Frontex und die toten Flüchtlinge

Ralf Streck 25.12.2007
Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass durch den Einsatz der
EU-Grenzschutzbehörde Frontex vor den Kanarischen Inseln mehr
Flüchtlinge sterben, weil die Wege länger und gefährlicher werden
Im Laufe des Jahres haben 12.000 Menschen die Überfahrt von
Westafrika auf die Kanarischen Inseln geschafft. Das sind deutlich
weniger als im Vorjahr, trotz allem kann dies kaum als Erfolg der
EU-Grenzschutzbehörde Frontex gewertet werten, die mit Luft- und
Seeüberwachung versucht, die Urlaubsinseln abzuschotten. Wurde im
Vorjahr von 6.000 Menschen gesprochen, welche die gefährliche Überfahrt
nicht überlebten, gehen Hilfsorganisationen davon aus, dass diese Zahl
deutlich gestiegen ist, weil die Wege immer länger und gefährlicher
werden. Frontex dementiert mit merkwürdigen Zahlen, die selbst mit den
den Angaben des spanischen Innenministeriums nicht übereinstimmen.

"Bei mehreren Schiffsunglücken sind am Wochenende im Mittelmeer und im
Atlantik möglicherweise mehr als 140 Flüchtlinge getötet worden. (…) Im
Atlantik vor Marokko wurden mindestens 50 Menschen vermisst, die die
Kanarischen Inseln erreichen wollten. Bei einem weiteren Vorfall
starben laut Polizei rund 40 Afrikaner vor dem Senegal, die ebenfalls
auf dem Weg zu den Kanaren waren." Soweit eine Nachricht von Afp
vom 10. Dezember über den Bluttzoll, der täglich von Menschen gezahlt
wird, um von Afrika aus über die Meere nach Europa zu kommen. Allein
2006 waren sich die lokalen Behörden der Kanarischen Inseln, die zum
Küstenschutz eingesetzte Guardia Civil, der spanische Geheimdienst,
sowie Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz und der Rote Halbmond
einig darüber, dass es vor Westafrikas Küsten zu einem Massensterben
kommt. Tausende hätten die gefährliche Überfahrt auf die Urlaubsinseln
nicht überlebt. Mit 6.000 bezifferte die Regionalregierung der Kanaren
die Zahl genauer (6000 Flüchtlinge starben vor den Kanarischen Inseln). Und immer mehr Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass diese Zahl 2007 sogar noch deutlich höher ausfallen wird.

Im Oktober gab die Guardia Civil die Zahl derer, die im Umfeld der
Kanarischen Inseln aufgefunden wurden oder dort tot angekommen sind,
mit 255 an. Hilfsorganisationen rechneten die in Presseberichten
angeführten Toten dazu, weshalb sie nun auf eine Zahl von knapp 400
kommen. Auch das Rote Kreuz macht die verstärkte Abschottung über
Frontex für die gestiegene Zahl an Toten verantwortlich.


Umso mehr Barrieren aufgebaut werden, umso größer wird das
Risiko, weil versucht wird, die Kontrollen zu umgehen. Die Einwanderer
nehmen immer weitere Wege in Kauf, sind länger unterwegs, entfernen
sich wegen der Kontrollen von der Küste und reisen nachts, um nicht
aufgebracht zu werden.

Gerardo Mesa, Präsident des Roten Kreuzes auf der Insel Fuerteventura

Kürzlich versuchten drei Marokkaner die Überfahrt
aus der Westsahara sogar auf einem Surfbrett, um die Wärmesensoren zu
überlisten, die nur größere Menschenansammlungen in Booten
registrieren.

Tatsächlich werden die Strecken im länger, die
Abfahrtspunkte unterschedlicher, die Vorbereitungen auf eine Überfahrt
geheimer. Von Dutzenden Kilometern aus der von Marokko besetzten
Westsahara wurden es einige Hundert Kilometer, um von Nouadhibou in
Mauretanien zu starten, als Marokko auf Druck der EU gegen Auswanderer
vorging. Dann kam das hunderte Kilometer südlichere Nouakchott hinzu,
und als auch Mauretanien in die Abschottung eingebunden wurde,
starteten viele aus Saint Louis im Senegal. Startpunkte liegen nun auch
auf den Kapverdischen Inseln, Gambia und Guinea Bissau und der Weg ist
meist weit über 1000 Kilometer lang. Die Fläche, auf denen die Menschen
in den Fluten verschwinden, hat sich vervielfacht. Ein Abgleich der
Zahlen, wie viele gestartet und wie viele angekommen sind, ist ungleich
schwieriger, um in etwa eine Zahl derer zu ermitteln, die bei der
Überfahrt das Leben verlieren.

