Das panoptische Gehirn der Festung Europa

Das Thema Überwachung ist in, manche sehen schon eine neue Bürgerrechtsbewegung am Horizont. Auch "die Linke wacht jetzt erschrocken auf, weil die staatlichen Maßnahmen sie selbst betreffen."
Dabei
werden viele Kontrollsysteme erstmalig zur Migrationskontrolle
eingesetzt und getestet, bevor sie auf andere gesellschaftliche
Bereiche ausgeweitet werden. Antirassistische Initiativen arbeiten seit langem zum Thema, aber ein breites Bewusstsein dafür scheint es nicht zu geben. Wolfgang Kaleck hat völlig Recht, wenn er sagt
"Dagegen haben sich linke Kritiker aber nie entschieden gewandt,
sondern dem Ausbau des Sicherheitsapparates zugeschaut. Und der entfaltet gegenwärtig sein volles Potenzial."

Dieser Artikel stellt elektronische Datenbanken und Datenaustauschverfahren in der EU vor. Mike Davis bezeichnet diese als "panoptisches Gehirn" und einen von drei "grundlegenden Bauteilen" der Festung Europa.

Gliederung: 1. Einleitung | 2. Schengener Übereinkommen und Schengen-Raum | 3. Schengener Informationssystem (SIS) | 4. Schengener Informationssystem II (SIS II) | 5. Visa-Informationssystem (VIS) | 6. Weitere Datenbanken und Informationsaustausch | 7. Fazit
 

1. Einleitung

Im
Artikel wird untersucht, welche elektronischen Datenbanken und
Datenaustauschverfahren die im Inneren zusammenwachsende Europäische
Union im Zeitalter der Globalisierung nutzt, um sich nach außen
gegenüber Migrationsströmen zu verschließen.

Unter dem
Schlagwort Globalisierung wird nicht nur "die stete Ausbreitung des
Flusses von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Technologien über den
ganzen Globus" bezeichnet, sondern ebenso eine "zunehmende Mobilität
von Personen, die mit der Öffnung aller Länder weltweit einhergeht."
Das schreibt die Europäische Kommission in ihrer Broschüre "Globalisierung als Chance für alle."
Doch
eine Immigration in die Europäische Union (EU) ist in der Realität für
die meisten Menschen nicht so einfach, wie es hier dargestellt wird.
Während sich die Mitgliedstaaten innerhalb des so genannten
Schengen-Gebietes öffnen, um einen Transfer von Waren und Personen zu
vereinfachen, findet an den Außengrenzen im Gegenzug eine verstärkte
Abschottung statt. "In den letzten zehn Jahren [kamen] an den
hochgerüsteten europäischen Außengrenzen […] über 5.000 Flüchtlinge" ums Leben, weshalb Menschenrechtsorganisationen die EU als "Festung Europa" bezeichnen.

Zunächst
wird der Begriff des "Schengen-Gebietes" erläutert und dargelegt, wie
sich der Umgang mit nationalstaatlichen Grenzen innerhalb der EU in den
letzten 20 Jahren geändert hat. Es wird ausgeführt, warum im Gegenzug
die EU-Außengrenzen an Bedeutung gewonnen haben und einer verstärkten
Kontrolle unterliegen.

Diese Kontrolle passiert unter anderem
durch ein "panoptisches Gehirn", ein grenzüberschreitendes EU-weites
System der Überwachung und Kontrolle mit Hilfe moderner elektronischer
Datenbanken. Stellvertretend für eine Reihe an elektronischen Systemen
zum europaweiten Datenaustausch werden das Schengener
Informationssystem, sein Nachfolger Schengener Informationssystem II
sowie das Visa-Informationssystem vorgestellt. Dabei werden jeweils
politischer Rahmen, technischer Aufbau, Inhalt der Datensätze,
Zugriffsberechtigungen der Behörden und geäußerte Kritik betrachtet.

