Der digitale Kommissar

Mit Fähnchen gespickte
Landkarten und Stadtpläne sind von gestern. Stattdessen nutzt die
Polizei zunehmend Geoinformationssysteme, um Verbrechen aufzuklären

Lucian Haas

[berlinonline] Wenn
Kriminalhauptkommissar Günter Okon auf Verbrecherjagd geht, verlässt er
selten seinen Schreibtisch im Landeskriminalamt Bayern. Sein Revier ist
der Computer, auf dem eine Software namens Gladis läuft. Sie verknüpft
Inhalte der Polizeidatenbank mit Landkarten und stellt die so erzeugten
Karten auf dem Bildschirm dar. Geografische Informationssysteme (GIS)
wie Gladis bieten neue Möglichkeiten zur kriminalistischen Aufklärung.

Strategie der Autoknacker

Da
ist zum Beispiel die Liste der Autoaufbrüche, die im letzten halben
Jahr aus der Münchner Innenstadt gemeldet wurden. Die Tatorte
erscheinen als leuchtende Punkte auf der digitalen Stadtkarte. Sofort
fallen Häufungen in bestimmten Bereichen auf. Mit ein paar Mausklicks
blendet Okon das U-Bahn-Netz in die Karte mit ein und es wird deutlich:
Viele Autoaufbrüche passierten in der Nähe von U-Bahnstationen. "Die
Täter gehen strategisch vor", sagt Okon. "Sie machen einen Bruch und
fahren rasch ein paar Stationen weiter, um dort wieder zuzuschlagen."

Früher
hätte Okon solche Muster nicht so leicht erkennen können. "Wir haben
alle Straftaten mit farbigen Fähnchen auf einer Karte an der Wand
markiert", sagt er. Weil das schnell unübersichtlich wurde,
fotografierten die Polizisten am Ende eines Monats die Karte fürs
Archiv und zogen alle Fähnchen heraus. Viele Hinweise auf
Kriminalitätsschwerpunkte oder Serienstraftaten blieben auf diese Weise
unerkannt.

Der Trend, GIS-Software im Polizeidienst zu verwenden,
stammt aus den USA. Anfang der Neunzigerjahre setzte die New York City
Police erstmals auf das Crime Mapping, also die Kartierung von
Verbrechen. Damals galt die Metropole als eine der gefährlichsten
Städte des Landes. Das eigens entwickelte Programm Compstat sollte
helfen, den Überblick über Morde, Raubüberfälle und Sexualverbrechen zu
behalten. Zugleich wurden die Polizisten angewiesen, überall dort, wo
der Computer Häufungen anzeigte, besonders hart durchzugreifen. Die
Strategie wirkte: Die Kriminalitätsrate der Stadt sank binnen zehn
Jahren um 70 Prozent.

In Deutschland ist die bayerische Polizei
mit Gladis Vorreiter beim Crime Mapping. Seit dem vergangenen Jahr
haben alle Polizeidienststellen des Landes Zugriff auf die grafische
Kriminalitätsanalyse.

Auch in Berlin

Doch auch andere
Bundesländer arbeiten daran, ihre elektronischen Polizeidatenbanken mit
GIS-Software aufzurüsten. "Die Berliner Kriminalpolizei nutzt das Crime
Mapping, um die Zahl der Delikte in etlichen Stadtteilen geografisch zu
visualisieren und die eigenen Strategien zu planen", sagt Hansjörg
Dräger von der Berliner Polizei. Auch in das neue
Polizei-Einsatz-Leit-System (Pelz) sei ein geografisches
Informationssystem integriert, um die Einsätze leichter steuern zu
können.

