Edvige und ihre neugierigen allwissenden Schwestern

Der Widerstand gegen französische Datenbanken wächst

[telepolis.de] Die erste Einspruch gegen Edvige (siehe: Gewerkschaftler, Schwule und mögliche Ruhestörer: Platz nehmen auf der neuen französischen Datenbank!) ist beim Conseil d’Etat eingegangen, meldet heute die Libération. Wie es aussieht, kann das höchste Verwaltungsgericht des Nachbarlandes, das zugleich über die Rechtmäßigkeit von Verordnungen und Gesetzen der Regierung wacht, noch weitere solche Eingaben erwarten: Amnesty, die Menschenrechtsorganisation Ligue des droits de l’homme, Anwaltsverbände und Gewerkschaften haben entsprechende Schritte angekündigt.

In den französischen Medien reift Edvige (Exploitation documentaire et valorisation de l’information générale) indessen vom Nachrichtenseiten-Mauerblümchen zum Thema auf den vorderen Seiten. Die Online-Petition zur Abschaffung von Edvige zählt nun bereits über 51.000 Unterzeichner, darunter 495 Organisationen – Verbände, Gewerkschaften und Parteien. Kein Wunder, dass mit der gestiegenen Aufmerksamkeit für Edvige nun auch die anderen ebenso wohlklingenden Datenbanken neu besichtigt werden: Cristina und Ardoise.

Cristina könnte man als die geheime Schwesterdatenbank von Edvige bezeichnen, die im Schatten von Edvige steht. Es sei beinahe so, als ob die Datenbank Cristina (Centralisation du renseignement intérieur pour la sécurité du territoire et les intérêts nationaux) gar nicht existiert, schreibt Le Monde. Sie wachse ohne jeden Widerstand, obwohl sie auch noch die Daten über Freunde und Bekannte und die Art der Beziehung zu ihnen enthalte. Cristina ist die Top-Secret- Datenbank des neu reformierten Geheimdienstes.

Man kann das Erstaunen von Innenministerin Michèle Alliot-Marie über die Proteste gegen Edvige teilweise nachvollziehen. Zwar nicht dort, wo es um Inhalte der Datenbanken geht, etwa dass sexuelle Vorlieben über Hintertüren in die Datenbank aufgenommen werden, was Lesben- und Schwulenorganisationen neue Diskriminierung befürchten lässt. Aber an der Stelle, wo sich die Ministerin über die plötzliche Aufregung wundert. Denn eigentlich sind beide Datenbanken Fortführungen von Datenerfassungssystemen, die schon seit Jahren sensible Informationen über Bürger sammeln[1].

Stärkung der Exekutivgewalt

Edvige und Cristina sind Folgen der Reform der Geheimdienste im letzten Jahr. Demnach also eine Konsequenz mit einiger Logik, so könnte man das Erstaunen der Ministerin über die neu entflammten Proteste gegen Edvige auch verstehen. Man vernachlässigt dabei aber, dass auch die Geheimdienstreform kein größeres Interesse der Öffentlichkeit gefunden hat. Niemand, die Presse eingeschlossen, interessierte sich nach einem Bericht des unabhängigen Journalistenkollektivs Rue89 sonderlich dafür, welche Ziele die Regierung mit der Reform verfolgt.

Etwa dass im Namen des Anti-Terror-Kampfes die Kompetenzen der Exekutive zuungunsten der judikativen Gewalt (deren besonnenes Wirken, so der Kommentar von Rue89, bis dato die Besonderheit des französischen Kampfes gegen den Terror ausgemacht hatte) ausgebaut wurden. Und dass insbesondere der Aufklärung und damit den Geheimdiensten neues Gewicht im Kampf gegen den Terrorismus verliehen wurde, um zugleich aber deren traditionelle Arbeitsgebiete wie der Kampf gegen organisierte Kriminalität und Wirtschaftsverbrechen eine nachrangige Stellung in der Agenda zu verleihen. Innere Sicherheit ist die neue Top-Priorität, dass sich Sarkozy gut mit der Bush-Regierung versteht und sich gerne an deren Seite stellt, komplettiert das Bild nur.

Die alte Geheimdienstorganisation RG (Renseignement généraux) wurde aufgelöst, eine neu formierte Unterabteilung (SDIG) ist nun für Edvige zuständig. Und die Abteilung, die den anderen Teil des RG mit der ehemaligen DST (Diréction de la Surveillance du Territoire) verschmolz, um für den Anti-Terror-Kampf besser gerüstet zu sein, für Cristina. Informationen der Le Monde legen nahe, dass in den entsprechenden Vorläufer-Datenbanken, die in der Hand des RG waren, schon beinahe alles enthalten war, was jetzt für Entrüstung sorgt.

Als konkretes Beispiel nennt die Zeitung die Erfassung von Daten Minderjähriger. Was bei Edvige für Aufregung sorgt, war schon bei den Akten des RG Praxis. "Der Wahnsinn der Datensammler spart auch die Minderjährigen nicht aus", mit diesem Spruch zitiert Le Monde die Behörden-Gewerkschaft Syndicat de la Magistrature aus dem Jahre 2007.

Ardoise auf Eis

Möglich ist es schon, dass der Widerstand gegen Edvige Sand in die kontinuierlich laufende Datensammler-Maschine streut. Wie das Beispiel der Polizeidatenbank Ardoise zeigt, können Proteste Erfolg haben. Die Innenministerin hat das entsprechende Programm nach Protesten im April auf Eis gelegt, im September wird sein weiteres Schicksal vor Gericht verhandelt, die Datenschützer von CNIL (Commission national de l’informatique et des libertés) sollen sich dort dazu äußern. Ardoise sollte ein früheres Informationserfassungssystem der Polizei ersetzen, das Daten über Personen erfasst, die einer polizeilichen Untersuchung verwickelt sind, nicht nur mutmaßliche Täter, sondern auch Opfer und Zeugen. Als über Polizisten bekannt wurde, dass die Masken von Ardoise Fragen nach der sexuellen Orientierung enthielten, nach Beziehungen zu Prostituierten, psychischen Störungen, Drogengebrauch und Gewerkschaftszugehörigkeit, war auch die Polizeigewerkschaft beunruhigt.

Source: http://www.telepolis.de