Anderthalb Stunden für vermummte Brandstifter

[heise.de] Bernard Schmid. Proteste gegen den Jubiläumsgipfel der NATO – "Strategie der
Spannung" in Straßburg: Die Masse der Demonstrierenden angreifen und
die Polit-Hooligans ungestört ihr Werk verrichten lassen

Die Einwohner/innen der Elsassmetropole Strasbourg waren vergangene
Woche, anlässlich des Jubiläumsgipfels der NATO in ihrer Stadt, einer
regelrechten Belagerungssituation unterworfen. Die Polizei erprobte
offenkundig eine Form der "Strategie der Spannung": die Verrücktesten
unter den "Randalierern" und Polit-Hooligans ungestört ihr Werk
verrichten lassen und zur selben Zeit die Masse der Demonstrierenden
angreifen! Die Demo litt zudem an einem seriösen Mangel, nämlich den an
einem tauglichen Ordnungsdienst, u.a. wohl aufgrund der schwachen
Präsenz der französischen Gewerkschaften. Während mehrere Gebäude
(äußerst sinnlos) in Flammen aufgingen, warfen die "Sicherheits"kräfte
von Hubschraubern aus Tränengas in die Menge. Auflösungserscheinungen
und Chaos prägten zeitweise die Demonstration. Die Berichterstattung am
Tag danach wird durch die "Gewalt"frage dominiert…

Samstag, o4. April 2009. Um die Mittagszeit erfahren
wir im Stadtzentrum von Strasbourg: Keine öffentlichen Verkehrsmittel
fahren heute! Eine der vielen Auflagen und Schikanen, die in den
letzten Tagen die Einwohner/innen der ostfranzösischen Metropole ebenso
wie die Zugereisten treffen: Nach dem Aussetzen aller Zugverbindungen
von und nach Deutschland (stattdessen verkehren Ersatzbusse, die aber
durch die Polizeikräfte nach Belieben aufgehalten werden) in den
letzten 48 Stunden, der Einrichtung von No-Go-Areas in Gestalt der so
genannten "roten" und "orangefarbenen" Zonen ist dies nur ein weiteres
Glied in einer Kette wahnwitziger "Sicherheits"massnahmen.

Die Militarisierung der Stadt

Von 40.000 Einwohner/inne/n der farblich markierten Zonen wurden
zahllose personenbezogene Daten erhoben, einige von ihnen durften ihre
Wohnung nicht ohne einen telefonischen Anruf bei den
"Sicherheits"organen und nur mit triftiger Begründung verlassen.
Mehrere Bewohner in höheren Stockwerken gelegener Wohnungen mussten
diese gar ganz räumen, um dort positionierten Scharfschützen Platz zu
machen. Überwachungskameras wurden zu Hauf‘ installiert und rund 40.000
Polizisten, deutsche und französische, mobilisiert. Der in Strasbourg
lehrende Hochschulprofessor für Soziologie, Roland Pfefferkorn,
übertitelte einen Beitrag für die südfranzösische kommunistische
Wochenzeitung ‚La Marseillaise‘ – der diesen Donnerstag erscheinen wird
– deshalb: "Eine Stadt als Geisel genommen."

Für eine Dauer von 14 Tagen wurde das
Schengen-Abkommen (zum freien Personenverkehr innerhalb der EU,
zwischen den Beitrittsländern zu dem Abkommen) ausser Kraft gesetzt, um
wieder Personenkontrollen an der deutsch-französischen Grenze
durchführen zu können – ähnlich wie etwa beim EU-Gipfel im Dezember
2000 in Nizza an der französisch/italienischen Grenze. Ein deutsches
Demonstrantenpäarchen aus Konstanz erzählt mir, die beiden hätten einen
Umweg von über 100 Kilometer über Freiburg und Colmar fahren müssen, um
sich Strasbourg und Colmar nähern zu können:

Beim ersten Anlauf wurden wir aufgehalten, nicht
durchgelassen und nach Hause geschickt. Wir hatten eine dritte Person
im Auto, die angeblich wegen ‚Gewalt gegen die Polizei‘ in den
Polizeidateien gespeichert war. Alles Unfug, der Mensch wartet
lediglich auf ein Bagatellverfahren wegen einer harmlosen Rangelei, in
die er verwickelt wurde: Die Polizei kam hinzu, als er versuchte, sein
eigenes Fahrrad zu "stehlen", weil er den Schlüssel verloren hatte –
was die Beamten nicht unmittelbar einsehen konnten. Die ganze Sache
wird sich alsbald aufklären. Aber wir mussten deshalb nach Konstanz
zurückfahren und zu zweit wieder losfahren, um letztendlich über einen
riesigen Umweg nach Strasbourg zu gelangen…

Später erfahre ich über Freunde in Köln, dass ein ganzer Sonderzug aus
NRW nicht durchkam und alle Insassen an der Grenze abgewiesen worden
seien. 6.000 Demonstrierwillige aus Deutschland seien in Kehl blockiert
worden.

Rauchsäulen am Horizont

Die Hoffnung, an diesem Samstagmittag mit der
Strassenbahn zur Endhaltestelle Aristide-Briant fahren und von dort in
circa 20 Minuten zum Auftakt der Großdemonstration an diesem Nachmittag
gegen den NATO-Gipfel laufen zu können, hat sich also nicht erfüllt. Es
bleibt nur, dorthin zu gehen, denn ein Taxi käme laut Auskunft auf 15
bis 20 Euro – das kommt nicht in die Tüte. Zudem dürfen auch Taxis nur
eingeschränkt verkehren. Die Europabrücke zwischen Strasbourg und Kehl
(auf der französischen bzw. deutschen Seite), wo die Großdemonstration
um 15 Uhr loslaufen soll, ist rund sieben Kilometer entfernt.

