohne
Visum kaum mehr möglich ist. »Verordnung (EG) Nr. 343/2003« oder kurz
»Dublin II« heißt das Abkommen, wonach jeder Flüchtling in dem Land
seinen Asylantrag stellen muss, in dem er zuerst EU-Boden betreten hat.
Das Gros der Migranten und Flüchtlinge kommt in den Grenzstaaten an,
auf Malta und Zypern, in Italien, Spanien, Griechenland. Geografische
Kernländer wie Deutschland sind abgeschottet. Ihre europäischen
Nachbarn müssen den Andrang abfangen. Einem verbindlichen Schlüssel zur
Verteilung der Ankömmlinge auf alle EU-Mitgliedsländer verweigern sich
vor allem die Regierungen in Berlin und Wien. Die mehr oder weniger
unverhohlene Begründung: Deutschland und Österreich seien damals in den
neunziger Jahren mit Hunderttausenden Flüchtlingen aus dem Balkan
»allein gelassen« worden. Warum also jetzt den Nachbarn helfen?
Entsprechend
brachial gebärden sich die südlichen EU-Staaten – nicht gegen ihre
Nachbarn im Norden, sondern gegen die Flüchtlinge.
 

Athen, Mitte Juli: In Athen und anderen griechischen
Städten beginnt »Operation Besen«. Die Polizei nimmt bei Razzien
Tausende von Flüchtlingen und Migranten ohne Papiere fest und
transportiert sie in die griechischen Provinzen ab. Kurz zuvor hatte
die griechische Regierung neue Asylregeln in Kraft gesetzt. Demnach
werden die Verfahren in die 50 Polizeidirektionen in der Provinz
verlagert. Die Widerspruchsinstanz wird faktisch abgeschafft,
Flüchtlinge dürfen ab sofort statt bis zu drei bis zu sechs Monate in
Lagern interniert werden. In den wenigsten Polizeidirektionen gibt es
Übersetzer und geschulte Beamte, die Asylanträge entgegennehmen können.
Der UNHCR-Vertreter in Athen kündigt daraufhin die Zusammenarbeit mit
der griechischen Regierung auf. Bereits im vergangenen Jahr hatte der
Europarat die Bedingungen in einem der größten griechischen
Internierungslager als »verabscheuungswürdig« und als
»Gesundheitsrisiko für Betreuer wie für Internierte« bezeichnet.
 
Weil
Spanien und Italien ihre Küsten immer stärker abgeschottet haben,
weichen Schlepper und Flüchtlinge auf östlichere Routen aus. In
Griechenland schnellte die Zahl der Flüchtlinge und Migranten binnen
drei Jahren von 40.000 auf 146.000 hoch. Die meisten kommen über die
Türkei. Von der anatolischen Ägäisküste sind es nur wenige Seemeilen
bis zur nächsten griechischen Insel.
Es ist das letzte »Schlupfloch« an der europäischen Südgrenze.
 

Rom, 8. August: In Italien tritt das
»Sicherheitsgesetz« in Kraft, wonach illegale Einreise nun mit
Geldbußen zwischen 5000 und 10.000 Euro sowie mit sofortiger
Abschiebung bestraft werden kann. Nach harscher Kritik von Kirche und
Opposition beschließt die Regierung Berlusconi eine Ausnahmeregelung
für die rund 700.000 Migrantinnen, die in Italien ohne Papiere als
Hausangestellte und Altenpflegerinnen arbeiten.
Mit
dem »Sicherheitsgesetz« werden außerdem Bürgerwehren legalisiert, die
in Gebieten mit hohem Ausländeranteil »für Ruhe und Ordnung« sorgen
sollen. Italienern, die Migranten ohne Papiere beherbergen oder
beschäftigen, drohen nun Haftstrafen zwischen drei und sechs Jahren.
Die Regionalregierung von Apulien erlaubt sich den Hinweis, dass fast
die gesamte Tomatenernte dieses Sommers von »Illegalen« eingefahren
worden sei.
 