2. Schengener Übereinkommen und Schengen-Raum

"Die Beseitigung der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten der EU zählt zu den grundlegenden Zielen der EU.
Was für Kapital, Waren und Dienstleistungen Wirklichkeit wurde, soll
auch für die Menschen gelten."Das so genannte Recht auf Freizügigkeit,
das EU-Bürgern erlaubt, frei durch alle Mitgliedstaaten zu reisen und
sich überall niederzulassen, ist mittlerweile sogar als Grundrecht in
der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Artikel 45 anerkannt.

Verwirklicht
wurde diese Freizügigkeit durch den so genannten Schengen-Raum. Im Jahr
1985 unterzeichneten die Benelux-Länder (Belgien, Niederlande,
Luxemburg), Deutschland sowie Frankreich das "Schengener Übereinkommen",
ein Regierungsabkommen zum schrittweisen Abbau der Personenkontrollen
an ihren gemeinsamen Grenzen. Fünf Jahre später folgte das "Schengener Durchführungsübereinkommen"
(SDÜ), welches 1995 in Kraft trat. Weitere EU-Mitgliedstaaten schlossen
sich dem Übereinkommen an und mit dem Schengen-Protokoll zum Amsterdamer Vertrag wurde es 1999 in den institutionellen und rechtlichen Rahmen der EU integriert. Der "Schengen-Besitzstand" ist seitdem "eine Gesetzessammlung,
die von allen Mitgliedstaaten, die die Schengen-Bestimmungen anwenden,
angewendet werden muss und die von allen Bewerberländern im Hinblick
auf den EU-Beitritt in ihr nationales Recht umgesetzt werden muss."

Das SDÜ beseitigt
einerseits die Kontrollen an den Binnengrenzen der beteiligten Staaten.
"Sobald sich eine Person innerhalb des Schengener Raums befindet, kann
sie frei reisen, wohin sie will. Deshalb ist es von vitaler Bedeutung,
dass die Kontrollen und Überprüfungen an den Außengrenzen streng genug
sind, um illegaler Einwanderung, Drogenschmuggel und anderen
gesetzwidrigen Tätigkeiten einen Riegel zu schieben." Für die Sicherung
der neuen einheitlichen Außengrenze werden deshalb "rigorose Kontrollen
und eine effektive Überwachung" vorgeschrieben.

Diese
Aufrüstung der Kontrollen und Überwachung machen eine Immigration
abseits der offiziellen gemeinsamen Visapolitik komplizierter und
gefährlicher als je zuvor. Während eine Immigration, die den
wirtschaftlichen Interessen der EU-Staaten dient, durchaus möglich ist,
stehen vermehrt mittellose Flüchtlinge oder Papierlose auf der Suche
nach einem besseren Leben vor enormen Risiken, die eine Einreise massiv
behindern. Der Tod hunderter Menschen an den Grenzen der EU jedes Jahr
geben der Union den Spitznamen "Festung Europa."

Der US-amerikanische Soziologe, Historiker und Sozialkommentator Mike Davis macht drei grundlegende Bauteile der Festung Europa
aus: "ein panoptisches Gehirn, ein gemeinsames System der
Grenzkontrolle und eine Pufferzone alliierter Staaten." Das Gehirn
dieser länderübergreifenden EU-weiten Zusammenarbeit zur Kontrolle und
Überwachung besteht aus riesigen digitalen Datenbanken mit Einträgen
über Millionen von Menschen, auf welche eine Vielzahl von Behörden
zugreifen kann. Stellvertretend für eine Reihe solcher Systeme sollen
drei Datenbanken vorgestellt werden, die exemplarisch für die
Überwachung von Migration und den Außengrenzen sind: das Schengener
Informationssystem, sein Nachfolger Schengener Informationssystem II
sowie das Visa-Informationssystem. Dabei werden auch
datenschutzrechtliche Probleme dargelegt.