Wir gehen also los. Begleitet von einer kubanischen
Journalistin, befinde ich mich in einem Pulk von Leuten, die auch aus
Paris angereist sind; ungefähr zur Hälfte handelt es sich um Mitglieder
Union syndicale Solidaires (SUD-Gewerkschaften), unter ihnen der
prominent gewordene "Globalisierungskritiker" und Sozialaktivist
Christophe Aguitton. Zur anderen Hälfte handelt es sich um Angehörige
des ‚Mouvement de la paix‘ (Bewegung für den Frieden), die historisch
in der Zeit des Kalten Krieges besonders stark war und sich aus
KP-Mitgliedern und –Sympathisanten, aber auch christlichen Aktivisten
zusammensetzt. Die Leute vom ‚Mouvement de la paix‘ sind eher mittleren
und höheren Alters, ertragen aber die Strapazen des beginnenden
Fußmarschs erstaunlich gut.

Nach fast einer Stunde Fußweg bei 20 Wärmegraden –
einen von Grün umsäumten Rheinarm entlang, an zahllosen Spaziergängern
und Fahrradfahrern vorbei, aber auch an abgestellten Autos, die
Anreisende von Zentralfrankreich bis nach Frankfurt am Main verraten –
erreichen wir das Quartier Neudorf. Eine ganz hübsche, angenehme
Wohngegend eigentlich, nicht protzig wohlhabend wie manche andere Teile
von Strasbourg, aber auch nicht heruntergekommen, voll von kleinen
Läden und Kneipen. Die Zahl der herbeiströmenden Demonstranten wächst,
nunmehr überwiegen – zeitweilig – zum ersten Mal die offenkundig aus
Deutschland kommenden Menschen. Eine Reihe von Leuten tragen schwarze
Pappschilder mit der Aufschrift "Nein zur NATO", unterzeichnet: "Die
Linke". Andere tragen Transparente von deutsch-türkischen (oder
–kurdischen) Organisationen. Ich begegne auch drei Menschen, die ich
von der Vorbereitung der Antimilitarismustagung im Oktober vorigen
Jahres im Berliner Mehringhof kenne. Dann ist der größere Pulk
deutschsprachiger Demonstranten vorübergezogen, und gleichzeitig
beginnt der Himmel sich zu verfinstern.

Dicke, allmählich stinkende Säule am Horizont

Seit längerem sehen wir am Horizont Rauch aufsteigen,
von dem wir erst nicht wussten, ob er mit dem heutigen
Mobilisierungstermin und der Demo irgend etwas zu tun. Jetzt aber
verdichtet der Rauch sich zu einer dicken, allmählich stinkenden Säule
am Horizont. Da niemand etwas darüber weiss, auch die befragten
Anwohner nicht, hole ich mir telefonisch Auskunft bei Menschen, die zu
Hause in Paris am Computer sitzen. Google News hilft: "Gewalttätige
Demonstranten", wird mir vorgelesen, "haben sich an die Spitze gesetzt und hauen alles kaputt. Was da brennt, ist ein Zollhaus zwischen Deutschland und Frankreich."
– laut der Homepage des Kabelfernsehsenders LCI. Ein Zollhaus?
Mutmaßlich ein altes, vielleicht leer stehendes, vermute ich (übrigens
richtig), denn im Prinzip gibt es ja gar keine Grenzkontrollen mehr.
Außer eben an Tagen wie diesem…

Ich rufe noch weitere Menschen an, auch solche, die
vor einem deutschen Radio oder Fernsehgerät sitzen könnten, mir aber
auch keine nähere Auskunft zu erteilen vermögen. Einen der Umstehenden
höre ich etwas von einem "Hotel Ibis" sagen, das da brennt, kann es
aber nicht zuordnen. Wir schreiben etwa 14.30 bis 14.45 Uhr. Der Rauch
steht inzwischen schwarz über uns und verhängt fast den ganzen Himmel,
er weht von der Seite der "Europabrücke" und der Grenze her zu uns
herüber. Die Entfernung dorthin beträgt laut Ortskundigen rund zwei
Kilometer. Um uns herum stehen zahlreiche Polizeibusse, ein Räumpanzer
und mit Schilden bewehrte Einheiten. Ein wenig weiter weg stehen
Jugendliche aus dem Stadtteil – Neudorf -, ein paar spielen dicht
hinter der Szene in einem Straßengraben Fußball, andere beobachten
neugierig die Szene.

Es sieht nach einer Mausefalle aus

Wir gehen ein Stückchen weiter, wo die Auffahrt zu
einer Brücke beginnt. Es ist noch nicht die Europabrücke, sondern jene
Brücke, die in das alte Hafengebiet von Strasbourg führt – das auf
einer von Rheinarmen umgebenen Insel liegt. Jenseits dessen liegt der
Grenzübergang in Richtung Kehl. Der Rauch wird beissend und erschwert
allmählich das Atmen. Die umstehenden Leute meinen, er sei mit
Tränengas durchmischt, einige waschen sich die Augen aus. Ein
Handverkäufer der Tageszeitung ‚junge Welt‘, ein wohl über 50jähriger
mit bayerischem Akzent, meint zu uns:

Was da brennt, sind Computer in einem
Fremdenverkehrsbüro, die brennen lange. Daher der ganze schwarze Rauch,
der sich aus dem Plastik entwickelt.