Insel Lesbos, 18. August: 150 unbegleitete jugendliche
Flüchtlinge treten aus Protest gegen die Bedingungen im griechischen
Internierungslager Pagani in Hungerstreik. Dort sind über 1000 Menschen
in einer ehemaligen Lagerhalle hinter vergitterte Fenster und
Stacheldraht gepfercht. Zwei Tage später filmen europäische
Menschenrechtsaktivisten heimlich die Zustände in Pagani und stellen
das Video ins Internet. Die Aufnahmen zeigen unter anderem einen
schimmeligen Lagerraum mit vierstöckigen Betten und Matratzen, in dem
160 junge Männer und Jugendliche eingesperrt sind, viele kommen
offenbar aus Afghanistan und dem Irak. Einige weisen Verstümmelungen an
Armen und Beinen auf, ein 13-Jähriger liegt leblos im Bett. Ärztliche
Betreuung gebe es keine, sagen Flüchtlinge, 160 Mann teilten sich zwei
Toiletten, der Gestank sei unerträglich. Die monatelange Internierung
verstößt gegen mehrere völkerrechtliche Abkommen, darunter die Genfer
Flüchtlingskonvention und die UN-Kinderrechtskonvention.
In
einem Gespräch mit der ZEIT sieht die griechische Außenministerin Dora
Bakojannis die Schuld beim Nachbarn. »Die Türkei muss endlich ihre
Grenzen wirksamer kontrollieren, um den Menschenhändlern das Handwerk
zu legen.« Bakojannis fordert europäische Solidarität. »Illegale
Einwanderung ist eine Herausforderung an Griechenland, die Türkei und
die EU. Deshalb müssen wir diese moderne Form des Sklavenhandels auch
zusammen bekämpfen.« Europäische Asylexperten halten das für
Ausflüchte. Griechenland zeige sich seit Jahren demonstrativ unwillig,
Mindeststandards beim Flüchtlingsschutz und bei der Versorgung von
Flüchtlingen einzuhalten.
 

Mittelmeer vor Lampedusa, 20. August: Die italienische
Küstenwache zieht fünf völlig entkräftete Eritreer aus einem
Schlauchboot an Bord. Es handelt sich um die einzigen Überlebenden der
78 Flüchtlinge, die Ende Juli an der libyschen Küste aufgebrochen
waren. Die Eritreer waren fast drei Wochen ohne Nahrung, Treibstoff und
Trinkwasser im Meer gedriftet und hatten nach und nach die Leichen
ihrer verdursteten Landsleute über Bord geworfen. Nicht nur die Zahl
der Toten macht für einige Tage in Europa Schlagzeilen, sondern auch
der Umstand, dass offenbar mehrere Handelsschiffe das Schlauchboot
sichteten, ohne zu helfen. Nur die Besatzungen zweier Fischkutter,
berichtet ein Überlebender, hätten ihnen Brot und Wasser gegeben. Dann
aber seien sie abgedreht und hätten die Flüchtlinge zurückgelassen.
In
Italien eskaliert nach diesem Fall der Konflikt zwischen katholischer
Kirche und Regierung. L’Avvenire, die Tageszeitung der katholischen
Bischofskonferenz, beschuldigt Europa, vor dem Flüchtlingsdrama auf dem
Mittelmeer ebenso die Augen zu verschließen wie seinerzeit während der
Shoah »vor den Zügen voller Deportierter«. Umberto Bossi, Vorsitzender
der rechtspopulistischen Regierungspartei Lega Nord, erklärt, der
Vatikan solle doch seine Tore für Illegale öffnen, statt die Regierung
zu kritisieren. Katholische Laienorganisationen wie die Gemeinschaft
St. Egidio klagen, dass ihre Hilfsarbeit für Flüchtlinge in rechts
regierten Städten zunehmend behindert werde.
Bereits
im Mai hatte die italienische Küstenwache mehrere Hundert Flüchtlinge
auf offener See abgefangen und unter Zwang nach Libyen
zurückeskortiert, ohne deren Anspruch auf Schutz zu überprüfen.
Abschiebung oder »Rückführung« in ein Land, in dem Flüchtlingen Gefahr
für Leib und Leben drohen, verstößt gegen das Kernprinzip der Genfer
Flüchtlingskonvention (GFK). Libyen hat die GFK nie unterzeichnet, es
gilt als Folterstaat, Misshandlungen von Flüchtlingen sind
dokumentiert, ebenso deren menschenunwürdige Inhaftierung und die
»Rückbringung« in Herkunftsländer: Die Betroffenen werden in
Frachtcontainern ohne Wasser und Nahrung 1500 Kilometer durch die Wüste
gekarrt und an der sudanesischen Grenze oftmals an Schleuser
»zurückverkauft«. Was katholische Kirche und Flüchtlingsgruppen als
eklatanten Bruch internationalen Rechts werten, bezeichnet der
italienische Innenminister Roberto Maroni als »historischen Wendepunkt
im Kampf gegen illegale Migration«, die nach Ansicht seiner Partei, der
Lega Nord, Italien zu »überschwemmen« drohe.
Flüchtlinge
auf hoher See unter dem Generalverdacht des »illegalen Migrantentums«
abzufangen und in afrikanische Länder »umzuleiten« – diese Praxis
gehört längst zur Strategie der EU-Grenzschutzorganisation Frontex,
auch wenn diese offiziell immer nur als Begleitung einer nationalen
Küstenwache agiert. Die Beteiligung deutscher Hubschrauber bei solchen
Einsätzen bezeichnet die Völkerrechtlerin Monika Lüke,
Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international, als
»Beihilfe zum Völkerrechtsbruch«.
Insofern
stimmt auch das Bild von der europäischen Festung nicht mehr, die ihre
Brücken hochgezogen hat. Die EU agiert viel mehr wie eine Militär- und
Polizeimacht, die ihren Grenzschutz in Out-of-area-Einsätzen längst
weit nach Afrika hinein und auf die offene See hinaus verlegt.
 