3. Schengener Informationssystem (SIS)

Ein "Kernstück der Ausgleichsmaßnahmen für den Wegfall der Binnengrenzkontrollen zwischen den Schengener Staaten" ist das Schengener Informationssystem (SIS). Das Bundesministerium des Innern nennt es
"das wichtigste gemeinsame Fahndungssystem der europäischen Polizei-
und Grenzschutzbehörden." Dessen Entwicklung und Aufbau wurde im SDÜ
vereinbart.
Das SIS ist eine komplexe computergestützte
Datenbankanwendung, die alle Schengen-Länder zur polizeilichen Fahndung
nutzen. Mit diesem länderübergreifenden und inhaltsgleichen Pool von
Datensätzen wird die gemeinsame Arbeit der Sicherheitsbehörden des
Schengen-Raums gewährleistet.

Das digitale Netzwerk des SIS ist
sternförmig aufgebaut. Das sogenannte C-SIS (central SIS) im
französischen Straßburg bildet den zentralen Standort, der die
Referenzdatenbank beinhaltet. Das C-SIS ist verbunden mit den
nationalen Standorten N-SIS (national SIS), welche jeweils eine Kopie
der Datenbank enthalten. Die verschiedenen Datenbanken werden ständig
synchronisiert.
Eine Zugriffsberechtigung auf die N-SIS Datenbanken hatten bei der Errichtung im Jahr 1995 ca. 30.000 Terminals in den damals sieben Schengen-Staaten. Heute gibt es über 125.000 Access Points, selbst die EU kann deren Anzahl nur schätzen.
Schon die Zahl der deutschen Terminals mit Zugriff übertrifft die ursprünglichen 30.000 bei weitem. Laut Bundestag
setzt allein die Bundespolizei 1.385 stationäre und 287 mobile
Abfrageterminals ein, die Zollverwaltung weitere 47. Darüber hinaus
kann das SIS weitestgehend von den Arbeitsplatzcomputern der Polizeien
des Bundes und des Zollfahndungsdienst erreicht werden, da diese an das
polizeiliche Informationssystem INPOL angeschlossen sind. Die
Bundesregierung gibt an,
dass "bei den Polizeien des Bundes sowie für den Zollfahndungsdienst
schätzungsweise 10.500 Arbeitsplatzcomputer unter anderem auch für SIS
Abfragen verwendet [werden]." Darüber hinaus existiert eine unbekannte
Zahl an SIS-Abfrageterminals bei den Ländern.

In der Datenbank des SIS sind sowohl Angaben über Personen als auch über Sachen gespeichert.
Personenbezogene Daten können
erfasst werden von "Personen, die zwecks Festnahme oder Auslieferung
gesucht werden; Ausländer, für die eine Warnung zwecks Verweigerung der
Einreise ausgegeben wurde; vermisste Personen oder Personen, die
vorübergehend Polizeischutz benötigen (insbesondere Minderjährige);
Zeugen oder Personen, die vor Gericht geladen sind sowie Personen, die
einer diskreten Überwachung oder besonderen Kontrolle zur Verfolgung
von strafbaren Handlungen oder zur Vorbeugung gegen Gefahren für die
öffentliche Sicherheit unterzogen werden sollen." Die einzelnen
Einträge umfassen neben Angaben zur Identität und Merkmalen die
personenbezogenen Hinweise, ob eine Person "bewaffnet" oder
"gewalttätig" ist, sowie den Ausschreibungsgrund und die zu ergreifende
Maßnahme. Weitere Angaben sind "nicht zulässig."
Als
Güter werden "gestohlene, unterschlagene oder sonst abhanden gekommene"
Sachen gespeichert: Kraftfahrzeuge, Anhänger, Wohnwagen, Feuerwaffen,
Blankodokumente, ausgefüllte Identitätspapiere sowie Banknoten.

Die
Anzahl der Fahndungsdaten im SIS nahm seit der Inbetriebnahme
kontinuierlich zu. Beinhaltete das System 1996 noch 3,9 Millionen
Datensätze, waren es 1997 schon 5,6 Millionen und 8,8 Millionen im Jahr 1998. Laut Bundesregierung umfasste die Datenbank 2003 10,6 Millionen, im März 2006 14,7 Millionen und zuletzt im Oktober 2006 "mehr als 16 Millionen" Einträge. Die Tendenz ist eindeutig, eine weiterer Ausbau voraussehbar.
Der
überwiegende Teil sind Einträge über Sachen, nur ca. 7% sind
personenbezogene Daten. Davon sind Schengen-weit 31.013 Einträge zu
verdeckten Überwachungsmaßnahmen.