Auf seiner Höhe stoßen wir auf eine Reihe der französischen
Bereitschaftspolizei (CRS), die quer über die Strasse zur Brücke
aufgestellt ist. Sie hindern uns nicht am Weitergehen, aber bedeuten
uns, daß wir die dahinter liegende Zone "auf eigene Gefahr betreten. Jetzt müsst Ihr Euch entscheiden, ob Ihr vorwärts oder zurück wollt, wir machen hier nämlich zu."
Es sieht nach einer Mausefalle aus. Nach kurzem Zögern entscheiden wir
uns dennoch, weiterzugehen. Einige Demonstranten bleiben zwar zurück,
aber viele gehen ebenfalls noch durch die Absperrung, bevor diese auf
ein Tor verengt und dann abgeriegelt wird. Wir sehen und hören direkt
hinter uns Polizisten, die mit schweren Hämmern Absperrgitter mit
Riegeln auf den Asphalt rammen und befestigen. Zunächst lassen sie noch
eine schmale Öffnung frei. Ständig kreisen zwei, später dann vier
Helikopter über unseren Köpfen.

Es ist vielleicht 15 Uhr, und die Situation lässt
sich nur mit den Vokabeln "Ungewissheit" und "Nervosität" beschreiben.
Wir gehen über die Brücke geradeaus weiter, in Richtung auf die
schwarze Rauchsäule zu, die inzwischen aus zwei unterscheidbaren
dunklen Kolonnen besteht. Nach einigen hundert Metern und während es
bergab auf die Inselfläche geht, sehen wir in kurzer Entfernung von uns
eine Demonstration auf uns zulaufen. Zunächst einen kurzen Abschnitt,
aus dem dann ein immer längerer Bandwurm wird.

Sie läuft uns entgegen und biegt dann, von uns aus gesehen, nach links
ein. Eigentlich, ja eigentlich hätte zu diesem Zeitpunkt hier gar keine
Demonstration entlang laufen sollen. Aber wir erhalten rasch
Aufklärung, als wir inmitten der ziemlich durcheinander laufenden
Demonstrantenmenge Alain B., einen befreundeten marxistischen
Philosophielehrer aus dem Elsass, begegnen. Alain erzählt uns:

Die Menge, die zur Auftaktkundgebung erschienen war,
wartete am Fusse der Europabrücke auf die Demonstration. Dort war eine
Rednertribüne aufgebaut. Doch als es sichtbar zu brennen anfing, wurde
die Menge angegriffen und mit Tränengas beworfen. Daraufhin setzte sich
der Demozug in Bewegung, viel zu früh und in entgegengesetzter
Richtung, als ursprünglich geplant war. Zum Glück wurde ein heftiger
Zusammenstoß vermieden. Das hatte böse ins Auge gehen könne: Die Menge
lief plötzlich auf eine CRS-Einheit zu, die zu dem Zeitpunkt überhaupt
nicht mit ihrem Auftauchen gerechnet hatte. Die Männer saßen in den
Mannschaftsbussen und ahnten zuvor nicht, daß es gleich losgehen würde.
Sie hätten auch mit Panik reagieren, und das Ganze hätte übel enden
können. Ein Glück, daß diese Abteilung einen Kommandanten hatte, der
ruhig Blut bewahrte und die Situation rettete: Er stellte für jeden
Mannschaftsbus einen Mann, mit Knüppel bewaffnet, nach draußen ab und
ließ die übrigen in den Fahrzeugen sitzen. Wir konnten ruhig an ihnen
vorbeiziehen. Aber das hätte auch ganz anders verlaufen können…

Andere Zeugen berichten später übereinstimmend, dass
die Menge zuvor unterhalb der Europabrücke attackiert und deshalb
überstürzt aufgebrochen war. Renée Le M., ein Mitglied im vierköpfigen
Vorsitzendenkolleg der Antirassismusbewegung MRAP – einer größeren
französischen NGO – berichtet, sie habe sich zu diesem Zeitpunkt in der
Nähe der Rednertribüne unterhalb der Europabrücke befunden:

Ich war in der Nähe der Leute vom ‚Mouvement de la Paix‘,
die nun wirklich als "ungefährlich" eingestuft werden können. Zunächst
rasten ungefähr zehn CRS-Mannschaftsbusse in Gegenrichtung zur
Aufstellungsrichtung der Menge, mit Blaulicht und in
Hochgeschwindigkeit, quer durch die Menge. Die Busse waren leer bzw.
mit nur einem Mann besetzt, fuhren also offenbar nicht zu einem
Einsatz. Dann kam es zu verstärkten Angriffen. Aus Helikoptern wurden
Tränengasgranaten auf uns abgeworfen. Die Leute flüchteten in Panik.

Im Hafenviertel

Die Demo ist bunt gemischt: kongolesische Opponenten, die gegen die
Beteiligung der westlichen Grossmächte an Kriegen und Massakern in
ihrem Land protestieren; Studierendenverbände; die deutsche Partei DIE
LINKE; die französische "Neue Antikapitalistische Partei" (der NPA);
vereinzelte Grüne; die Frauenorganisation "Egalité"… Einige Menschen
von ATTAC, andere mit fantasievoll selbst entworfenen Schildern und
Transparenten. Eine im Elsaß ansässige, marxistisch-leninistische
Gruppe verbreitet ein Flugblatt, auf dem Männer in SS-Uniform zu sehen
sind, mit der Aufschrift: "Verpflichte Dich… für Afghanistan". Ich
finde den historischen Vergleich daneben und die SS verharmlosend,
stecke die Papiererzeugnisse aber schweigend ein. In dem hektischen Zug
sind die Transparente nur zum Teil entrollt, nicht alle sind gut
lesbar.