Seemannsschule Schleswig-Holstein, Travemünde, Anfang September:
Ein Gelände mit rotem Klinkerbau, Bordkran, Übungsbooten und
Motorwerkstätten. 55 Azubis aus deutschen Reedereien lernen hier
Schiffsmechanik, manche wollen später ihr Kapitänspatent erwerben.
Stefan Schmidt, 67, ist Honorardozent für Schiffssicherheit. Vor fünf
Jahren hatte der Schiffskapitän zusammen mit Elias Bierdel, dem
damaligen Chef der Hilfsorganisation Cap Anamur, 37 afrikanische
Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet. Seitdem läuft gegen beide im
sizilianischen Agrigent ein Verfahren wegen »Beihilfe zur illegalen
Einreise in einem besonders schweren Fall«. Der Staatsanwalt hat ein
Strafmaß von vier Jahren Haft und je 400.000 Euro Strafgeld gefordert.
Schmidts
Schüler sind verunsichert. Hilfe für Menschen in Seenot ist eigentlich
ein ehernes Gebot für Schiffsbesatzungen. Die Schüler gehen Szenarien
durch. Was tun, wenn sie ein Flüchtlingsboot auf hoher See sichten?
»Die Leute nicht an Bord holen«, sagt eine Auszubildende. »Aber die
Behörden an Land informieren und warten, bis Hilfe kommt.« – »Wenn sie
in Seenot sind, musst du sie aufsammeln«, sagt ein anderer. »Alles
andere ist unterlassene Hilfeleistung.« Im Oktober soll in Agrigent das
Urteil gesprochen werden. Schmidt glaubt an einen Freispruch.
 