Den meisten Speicherplatz der Personendaten belegt der Kampf gegen so genannte illegale Einwanderer. Im April 2005 waren 778.886 oder 89% der Schengen-weiten personenbezogenen Daten Einreiseverweigerungen nach Artikel 96
des SDÜ. Dabei zeigt sich eine massive Diskrepanz der Einträge
einzelner Staaten. So machen allein die Einträge von Deutschland und
Italien 77% aller Artikel 96 Daten aus. Die Gesamtheit der deutschen
Personendaten bestand im März 2006 mit 162.294 Einträgen sogar zu 95% aus solchen Einreiseverweigerungen.
Diese
Dominanz der beiden Staaten lässt sich zurück führen auf eine
schwammige Definition in Artikel 96, in welchem Falle Daten nach diesem
Artikel im SIS zu speichern sind. Das SDÜ empfiehlt einen Eintrag bei
einem so genannten "Drittausländer", "der wegen einer Straftat
verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem
Jahr bedroht ist" oder "gegen den ein begründeter Verdacht besteht,
dass er schwere Straftaten, einschließlich solcher im Sinne von Artikel
71 begangen hat, oder gegen den konkrete Hinweise bestehen, dass er
solche Taten in dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei plant."
Die
endgültige Entscheidung über eine von diesem Menschen ausgehende
"Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale
Sicherheit" treffen aber die einzelnen Mitgliedstaaten. Es ist ein
offenes Geheimnis, dass Deutschland alle Menschen einträgt, die "einmal vergeblich in der EU Asyl beantragt" haben. Auch Italien registriert unwillkommene Immigranten "en masse."
So zeigt auch die Treffer-Zahl,
dass SIS in erster Linie ein elektronisches Instrument der
Grenzkontrolle ist und nicht für polizeiliche Ermittlungen im
herkömmlichen Sinne. Über ein Drittel aller Verhaftungen aufgrund von
SIS-Daten in Deutschland im Jahr 2005 fand statt wegen Artikel 96: von
31.383 "Hits" bei Personen und Sachen stellten 11.594 Menschen, denen
die Einreise nach Deutschland verweigert wurde.

Weil es "in seiner derzeitigen Form nicht mehr als 18 Teilnehmerstaaten bedienen" kann , wird das SIS zur Zeit unter dem Namen SIS one 4all
(deutsch "SIS I für alle") erweitert und ausgebaut. Dadurch sollen die
technischen Voraussetzungen geschaffen werden, dass die im Mai 2004 neu
beigetretenen EU-Länder im Dezember 2007
an das System angeschlossen werden und somit ihre Binnengrenzkontrollen
aufheben können. Das SISone4all stellt eine Übergangslösung zwischen
dem technisch als veraltet gesehenen SIS I und dem in Entwicklung
befindlichen SIS II dar.

4. Schengener Informationssystem II (SIS II)

Der Rat der Europäischen Union beschloss
Ende des Jahres 2001, dass "das gemäß Titel IV des Schengener
Übereinkommens von 1990 eingerichtete Schengener Informationssystem
[…] durch ein neues System, das Schengener Informationssystem II (SIS
II), ersetzt [wird]."
Als offizieller Grund wird angegeben, dass das
alte SIS technisch nur für 18 Mitgliedstaaten ausgelegt sei und somit
den Anforderungen der seit den EU-Erweiterungen von 2004 und 2007 nun
27 Staaten zählenden Mitgliedern nicht mehr gerecht werden kann. Das
mache eine komplette Neuentwicklung des sich in einigen vollzogenen
Erweiterungen schon als dynamisch und flexibel bewiesenen Systems
notwendig. Die Begrenzung scheint jedoch politischer statt technischer
Natur.
Plausibler klingt die Begründung des "SIS der zweiten Generation" im Nebensatz des Rats:
"damit auch die jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der
Informationstechnik genutzt werden können und das System um neue
Leistungsmerkmale ergänzt werden kann." Diese "neuen Leistungsmerkmale"
stellen eine erhebliche Erweiterung gegenüber dem Vorgängermodell dar,
so soll SIS II sowohl mehr Daten enthalten als auch mehr Informationen
verarbeiten können.