Der Demozug macht einen Knick, wendet sich um 90 Grad und führt quer
über die Hafeninsel. Vorbei an einem auffälligen alten Postamt, das
noch aus der Bismarck-Ära stammt (als Strasbourg/Strassburg zum
Deutschen Reich gehörte) und von einem schönen Turm verziert wird, und
einer zugemauerten alten Bierkneipe. Man erkennt diese Örtlichkeiten
vom Zugfenster aus, wenn man von Strasbourg nach Süddeutschland fährt.
Nach vielleicht einem knappen Kilometer kommt der Zug wieder zum
Stehen. Wir sind fast auf der anderen Seite der Hafeninsel. Rechts vor
uns ist inzwischen erkennbar eine unterscheidbare graue Rauchsäule,
unabhängig vom schwarz hervorquellenden Qualm etwas weiter links im
Hintergrund, auszumachen. Wie sich alsbald herausstellen wird, handelt
es sich um das Ibis-Hotel im Hafenviertel, das brennt.

Vorne befindet sich ein Lautsprecherwagen der CGT,
einige der wenigen Manifestationen gewerkschaftlicher Präsenz in der
Demo, wenn man von den kleinen Gruppen der SUD-Gewerkschaften und
einigen Angehörigen der FSU (grösste Lehrergewerkschaft) absieht.
Generell hatten die meisten französischen Gewerkschaftsverbände es im
Vorfeld verweigert, den Aufruf von 60 Organisationen zum Protest gegen
den NATO-Gipfel zu unterzeichnen, und die CGT hatte ihre anfänglich
scheinbar gegebene (aber auf einem Missverständnis beruhende)
Unterschrift sogar zurückgezogen. "Zu unmittelbar politisch." Örtlich
sieht es aber oftmals anders aus, wo engagierte Gewerkschafter/innen
tätig sind.

Vorrücken oder nicht?

Der Demozug kommt zum Stehen, für längere Zeit.
Zusammen mit der kubanischen Journalistin hatte ich mich
zwischenzeitlich bis an die Spitze nach vorne durchgearbeitet. Mehrere
mit Schilden ausgestattete CRS-Einheiten versperren die Route. Eine
Delegation der Organisatoren und, anscheinend, der CGT führt kurze
Gespräche mit der Einsatzleitung, die daraufhin ankündigt, ihre Kräfte
von der Stelle zurückzuziehen und die Route für die Demonstration zu
öffnen. Es dauert einige Minuten.

Ein vielleicht 55- oder 60jähriger, beleibter Mann – offenkundig ein
Demonstrant – tritt vom Trottoir auf der Seite her auf die Strasse,
baut sich in ihrer Mitte unmittelbar vor den Polizisten auf und zieht
sich splitternackt aus. Seine Klamotten und Schuhe behält er in der
Hand. Die vorderen Reihen applaudieren, er tritt wieder zur Seite. Nach
kurzer Zeit geht der Demonstrationszug weiter, die Mannschaftsbusse der
CRS ziehen sich tatsächlich zurück. Aber nur um etwa 200 Meter. Danach
kommt der Zug wieder ins Stocken und alsbald zum Stehen.

Wir sehen nicht weit vor uns eine Eisenbahnlinie und
eine Brücke mit einer sehr kleinen Unterführung, auf ihr sind
CRS-Einheiten stationiert. Dahinter sind nach kurzer Zeit deutlich
erkennbare Löscharbeiten zu beobachten: Man sieht einzelne
Feuerwehrleute aus ihren Schläuchen einen Wasserstrahl auf das
gräulichen Qualm entwickelnde, ausbrennende Hotel spritzen. Wie sich
nachher auf der anderen Seite der Brücke herausstellt, sieht man von
hier aus nur jeweils den Feuerwehrmann, der auf der Spitze der Leiter
auf der Höhe des fünften (und obersten) Stockwerks des Hotels steht.

Vermummte Brandstifter am Werk

In Pressemeldungen wird es später heissen, dieses
Hotel habe ab circa 14.30 Uhr in Flammen gestanden, was sich ungefähr
mit dem Zeitpunkt deckt, als ich unter den sich sammelnden
Demonstrationsteilnehmern erstmals die Worte "Hotel Ibis" aussprechen
hörte. Was aber auch bedeutet, wie mein Strasbourger Freund Roland
kalkuliert, "daß in dem Hafenviertel mindestens anderthalb Stunden vergangen sind, ohne dass irgendwelche Ordnungshüter eingegriffen hätten".
Er hatte sich zufällig um die Mittagszeit – beim Warten auf eine
Verabredung – in räumlicher Nähe jener Gruppen von einigen Dutzend
Schwarzvermummten befunden, die darauf und dran gingen, Feuer zu legen;
bevor er es vorzog, sich (laut eigenen Worten mit dem Gedanken "Das
wird übel enden" im Kopf) rasch zu entfernen. Roland meint, er habe die
Schwarzvermummten überwiegend Deutsch sprechen hören. –

Anderthalb Stunden lang hatten vermummte Brandstifter, ob es sich nun
um sich selbst für geniale Rrrrrevolutionäre handelnde Menschen,
Autonome oder aber (wie manche Anwesenden alsbald mutmassen) um
bezahlte oder unbezahlte Provokateure oder sonst wen handeln möge, in
aller Ruhe im Hafenviertel schalten und walten können.