Hamburg, Mitte September: Um ihre repressive Politik
zu verteidigen, verweisen Regierungen auf die hohen Zahlen »illegaler«
Migranten. Wie viele aber sind tatsächlich in Europa?
Die
Ökonomin und Migrationsexpertin Dita Vogel vom Hamburgischen
WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) war maßgeblich am Forschungsprojekt
»Clandestino« beteiligt, das nun, nach zwei Jahren Arbeit, die Zahlen
illegaler Migranten in Europa deutlich nach unten korrigiert hat. Statt
der bisher angenommenen 500.000 bis 1 Million geht das HWWI von 200.000
bis 460.000 Illegalen in Deutschland aus. Für die gesamte EU schätzt
das HWWI die Zahl der Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus auf 2,8
bis 6 Millionen Menschen im Jahr 2005, während die EU-Kommission von
4,5 Millionen bis 8 Millionen ausging. Es sei bereits abzusehen, sagt
Vogel, dass die laufende Aktualisierung für die folgenden Jahre noch
niedrigere Zahlen ergeben werde.
Das HWWI
erforschte außerdem, wie die EU-Kommission auf geschätzte 8 Millionen
»Illegale« gekommen war. Vogel nennt das: »Zitierketten
zurückverfolgen«. Demnach berief sich die Kommission auf ein
Arbeitspapier ihrer Mitarbeiter, die sich ihrerseits auf eine Studie
einer Londoner Unternehmensberatung stützte, die wiederum als Quelle
eine irische Stiftung angab, die ihrerseits einen Artikel der
französischen Tageszeitung Le Figaro zitiert hatte.
Und
noch ein paar Zahlen – dieses Mal vom German Institute of Global and
Area Studies in Hamburg. Die allermeisten der 17 Millionen
afrikanischen Migranten bleiben in Afrika. Südafrika beherbergt mit 7
Millionen Ausländern ohne Papiere mehr »Illegale« als die gesamte EU.
Auch wenn es die Fernseh- und Zeitungsbilder immer wieder suggerieren:
die Hautfarbe des typischen Migranten ist nicht schwarz, und die
vermeintliche »Migrantenflut« vor Europas Küsten ist ein politisch
opportunes Trugbild. Über die Hälfte der Menschen, die über das
Mittelmeer nach Europa kommen, erhalten irgendeine Form von
Flüchtlingsstatus. Wenn sie den Weg denn schaffen.
 

Calais, im September: Er gibt seinen Namen mit Sajjad,
sein Alter mit 16 Jahren an. Sein Ziel: »in London zur Schule gehen«.
Er sei vor einem Jahr aus Afghanistan geflohen, wo Taliban seine
Familie ermordet hätten, und vor zwei Wochen nach fast 6000 Kilometern
durch Iran, die Türkei und Griechenland im »Dschungel« angekommen. So
heißt der struppige Landstrich bei Calais, wo seit Jahren Flüchtlinge
in slumähnlichen Verschlägen hausen. Ihr Ziel ist England, wo sie
Verwandte, Freunde haben und die Sprache beherrschen. Bei Nacht
versuchen sie, auf das Dach eines Eurostar-Zuges aufzuspringen oder
sich unter einem der Lkw festzukrallen, um den Kanal zu überqueren und
nach England zu kommen.
Die, die es nicht
geschafft haben, kehren zurück und folgen dem Rat der Schleuser:
Versteckt euch. Sie bleiben im Gebüsch, sie waschen sich im
Industrieabwasser oder kaufen ein paar Liter im Kanister. Die Schleuser
haben ihre Märkte fest im Griff. Sie tragen Messer und Knüppel und
benutzen sie auch. Ihre netzförmigen Organisationen haben sich das
Gelände um Calais aufgeteilt. Vielen Bürgern und der Stadtverwaltung
ist der »Dschungel« ein Schandfleck. Man hat längst vergessen, dass
dieses Elendscamp nur entstanden ist, weil 2002 der damalige
französische Innenminister Nicolas Sarkozy ein Aufnahmezentrum des
Roten Kreuzes abreißen ließ.
Zuständig für
den »Dschungel« ist jetzt Eric Besson, Minister für »Immigration und
nationale Identität«, ein ehemaliger Sozialist. Er hat angekündigt, das
Camp in den nächsten Tagen zu räumen. Besson verteidigt zur Empörung
der starken französischen Flüchtlingsgruppen den
»Solidaritätsparagrafen«, der Hilfe für »Illegale«, für »sans papiers«,
Leute ohne Dokumente, unter Strafe stellt und dabei nicht unterscheidet
zwischen profitgierigen Schleusern und Leuten, die zum Beispiel
Kirchenasyl bieten.
 

Brüssel, Anfang September: Jacques Barrot,
Innenkommissar der EU und als solcher zuständig für »Freiheit,
Sicherheit und Recht«, lässt über einen Sprecher mitteilen, die
Kommission erwarte von Italien eine Erklärung zu den Vorwürfen, es
seien Migranten noch auf See nach Libyen zurückgeschickt worden. Silvio
Berlusconi reagiert prompt. Kommissare und ihre Sprecher, die sich in
die italienische Innenpolitik einmischten, so der italienische
Premierminister, müssten »rausgeworfen« werden. Sollte so etwas noch
einmal vorkommen, werde er, Berlusconi, jede Einigung im Europäischen
Rat blockieren.
Nach dieser Attacke fragt
die ZEIT mehrmals bei Barrots Pressestelle nach, welche Mittel der
EU-Kommission blieben, um bei den Mitgliedsstaaten Rechtsgehorsam
einzufordern – eine Antwort bleibt aus.
 