Das SIS II ist nicht mehr wie das SIS eine
einfache Datenbank, sondern ein Informationssystem, welches nach und
nach mit zusätzlichen Funktionalitäten erweitert werden kann.
Schwerpunkte soll "die Prävention und Erkennung von Bedrohungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" sein.

Eine Initiative der spanischen Regierung
sieht vor, folgende neue Daten einzubeziehen: "Art des Verstoßes;
Boote, Flugzeuge und Container, industrielle Ausstattung,
Aufenthaltsgenehmigungen und Reisedokumente,
Kraftfahrzeug-Registrierungs-Zertifikate, Kreditkarten, Wertpapiere
usw., die gestohlen wurden oder verlorengegangen sind." Weiterhin
sollen "auch Daten über Menschen eingegeben werden, die den
Schengen-Raum nicht verlassen dürfen, die als Unruhestifter gelten oder
als politische Aktivisten aufgefallen sind."

Die Mitgliedstaaten
sind sich einig, dass biometrische Daten, also digitale Fotografien und
Fingerabdrücke, in das SIS II eingepflegt werden sollen.
Dies muss im weiteren Kontext der vorgeschriebenen biometrischen Erfassung der EU-Bevölkerung
gesehen werden. Während digitale Fotos und Fingerabdrücke von allen
Asylbewerbern schon lange in die Eurodac Datenbank aufgenommen wurden,
werden nun EU-weit alle Reisepässe, Aufenthaltsgenehmigungen sowie
Visa-Anträge einheitlich mit diesen Merkmalen ausgestattet. Diese "automatisierte Erkennung von Individuen, basierend auf ihren Verhaltens- und biologischen Charakteristika" eines weiten Teils der EU-Bevölkerung ist verfassungsrechtlich, grundgesetzlich sowie ethisch höchst umstritten.
Darüber hinaus wurde beschlossen,
dass in einer weiteren Phase eine biometrische Suchfunktion in das SIS
II eingeführt werden soll, die ermöglicht, dass Fingerabdrücke oder
Fotografien von Tatorten zur Verbrechensbekämpfung mit der Datenbank
des SIS II abgeglichen werden können. Dieser Schritt wird die Funktion
des SIS grundlegend verändern. Während gegenwärtig in die EU
einreisende Menschen gegen Einträge im SIS geprüft werden, erlauben die
neuen Funktionen des SIS II, es als Werkzeug zur polizeilichen
Ermittlung zu benutzen.
Die bisherigen Vereinbaren sprechen
weiterhin ausdrücklich von "weiteren biometrischen Daten", womit
wahrscheinlich DNA gemeint ist.

Auch alle Informationen des Europäischen Haftbefehls werden ins SIS II gefüttert.
Dadurch werden zwangsläufig neue Datenfelder erstellt für:
"Mädchenname; Wohnort und/oder bekannte Adresse; Sprachen, die die
betreffende Person versteht; Informationen, die mit dem Haftbefehl, dem
Gerichtsverfahren und dem Vergehen zusammen hängen; weitere für das
Verfahren relevante Informationen und Informationen zu Durchsuchungs-
und Beschlagnahmebefehlen."

Die gespeicherten Daten können im SIS II auch untereinander verlinkt werden.
So werden Verbindungen von "illegalen Immigranten" nach Artikel 96 zu
deren verdächtigten so genannten "Menschenschmugglern" nach Artikel 99
möglich. Das Ergebnis ist, dass immer mehr Vermutungen und
Geheimdienstinformationen in das SIS II Einzug halten. Eine Verbindung
zu anderen Datenbanken soll ebenfalls möglich werden.