Die Stadt ist mit Polizei überzogen, es befinden sich rund 40.000
Beamte, sieben Helikopter, sechs Aufklärungsflugzeuge vom Typ AWACS,
französische CRS-Einheiten mit CS-Gaspatronen und
Gummigeschossgewehren, deutsche Wasserwerfer (mit Aufschrift "H III")
undundund… im Einsatz. All dieses Arsenal bekommen wir im Laufe
dieses Samstag Nachmittag noch zu sehen.

"Heute haben wir es ihnen aber gezeigt!"

Die These von den "bezahlten oder objektiven
Provokateuren" wird alsbald die Runde machen. Doch man sollte mit
solchen Mutmassungen äußerst vorsichtig sein, zumal sie in der jüngeren
Geschichte gar zu oft angestellt wurden – auch beispielsweise
(chronisch) durch die französische oder italienische KP in der
Vergangenheit, wenn es darum ging, links von ihnen stehende und
radikaler agierende Kräfte blitzschnell als "Agenten der Bourgeoisie"
abzuqualifizieren. Insofern hat die Provokateursthese eine ungute
historische Tradition.

Allein, es GIBT tatsächlich Provokationen und Provokateure, und
bisweilen ergibt dies ja aus Sicht eines Sicherheits- und
Repressionsapparats ja auch Sinn. Auch ohne bewusst als solche
handelnde ‚Agents provocateurs‘ scheint es aber in dieser Demo Menschen
gegeben zu haben, die ein solches Agieren befürworteten und "klasse"
fanden. Kurz bevor die Demo auf der Insel zum Stehen kommt, spricht ein
kleinwüchsiger, sehr junger Mann mich an. Er spricht Französisch, und
ist vor Freude scheinbar ausser sich:

"Heute haben wir es ihnen aber gezeigt! Sie wollten uns an der
Bewegungsfreiheit hindern, und die Deutschen nicht herüberlassen. In
ihrem Rücken (Anm.: auf der französischen Seite der Grenze) haben wir
angefangen, es lodern zu lassen. Das Zollhaus, undund. Drei
Mannschaftsbusse haben wir abfackeln können, die drei letzten, als sie
an uns vorüber fuhren. Davon reden sie nicht so viel im Radio. Jetzt
spielen sie sich nicht mehr so stolz auf (französischer O-Ton:
maintenant, ils font moins les fiers)!"

Ich höre ihn mir nur kurz an, nicke kurz, und wende
mich dann ab. Ein falsches "Trittbrettfahrer"bekenntnis, oder Hinweis
auf reales Agieren von Leuten, die sich für radikal hielten? Man wird
es nicht so schnell erfahren.

"Verräter, Kollaborateure"

An dieser Stelle kommt der Demozug für längere Zeit
zum Halten, es ist 16 Uhr. Auf dem Lautsprecherwagen der CGT, der ganz
vorne zum Stehen kam, werden verschiedene Durchsagen getätigt. Man
lässt eine Bewohnerin des Stadtviertels zu Wort kommen, die selbst die
Demonstration unterstützt, aber die im Hafenviertel angerichteten
Verwüstungen mitbekommen hat.

"Ich bin eine der Euren! Aber ich halte es für keine gute
Idee, jetzt unmittelbar mit dem Demozug durch das Viertel (hinter der
Brücke) zu ziehen. Besser wäre es, wenn erst eine Delegation mit den
Bewohnern sprechen würde. Dort drüben liegt eines der ärmsten
Stadtteile von Strasbourg, der lange Zeit durch die Stadtverwaltungen
systematisch vernachlässigt worden ist. Die Leute dort sind nicht gegen
die Demonstration, aber sie sind aufgebracht wegen dem, was heute
Mittag passierte. Das Feuer aus dem brennenden Hotel drohte auf andere
Gebäude überzugreifen. Ein Nachbarhaus musste mit all seinen Bewohnern
evakuiert werden. Wir betonen, daß wir die ersten Löscharbeiten und
Evakuierungsmassnahmen alle selbst durchführen mussten: Wir, Einwohner
und Kommunalpolitiker aus dem Viertel. Die Feuerwehr benötigte unnormal
lange, um zum Löschen anzurücken. Eine halbe Stunde lang, nachdem sie
gerufen worden war, passierte gar nichts!"

Es wechseln sich daraufhin einige andere Durchsagen ab, auf
Französisch, aber auch übersetzt auf Englisch und von wechselnden
Leuten – darunter auch dem Verf. dieser Zeilen – auf Deutsch. Emissäre,
die nach vorne losgeschickt worden sind, berichten, die Polizei habe
angeordnet, die Straße vor uns (d.h. hinter der Eisenbahnbrücke) sei
noch nicht passierbar, da die Feuerwehr noch mit Löscharbeiten
beschäftigt sei. Tatsächlich kann man diese noch immer beobachten, und
dichter grauen Qualm steigt weiterhin aus dem fünfstöckigen Hotel auf.