Brüssel, Anfang September: Die EU-Kommission schlägt
in Zusammenarbeit mit dem UNHCR ein gemeinsames »Resettlement-Programm«
vor. Gemeint ist nicht die Aufnahme von Menschen aus Pagani oder
Lampedusa, sondern von besonders Schutzbedürftigen aus
Flüchtlingslagern in Kriegs-und Krisengebieten. Vergangenes Jahr
siedelte der UNHCR 66.000 Menschen im Rahmen dieses Programms um.
Mitgliedsländer der EU nahmen lediglich 4400 von ihnen auf, neben den
10.000 irakischen Flüchtlingen, die nach einem EU-Beschluss von
vergangenem Jahr nach Europa geholt werden sollen – auch nach
Deutschland. Die Teilnahme am »Resettlement-Programm« ist allerdings
freiwillig.
 

Wien, 14. September: Im Gefängnis Hernalser Gürtel
wird der indische Abschiebehäftling Gangapreet Singh tot in seiner
Zelle aufgefunden. Singh hatte seit vier Wochen jede Nahrung
verweigert. Aus Protest gegen die Zustände in der »Schubhaft« sind
allein 2009 über 1000 Abschiebehäftlinge in Österreich in Hungerstreik
getreten. Oft sind vier Häftlinge auf 20 Quadratmetern
zusammengesperrt, Duschen ist einmal pro Woche erlaubt, Fälle von
Selbstmorden und Selbstverstümmelungen häufen sich.
 

Straßburg, 16. September: In wenigen Stunden wird im
Europaparlament der Portugiese Manuel Barroso erneut zum Präsidenten
der EU-Kommission und damit zum Chef der europäischen Exekutive gewählt.
In
der Presse-Bar des Parlaments zieht der CSU-Abgeordnete Manfred Weber,
unter anderem zuständig für Asyl- und Migrationspolitik, Bilanz.
»Gemeinsame Spielregeln« seien noch lange nicht in Sicht. Weber möchte
ein Team in die Mittelmeerländer entsenden, das die Vorwürfe überprüfen
soll. Die EU müsse wenigstens wissen, sagt er, »was in diesem Sommer
wirklich passiert ist«.
 

Brüssel, 21. September: Bei einem EU-Treffen mit
Amtskollegen übt Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) harsche
Kritik an Griechenlands Umgang mit Flüchtlingen. Nicht zuletzt weil
deutsche Gerichte immer häufiger die Abschiebung von Asylsuchenden
untersagen, die in Griechenland EU-Boden betreten haben. Am 9.
September hatte erstmals auch das Bundesverfassungsgericht die
Abschiebung eines Irakers nach Griechenland verboten, der von dort nach
einem erfolglosen Asylantrag nach Deutschland weitergereist war.
Schäuble
fordert von seinem Athener Kollegen, »das Dublin-System« funktionsfähig
zu halten, das heißt: Griechenland soll die Standards einhalten, damit
Deutschland weitermachen kann wie bisher. Vorschläge zu einem
verbindlichen Verteilerschlüssel für Flüchtlinge auf alle
Mitgliedsländer hört man von deutscher Seite nicht.
 

Calais, 22. September: In den frühen Morgenstunden
räumt die französische Polizei den »Dschungel«. Mehrere Hundert
Flüchtlinge waren bereits in der Nacht zuvor aus dem Camp verschwunden.
278 werden festgenommen, fast die Hälfte sind Jugendliche, die nun in
ein Heim kommen sollen. Der Rest wird irgendwo unterschlüpfen. Was aus
Sajjad, dem 16-jährigen Afghanen, geworden ist, bleibt unklar.

Mitarbeit: Jochen Bittner, Khue Pham, Gero von Randow, Joachim Riedl, Birgit Schönau, Michael Thumann
 

Source: http://mobil.zeit.de/2009/40/Fluechtlinge