Verlängert werden sollen die Speicherfristen für die Daten.
Einträge über Einreiseverweigerungen nach Artikel 96 dürfen nun 5 statt
bisher 3 Jahre gespeichert werden, die Frist für Daten über
Auslieferung (Art. 95), vermisste Personen (Art. 97) sowie Personen,
die vor Gericht erscheinen müssen (Art. 98) wird von 3 auf 10 Jahre
erweitert. Bei Überwachungsmaßnahmen (Art. 99) steigt die Lebensdauer
der Daten von ein auf drei Jahre.

Die Anzahl der Institutionen
mit Zugriffsberechtigung auf die SIS II Daten wird drastisch
ausgeweitet. SIS war explizit auf die Verwendung durch Polizei,
Grenzkontrollen sowie Zollbehörden begrenzt. Vier neue Benutzergruppen
werden SIS II verwenden dürfen: Kraftfahrzeugzulassungsstellen, die
Europäische Polizeibehörde Europol, die europäische Justizbehörde
Eurojust, Justizbehörden der Mitgliedstaaten. Weiterhin dürfen Schengen-interne Sicherheitsdienste sowie Geheimdienste außerhalb der Schengen-Staaten das SIS II benutzen. "Erwägt
wird zudem die Öffnung von SIS für nichtstaatliche Organisationen wie
Kreditinstitute." Es ist zudem möglich, neue Benutzer blitzschnell
hinzuzufügen, auch zu anderen Zwecken als für welche die Daten erhoben
worden.

Die Transformation vom Informationssystem zum
Ermittlungssystem wird durch diese Ausweitungen erneut deutlich.
António Vitorino, der Ex-EU-Kommissar für Justiz und Inneres, bestätigte
diese Neuausrichtung: "Ich denke das SIS II ist keine einfache
Datenbank mehr wie SIS. Die neue Version muss stärker auf die Belange
der Sicherheit und der grenzüberschreitenden Kriminalität ausgerichtet
sein."

Die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch warnt
deswegen auch, dass das SIS II hinter dem Rücken der europäischen
Parlamente zu einer regelrechten "Big-Brother-Datenbank" ausgebaut
wird: "Dieses System wird benutzt werden, um Millionen vom EU-Gebiet
auszuschließen, Überwachung und Kontrolle über die verdächtige
Bevölkerung auszuüben und um ein biometrisches Register aller
Einreisenden in die EU ähnlich dem US-VISIT-Programm zu schaffen."
Statewatch sieht SIS II auf dem Weg zu einer gewaltigen "panoptischen
Maschine" nach Michel Foucaults Begriff des Panoptismus,
der zunehmenden Überwachungs- und Kontrollmechanismen beschrieb, woraus
eine soziale Konformität des Individuums resultiert. Das neue System
wachse "aufgrund seinen Fähigkeiten zur Registrierung und Überwachung
von Individuen sowie ganzer Bevölkerungsgruppen zu einem der
repressivsten politischen Instrumente der Moderne."

5. Visa-Informationssystem (VIS)

Eine weitere Datenbank der EU zur Migrationskontrolle ist das Visa-Informationssystem
(VIS), ein vom Europäischen Rat in Sevilla 2002 ins Leben gerufenes
System für die Identifizierung von Visa-Daten. Der Europäische
Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx nennt das VIS "die größte grenzüberschreitende Datenbank Europas."

Ziel
des VIS sind Verbesserungen "der Umsetzung der gemeinsamen
Visumpolitik, der konsularischen Zusammenarbeit und der Konsultation
der zentralen Konsularbehörden." Es soll helfen "Bedrohungen der
inneren Sicherheit der Mitgliedstaaten zu verhindern; Umgehungen der in
der Dublin II-Verordnung aufgestellten Kriterien zu verhindern; die
Bekämpfung von Dokumentenfälschung zu erleichtern; Kontrollen an den
Außengrenzen zu erleichtern; zur Rückführung illegaler Einwanderer
beizutragen." "Mithilfe des Visa-Informationssystems (VIS) wird es den Grenzkontrollbehörden möglich sein,
einen Visumantrag zurückzuverfolgen und zu überprüfen, ob die Person,
die das Visum vorlegt, mit der Person identisch ist, der das Visum
ausgestellt wurde."