Aus dem Lautsprecherwagen wird einerseits die Polizei dazu
aufgefordert, die Demo durchzulassen, andererseits aber auch zur
Bildung von Ketten im vorderen Teil des Zuges, um verantwortungslose
Handlungen zu verhindern: "Macht Eure Polizei selbst!" Aber aus der
Menge dahinter ertönen Rufe, die diese Aufforderung als Akt von
Verrätern einstufen. Man hört unter anderem: "Collabos! Collabos!"
(Kollaborateure) Die Polizei hatte lt. Lautsprecherdurchsage zunächst
von "fünf Minuten" gesprochen, aber die Zeit zieht sich in die Länge.

Lauft nicht in die Falle!

Auf der rechten Seite, in Zugrichtung, kommt es zu einem heftigen
Gerangel: Auf dieser Demohälfte versucht eine Gruppe von Halbvermummten
den Durchbruch. Sie schimpft auf "Kollaborateure der Polizei" und
versucht die vorderen Reihen, wo sich inzwischen eine doppelte Kette
gebildet hat, zu durchstoßen. Es kommt zu einem minutenlangen heftigen
Gerangel. An den direkt darüber gelegenen Fenstern werden die Rollläden
dicht verschlossen. Einige Meter weiter ringt und kämpft ein mediterran
aussehender Mann, irgendwo im Alter zwischen 30 und 40, mit einem
blauen Fußballschal mit mehreren Menschen, die wie Landsleute von ihm
wirken. Seine Tasche wird dabei ramponiert. Daraufhin frage ich ihn,
was denn los gewesen sei. In Französisch mit Akzent empört er sich
darüber, daß man ihn und Andere daran hindere, durchzukommen und
weiterzulaufen.

Die Zeit zieht sich noch weiter in die Länge, die
angekündigten "fünf Minuten" werden utopisch. Vom Lautsprecherwagen aus
wird davor gewarnt, weiterzumarschieren:

Ihr wisst nicht, was Euch hinter der Eisenbahnlinie erwartet! Dahinter stehen massive CRS-Einheiten! Lauft nicht in die Falle!

Die Beamten hatten sich zwar von der Höhe der
Eisenbahnlinie zurückgezogen, stehen aber offenkundig dahinter
stationiert. Da der Weg dorthin aber eigentlich frei ist, beschliesse
ich zusammen mit der kubanischen Journalistin, dort hinüber zu gehen.
Wir laufen durch die Unterführung, wo mehrere dick vermummte junge
Leuten auf den Stangen an der Strassenseite sitzen, und kommen in eine
schmale Straße.

Diese gehört offenkundig zu den ärmsten Straßenzügen, die Strasbourg
aufweist – in Paris würde man eine solche Gegend nicht im Stadtgebiet,
sondern in einer der Trabantenstädte (Banlieues) wie La Courneuve
vorfinden, aber im Unterschied zur Hauptstadt werden die
Unterklasssenviertel in Strasbourg zum Stadtterritorium hinzugerechnet.
Am Anfang der Straße liegen ein arabisches Restaurant – ‚La Medina‘ –
und kleinere Häuser, aus deren Fenstern offenkundig nordafrikanische
Frauen (mit oder ohne Kopftuch) und Männer schauen. Dahinter liegen
mehrere niedrige, kurze Plattenbauten – und das brennende Ibis-Hotel,
das wir nun unmittelbar sehen können, in vielleicht 200 Metern
Entfernung. Es lässt sich vielleicht 30 Meter in die Straße
hineingehen, dann stößt man auf Absperrgitter, dahinter stehen
CRS-Polizisten.

Tränengas, Steine, Wurfgeschosse

Von hinten her drängen zunehmend Leute nach. Leute,
die offenkundig zu verschiedenen Organisationen (darunter die
Lehrergewerkschaft FSU) gehören, rufen mit drängender Stimme dazu auf,
im vorderen Bereich eine Kette zu bilden. Ich reihe mich spontan ein
oder werde eingereiht. Aber von hinten her wächst der Druck. Nun
fliegen von der Bahnlinie, die 30 Meter hinter uns liegt, Steine und
Wurfgeschosse. Sie werden auf die Absperrgitter der Polizei geworfen,
gehen aber zum größeren Teil im vordersten Bereich der Demo nieder und
drohen uns zu treffen. Wir rufen "Non", aber es fliegen weitere Steine,
faustgroße Teile aus dem Bahnschotter.

Ein CRS-Mann zieht daraufhin eine Tränen- oder Pfeffergasgranate und
wirft sie in Richtung auf die Bahngeleise, wo einige Vermummte hin- und
herlaufen. Aber der Luftstrom oder leichte Wind treibt das grünliche
beissende Gas, das offenkundig schwerer ist als Luft, sofort zu uns
herunter. In den vordersten Reihen bekommen wir eine geballte Ladung
ab. Ich greife zu meiner Wasserflasche und muss mir die Augen
ausspülen, für kurze Zeit bin ich außer Gefecht gesetzt.

Mehrere Leute, die etwas abbekommen haben, bitten an
der CRS-Absperrung um Durchlass, die zunächst verweigert wird. Aber ein
auf der Seite stehender Beamter (der selbst unter dem Helm mit der
Wirkung des Gases zu kämpfen hat) bedeutet ihnen, dass er die
Verantwortung übernimmt, einige Leute durchzulassen, die etwas
abbekommen hatten. Ich schlüpfe mit durch und befinde mich nun auf der
anderen Seite, entfernt von der Demo, in der kleinen Straße.