Selbst in weniger entwickelten Ländern wie Brasilien
bedient sich die Polizei bereits der elektronischen
Verbrechenskartierung. In Belo Horizonte kam sie damit zu
überraschenden Ergebnissen. Jahrelang waren die Ordnungskräfte dort
davon ausgegangen, die Kriminalität sei in allen Elendsvierteln der
Stadt gleich hoch. Doch dann ließen Forscher der Universidad Federal in
Minas Gerais (UFMG) die Polizeistatistik in eine Crime-Mapping-Software
einfließen. Und so entdeckten sie, dass sich die Verbrechen auf wenige
Orte konzentrierten. "Die meisten Morde und Überfälle fanden in nur 6
der 110 Slums von Belo Horizonte statt", berichtet der Soziologe
Claudio Beato, der das Studienzentrum für Kriminalität und Öffentliche
Sicherheit an der UFMG leitet. Seitdem die Polizei ihre Kontrollen dort
deutlich verstärkt hat, ging die Zahl der Gewaltverbrechen erkennbar
zurück.

Crime Mapping hilft nicht nur bei der Prävention, sondern
auch bei der Aufklärung von Verbrechen, wie ein Beispiel aus Südafrika
zeigt. Monatelang hatten drei Banden in Durban und Kapstadt ihr Unwesen
getrieben, zahlreiche Menschen ermordet und entführt. Die Polizei kam
mit ihren Ermittlungen kaum voran, sie schien machtlos zu sein. Doch
dann ließ sie eine Software programmieren, die anhand der Signale von
Mobiltelefonen verdächtiger Personen genaue Bewegungsprofile der
Handybesitzer erstellen kann und diese mit Verbrechensdaten abgleicht.
Auf den Karten war sofort ersichtlich, welche Handys zum Tatzeitpunkt
in der Nähe der Tatorte funkten. So lieferte der Computer wichtige
Hinweise, die zu zahlreichen Festnahmen führten.

Neueste
kriminalistische Computerprogramme wie das in den USA entwickelte
Crimestat geben sogar Einblicke in die Psychologie der Verbrecher. Die
im Auftrag des National Institute of Justice erstellte Software kann
aus früheren Fallanalysen statistisch errechnen, wie sich Kriminelle
typischerweise verhalten. Eines der Module von Crimestat heißt journey
to crime – Reise zum Verbrechen. Es analysiert die Verteilung der
Tatorte einer Verbrechensserie und nutzt die Daten, um Hinweise auf
mögliche Wohnorte eines Täters zu liefern.

Dahinter steckt ein
einfaches Konzept. Zum einen starten Kriminelle häufig vom gleichen
Ort, wenn sie eine Straftat begehen. Zum anderen ähneln sich die
Bewegungsmuster vieler Straftäter. Um nicht erkannt zu werden, wählen
sie einen Tatort aus, der von ihrer Wohnung deutlich entfernt ist.
Allzu entlegen darf der Tatort aber auch nicht sein – sonst wäre der
Fluchtweg zu lang. "Crimestat berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der
ein Täter in einer bestimmten Region wohnt", sagt Kim Rossmo von der
Texas State University in San Marco, der an der Entwicklung des
Programms beteiligt war. "Auf den Karten kann die Polizei erkennen, wo
sie als Erstes nachforschen sollte."

Mithilfe dieser Technik ging
der Polizei von Las Vegas vor vier Jahren ein lange gesuchter
Serienmörder ins Netz. Crimestat hatte als wahrscheinlichsten Wohnort
einen Appartementkomplex ermittelt, den die Fahnder zuvor gar nicht
beachtet hatten. Denn keiner der bis dahin Verdächtigten wohnte dort.

Vergleich mit dem Gespür

Trotz
solcher Erfolge warnen Experten davor, das Potenzial des Crime Mapping
zu überschätzen. Richard Block, Strafrechtler an der Loyola University
in Chicago, gibt zu bedenken: "Die Programme wurden noch nicht
gründlich getestet. Wir wissen daher nicht, ob sie besser oder
schlechter sind als das Gespür eines guten Kriminalbeamten."

Source: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2007/0724/wissenschaft/0005/index.html