Das VIS wird alle vorhandenen Daten von
jedem Visa-Antrag in jedem EU-Mitgliedsstaat enthalten, gleichwohl ob
der Antrag erfolgreich war oder zurückgewiesen wurde. Bei erfolgreicher
Erteilung sind dies unter anderem
"Angabe zum Stand des Verfahrens (Visumerteilung), Ort und Datum der
Visumerteilung, Art des ausgestellten Visums und Nummer der
Visummarke." Alle Visa-Bewerber müssen zudem zwei Arten von
biometrischen Daten abgeben, digitalisierte Fotografien und Fotos von
Fingerabdrücken, die ebenfalls im VIS gespeichert werden.Hustinx schätzt, dass pro Jahr rund 20 Millionen neue Einträge zu verzeichnen sein werden. Die Speicherdauer beträgt fünf Jahre.

Zugang zum VIS hatten ursprünglich
nur "Bedienstete der Visumbehörden, mit der Durchführung von Kontrollen
an den Außengrenzen befassten Behörden, Einwanderungsbehörden und
Asylbehörden." Darüber hinaus sind aber mittlerweile
ebenso "für die innere Sicherheit zuständige nationale Behörden und die
Europol-Bediensteten […] zur Abfrage von VIS-Daten berechtigt." Statt
der ursprünglichen Grenzkontrolle kann dies nun auch "zum Zwecke der
Prävention, Aufdeckung und Untersuchung terroristischer und sonstiger
schwerwiegender Straftaten" erfolgen.

Technisch ist das VIS offiziell ein eigenständiges System mit einer zentralisierten Architektur. Es besteht
ähnlich dem SIS aus einem zentralen Informationssystem, "dem zentralen
Visa-Informationssystem" (CS-VIS), sowie einer Schnittstelle in jedem
Mitgliedsstaat, "der nationalen Schnittstelle" (NI-VIS). In der
Realität, so Statewatch "sind SIS II und VIS ein einziges System," das gemeinsam entwickelt wird und Ende 2007 online gehen soll.

6. Weitere Datenbanken und Informationsaustausch

SIS,
SIS II und VIS sind exemplarisch für die Überwachung und Kontrolle der
EU-Außengrenzen sowie Migrationsströmen, sie wurden dediziert zu diesem
Zweck errichtet. Es existieren darüber hinaus jedoch eine Reihe
weiterer solcher elektronischen Überwachungssysteme, die zunehmend
untereinander verknüpft werden.

Das "Supplementary Information Request at the National Entry" (SIRENE)
ist ein alternatives System für den Informationsaustausch zum SIS und
zeitgleich mit dem SIS errichtet, es soll den bilateralen und
multilateralen Datenaustausch erleichtern. SIRENE liefert ergänzende
Informationen über Personen und Objekte, die im SIS registriert sind.
Polizeibehörden können über SIS länderübergreifend
Ergänzungsinformationen über bestimmte Personen sowie "weiche Daten"
anfordern.

Eurodac
(European Dactyloscopie) ist ein "gemeinschaftsweites
Informationstechnologiesystem für den Vergleich der Fingerabdrücke von
Asylbewerbern." Es wurde im Zusammenhang mit dem 1997 in Kraft
getretenen Übereinkommen von Dublin entwickelt und ist seit 2003 im
Einsatz.

Das Europäische Polizeiamt Europol besitzt und verwaltet ein eigenes Informationssystem.
Europols definierte Aufgaben umfassen unter anderem, den
Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern,
Informationen und Erkenntnisse zusammenzustellen und zu analysieren,
automatisierte Informationssammlungen zu unterhalten sowie die
technische Unterstützung zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern.
Das System besteht aus einem automatisiert geführten
Informationssystem, den Arbeitsdateien und einem Indexsystem.