Das Hotel lichterloh in Flammen

Dort werde ich Zeuge, wie das Hotel in den oberen Etagen lichterloh in
Flammen steht, im unteren Bereich ist es bereits vollständig
ausgebrannt. Die Feuerwehr ist immer noch am Löschen. Ich sehe eine
Reihe von Menschen aus dem Stadtteil herumstehen, jüngere und ältere
Menschen, Französisch mit elsässischem Akzent sprechende "Ureinwohner"
und Personen aus maghrebinische Familien. Die Bevölkerung ist
offenkundig sehr jung und gehört zu den "sehr einfachen Leuten", in
Paris würde man sie als Banlieuebewohner einstufen.

Auf meine Bitte, meine Wasserflasche aufzufüllen, geht eine Frau in ihr
Haus und holt mir bereitwillig Wasser. Ich frage, was denn mit dem
Hotel passiert sei. Ob Molotow-Cocktails hineingeworfen wurden?

"Nein, da waren Typen mit Benzinkanistern zu
Gange. Sie haben Benzin hineingeschüttet und es in Brand gesteckt. Und
nicht nur das Hotel, auch unsere Apotheke in dieser Strasse hat
gebrannt! Auch das Tierschutzheim (SPA) hat etwas abbekommen"
,
meinen zwei junge Mädchen. Trotz meines Aufklebers von der ‚Union
syndicale Solidaires‘, der mich eigentlich als Demonstrant verrät,
spüre ich keinerlei Feindseligkeit. Aber die Anwohner sind konsterniert
über das Handeln der ‚casseurs‘ (Kaputtmacher), wie "Randalierer" im
Französischen bezeichnet werden – in den 70er Jahren hiess der damalige
Landfriedensbruchparagraph in Frankreich ‚Loi Anti-Casseurs‘.

Mir nichts, Dir nichts Feuer gelegt

Ich frage die Leute, ob sie die ‚casseurs‘ am Werk gesehen hätten.
Jaja, meint ein junges Mädchen, da seien einige vermummte Menschen
vorbeigekommen. Sie hätten die Frage, ob sie etwas mit der
Demonstration zu tun haben, bejaht. "Aber dann haben sie mir nichts,
Dir nichts Feuer gelegt." Viele sprachen Deutsch, aber einige auch
Französisch, es könnten dem Vernehmen nach auch andere Nationalitäten
darunter gewesen sein. Eine daneben stehende Frau meint:

Gestern abend war ich genau hier in der Gegend, da sah
ich ein Auto mit seltsamen Leuten an Bord kommen. Es war ein Auto mit
deutschem Kennzeichen, es hatte Männer mit äußerst kurzen Haaren an
Bord. Sie trugen einen Aufkleber mit einem Symbol, das ich nicht
identifizieren konnte. Das kam mir sehr seltsam vor.

Sie suggeriert, es hätten auch beispielsweise Nazis als Provokateure
agieren können, verfügt aber nicht über weitere Einzelheiten. Es stellt
sich heraus, dass die Dame, die diese Aussage tätigte, keine Anwohnerin
ist, sondern selbst als Demonstrantin aus Paris anreiste. – In
derselben Minute sieht man eine ältere, magere Frau in Tränen
ausbrechen: "Es ist kaputt! Es ist kaputt!"

Die elsässische Frau wird von einer maghrebinischen Nachbarin und
anderen Umstehenden getröstet. Es stellt sich heraus, dass ihr Auto bei
den Steinwürfen von der Eisenbahnbrücke offenbar schwer beschädigt
worden ist. Mehrere Anwohner bekommen Angst um ihre Autos: "Ich habe
unseres auch in der Nähe geparkt. Wir hatten schon etwas befürchtet,
aber wo sollten wir es denn hinstellen? Wir hatten keine Wahl", meint
die Maghrebinerin.

Die so genannten besseren Viertel von Strasbourg waren in den
vergangenen Tagen ohnehin eine No-Go-Area für alle, die keine
Sondergenehmigung zu ihrem Betreten aufwiesen. Nein, die Frau möchte
jetzt lieber nicht nachsehen gehen, wie es um ihr Auto steht.

Warum hier?

"Warum sollte die Demo überhaupt hier durchziehen?", fragen die jungen
Mädchen, "hier gibt es überhaupt nichts." Ja, warum nicht durch die so
genannten besseren Viertel? Die Route, die durch das Hafenviertel führt
– so weit wie möglich weg vom Zentrum, und quer durch ein peripher
gelegenes Unterklassenviertel – war die einzige, die durch die Behörden
genehmigt worden war. Und das auch in letzter Minute, denn noch am
Freitag stand nicht fest, ob überhaupt eine Demonstration stattfinden
könnte, bis dahin war nur die Auftaktkundgebung erlaubt worden.
(Letztendlich konnte die Demo aber, faktisch, nicht wirklich
stattfinden.)

Hinter der nächsten Straßenecke, an der das brennende
Hotel steht, warten zahlreiche CRS-Mannschaftsbusse. Und dahinter geht
es offenkundig zur Europabrücke. Aber die Demonstration wird hier heute
nicht mehr entlang kommen. Sie hat sich zerstreut, die Spitze ist nach
den Auseinandersetzungen am Bahndamm wohl auseinander gestoben. Ich
finde die kubanische Journalistin wieder. Feuerwehrleute führen einen
offenbar verletzten, behelmten CRS-Mann an uns vorbei. Wir gehen zurück
zu der Unterführung an der Brücke, und sehen Dutzende von Steinen aus
dem Bahnschotter auf dem Boden liegen.