Zahlenakrobatik bei Frontex

Fest steht, dass auch dieses Jahr mehr als 12.000 Menschen die
Kanarischen erreicht haben. Fest steht auch, dass Frontex angibt, bis
Anfang Dezember 8.258 vor der westafrikanischen Küste aufgebracht und
zurück geschafft zu haben. Allein das zeigt, dass die Abschottung
misslingt, denn dieses Jahr haben es immer noch drei Mal so viele
geschafft, als 2005, wenngleich es deutlich weniger waren als die
31.000 im Vorjahr. Beunruhigt ist man bei Frontex, dass die
Grenzschutzbehörde für die steigende Zahl der Toten verantwortlich
gemacht wird. "Wir sind besorgt darüber, dass solche Gerüchte große
Ausmaße annehmen könnten", sagte
der stellvertretende Generaldirektor Gil Arias. Um seine angeblichen
Erfolge zu unterstreichen, erklärte er sogar: "Die Zahl der Toten und
Verschwunden ist zurückgegangen."

Dafür muss er Zahlenakrobatik betreiben. Während der
spanische Geheimdienst, die Guardia Civil und Hilfsorganisationen
übereinstimmend von tausenden Toten sprachen,
senkt Arias Gil die Zahl für 2006 auf "983 Personen". Wie er dazu
kommt, erklärt er nicht. Er fügt an, 38 seien tot auf den Inseln
angekommen und 24 danach an den Folgen der Überfahrt gestorben, der
Rest sei im Meer verschwunden. Da der Einsatz 2007 ausgeweitet wurde,
müssen offenbar nun die Zahlen positiver werden, um das Geld zu
rechtfertigen. Arias erklärte, bis zum 11 Dezember seien 9 Personen tot
auf den Kanarischen Inseln angekommen und 34 in so schlechter
Verfassung, dass sie später starben. Weitere 514 seien auf dem Weg von
Westafrika verschwunden.

Die Zahlen des Frontex-Chefs sind gefinkelt, Hilfsorganisationen
bezichtigen ihn schlichtweg als Lügner, vielleicht will er aber die
Toten nicht sehen (Die Toten, die niemand sehen will).
Tatsächlich hat Arias schon Probleme damit, dass seine Angaben sogar im
Widerspruch zu denen des spanischen Innenministeriums stehen, das die
Zahl der Toten schon mit 1000 Toten angibt.

Menschenrechtsorganisationen haben allein in drei Wochen vor dem 10.
Dezember acht Tote vermerkt, die auf den Kanarischen Inseln angekommen
sind. Man habe mit einem neuen Todesrekord zu tun. "Es kommen weniger
an, weil immer mehr Menschen auf der Überfahrt sterben", klagt der
Präsident der Vereinigung der Afrikanischen Einwanderer (Asiaf). Secka
Mbaye gibt
auch die Gründe für die steigende Zahl der Toten an: "Früher dauerte
die Überfahrt drei bis vier Tage und heute sind die Boote zum Teil 15
oder 20 Tage unterwegs, um der Überwachung zu entgehen." Aus dem
Senegal oder Mauretanien kämen kaum noch Boote, sondern viele aus
Ghana, der Elfenbeinküste und Guinea Bissau

Die Zahlen von Frontex passen auch nicht zu denen der Guardia Civil.
Ohnehin reicht es sogar, einen einzigen Vorgang zu benennen, um zu
belegen, dass an Arias Zahlen etwas faul ist. Anfang September wurden
allein zehn Leichen geborgen, als eines der Boote vor Gran Canaria kenterte.
Nur in diesem Fall kamen also mehr Tote auf den Kanaren an, als der
Frontex-Chef für das ganze Jahr angibt. Oder sollte man ihn an die
Vorgänge am 19. Juli erinnern, als ein Seenotrettungsschiff ein
Immigrantenboot rammte, in dem sich 136 Einwanderer befanden. Bei dem
"Rettungsmanöver" ertranken 88 Menschen
vor der Insel Teneriffa. Der Anwalt Plácido Alonso Peña, der einen
Großteil der Überlebenden vertritt, hat Anzeigen gegen die Kapitän und
Besatzung der beiden am Vorgang beteiligten Schiffen wegen
leichtfertiger Tötung in 88 Fällen gestellt.

Trotz allem setzt die EU immer weiter auf
Abschottung, wie sich deutlich daran zeigt, dass das Budget für Frontex
für 2008 nun auf 70 Millionen Euro verdoppelt wurde. Versprochen werden dafür "effizientere Einsätze".

Was konkrete Hilfen für Afrika angeht, zeigt man sich deutlich
zurückhaltender. Mehr als schöne Worte kamen beim im EU-Afrika Gipfel
in Lissabon kürzlich nicht heraus, was die Migrationfrage anging (Mugabe, das Unwort und die Chinesen).
Die Afrikanische Union (AU) hatte mehr freien Zugang für Arbeitskräfte
gefordert, um den Blutzoll auf den Meeren zu senken. Doch die EU war
eher an einer Migration a la Carte interessiert. Nach dem, was als
"historisches Abkommen" bezeichnet wurde, soll sich die AU bemühen, die
Flüchtlinge und Auswanderer schon im Herkunftsland aufzuhalten. Sie
soll auch dafür sorgen, dass die Abschiebungen reibungsloser ablaufen.
Erneut wurde beschlossen, dass die wirtschaftlichen Chancen, vor allem
für junge Leute, verbessert werden sollen. Genauso unkonkret hieß es,
die EU wolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung helfen und keine
hochqualifizierten Einwanderer wie Ärzte aus den Entwicklungsländern
abwerben.

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