Das "Information and Coordination Network for Member States") (ICONET)
ist ein "sicheres web-gestütztes Netz zur Koordinierung und zum
Austausch von Informationen über illegale Einwanderung." Es ermöglicht
"den Mitgliedstaaten die vertrauliche Übermittlung von Warnhinweisen,
insbesondere auf erste Anzeichen für illegale Einwanderung und
Schleusernetze, erkennbare Veränderungen bei den Einwanderungsrouten
und Vorgehensweisen oder sonstige Ereignisse und Vorfälle, die auf neue
Entwicklungen hindeuten. Das Netz kann auch die Zusammenarbeit der im
Ausland stationierten Verbindungsbeamten für Einwanderungsfragen
stärken helfen, indem es ihnen den Zugang zu allen für ihre Tätigkeit
relevanten Informationen erleichtert."

"Prosecur"
ist ein Datenaustauschverfahren, dass eine "ständige Weiterverfolgung
von Informationen zwischen den für die Kontrolle der Außengrenzen
zuständigen Stellen ermöglichen soll." Davis bezeichnet es als "wichtigste Waffe im Abwehrkampf des Grenzschutzkorps" sowie "elektronischen Vorhang."

Der so genannte Prümer Vertrag
von 2005 soll die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und den
Informationsaustausch zur Strafverfolgung weiter verbessern. Polizei-
und Strafverfolgungsbehörden sollen demnach direkt auf bestimmte
Datenbanken anderer Vertragsstaaten zugreifen können. Darunter fallen
beispielsweise DNA-Analyse-Dateien wie die DNA-Datenbank des BKA,
Datenbanken mit elektronisch gespeicherten Fingerabdrücken sowie
elektronische Register mit Kraftfahrzeug- und Kraftfahrzeughalterdaten.

Der
Direktor des "Statewatch European Monitoring and Documentation Centre
on Justice and Home Affairs in the EU" (SEMDOC) Ben Hayes prophezeit:
"Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die EU in den nächsten Jahren ein
System einrichten wollen, dass alle Ein- und Ausreisebewegungen
erfasst. Das würde später mit dem Schengen- und dem
Visa-Informationssystem verbunden werden und biometrische und
möglicherweise auch DNA-Daten enthalten."

7. Fazit

Die
Festung Europa unterhält ein umfassendes Netz moderner elektronischer
Datenbanken zur Migrationskontrolle, Strafverfolgung sowie Prävention,
das zu Recht als "panoptisches Gehirn" bezeichnet werden kann.

Es
entstehen immer mehr gemeinsam genutzte Datenbanken mit immer mehr
Inhalt. Bestehende Systeme werden zunehmend miteinander verknüpft. Die
Zahl der Behörden, denen der Zugriff erlaubt ist, nimmt ebenfalls zu.
Ständig wird ihre "Effizienz" erhöht sowie ihre "Interoperabilität"
gesteigert. Es scheint, als wachsen europäische Informationssysteme
spätestens seit 2001 immer mehr zusammen.

Dabei treten immer wieder scheinbar universelle Datenschutzprobleme auf. Die datenschutzrechtlich verankerte "Zweckbindung"
erhobener Daten wird in zunehmendem Maße ignoriert. Eine Kontrolle
existierender Systeme sowie unabhängige Evaluierungen finden nur
spärlich statt. Datenschutzbeauftragte sind schlecht ausgestattet und
haben meist nur beratende statt verpflichtende Rechte.

Am
stärksten betroffen von dieser Entwicklung sind zweifellos Migranten.
Viele Systeme werden mit dem expliziten Ziel entwickelt,
Migrationsströme in die EU zu verhindern. An dieser Menschengruppe ohne
große Rechte oder Lobby werden neue Systeme ausprobiert, eh sie auf
weitere Gruppen ausgeweitet werden.

Doch ein Panopticon nach
Foucault hat aufgrund allgegenwärtiger Überwachung auch eine soziale
Konformität des Individuums als Resultat. Daher betrifft diese
Entwicklung im Endeffekt alle Menschen, innerhalb oder außerhalb der
EU.