Die CRS bedeuten uns, dass wir hier nicht durchgehen sollen. Wir fragen
nach einem Umweg, aber der uns Auskunft erteilende Beamte meint, er sei
nicht aus Strasbourg und kenne sich überhaupt nicht aus. Wir fragen,
woher er (oder seine Einheit) denn sei, aber er darf keine Auskunft
geben. Dem Akzent nach stammte er selbst aus einem anderen Teil des
Elsaß, aber wie wir später erfahren, wurden CRS-Einheiten bis nach
Südfrankreich und in den Raum Paris für den heutigen Einsatz
mobilisiert. 50 Meter rechts von der Brücke, hinter dem nächsten Haus,
klettern wir den Bahndamm hoch und beziehen oben auf den Geleisen
Stellung. ‚

Neben uns stehen eine Reihe von Pressefotographen –
einige von ihnen sind mit Helmen ausgerüstet und wie
Kriegsberichterstatter außtaffiert – und Gruppen von CRS-Polizisten.
Letztere achten nicht auf uns. Unter uns, jenseits des Bahndamms,
bietet sich eine konfuse Szene, aus der wir nicht richtig schlau
werden. Zu unserer Linken – von dort, woher die Demo ursprünglich kam –
steht ein Teil des Demonstrationszugs blockiert.

Ein merkwürdiger Nachmittag geht zu Ende

Dort, wo zuvor der Lautsprecherwagen der CGT stand, der verschwunden
ist, sind eine Reihe von geplätteten Holzkisten – wie sie für Äpfel
oder Tomaten benutzt werden – auf beiden Seiten der Strasse zu einer
Art notdürftiger Barrikade aufgeschichtet, die aber keine halbe Minute
einem Ansturm standhalten dürfte. (Später erzählt uns ein älterer
Demonstrant: "An der Stelle haben wir kehrt gemacht, denn wir
befürchteten, daß die Leute, die diese Holzkisten aufgeschichtet
hatten, sie anzünden würden. Das hätte eine schöne Mausefalle ergeben,
zwischen den brennenden Holzkisten und dem Bahndamm. Das war uns nicht
geheuer". Tatsächlich haben die Holzkisten aber nicht gebrannt.)

Auf unserer Rechten wiederum zieht ein anderer Teil des
Demonstrationszugs, auf scheinbar wirre Weise, zwischen dem Bahndamm
und dem rechts vor uns liegenden Hafenbecken im Kreis herum. In seiner
Mitte befindet sich der Lautsprecher des ‚Mouvement de la Paix‘,
daneben laufen einige Menschen aus türkischen Vereinen oder
türkisch-kurdischen kommunistischen Organisationen. Alles in allem ein,
vom "Gewaltniveau" her, äusserst harmloses Spektrum. Immer wieder sehen
wir Tränengasgranaten niederprasseln und explodieren, ihnen entweichen
helle Schwaden.

Offenkundig versuchen die oben auf dem Bahndamm stehenden Beamten, auf
diese Weise – unter dem Druck des Tränengases – den (an dieser Stelle
sehr kurzen) Zug zu dirigieren. Wir sammeln einige leere
Tränengasgranaten ein, Aufschrift: "Nobel Sécurité / CS / 09-PB-02". An
mehreren Stellen lodern kleine Feuer in dem Gras am Bahndamm, die durch
die Explosion solcher Granaten entzündet wurden.

Später befindet sich ein Video auf Youtube, das eine Szene zeigt, die
offenkundig an diesem Bahndamm aufgenommen worden ist. Dort sieht man
CRS-Beamte mit Steinen auf unter ihnen stehende Demonstranten werfen.

Nach einigen Minuten zieht sich der kleine Demoblock, in dessen Mitte
der Lautsprecherwagen des ‚Mouvement de la paix‘ vor sich hintuckert,
auf die (vom Bahndamm her gesehen) linke Seite zurück, hinter die
improvisierte "Barrikade" aus Holzkisten. Der gesamte Demozug setzt
sich nun in umgekehrte Richtung in Marsch, in Richtung Innenstadt. Aber
es handelt sich schon nicht mehr um eine Demonstration, sondern bereits
um die Auflösung, um die kollektive Rückkehr der Demonstranten zu ihren
Häusern, Bussen, Autos oder Zügen. Die Uhr zeigt zwischen 17.30 und 18
Uhr. Es geht rückwärts vorbei an den Örtlichkeiten im Hafengebiet,
durch die wir auf dem Herweg gezogen waren. Dort zeigt sich ein Bild
der Verwüstung.

Auf dem Boden liegen zahllose zurückgelassene Kleidungsstücke und, in
grösserer Menge, leere Hüllen von verschossenen Tränengasgranaten.
Ihren Fundorten nach zu schließen, wurden sie dorthin abgeschossen oder
-geworfen, wo die größte Menschenmenge konzentriert war. Zwei
Bushaltestellen und mehrere Telefonzellen sind komplett entglast, die
Scheiben an dem Postamt aus der Bismarck-Ära sind eingeworfen. Die
Demonstration zieht wie eine geschlagene Truppe von dannen. Unterwegs
werden wir an den Brücke und an einem in der Nähe liegenden
Bahnübergang durch starke Polizeikräfte gestoppt. Schlussendlich wälzt
sich die Menge unweit davon über abgestellte Güterzüge oder unten ihnen
hindurch, überquert die Bahngeleise und ein Schrebergartenviertel.
Danach geht ein merkwürdiger Nachmittag zu Ende.

Source: www.heise.de