Explizit repressiv

Nathalie Roller

[heise.de] Frankreich glänzt zur Zeit nicht durch Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit: Letztes Jahr sind über eine halbe Million Franzosen
vorübergehend festgenommen worden

Einer von hundert Franzosen durfte 2008 die Freuden einer "Garde à
vue", wie diese vorläufigen Festnahmen genannt werden, am eigenen Leib
erfahren. Eine Polizeischikane, die noch aus napoleonischen Zeiten
stammt und die zur Zeit wirklich jedem französischen Bürger blühen
kann. Der bloße Umstand, bei Rot über die Strasse zu gehen oder auf die
dumme Idee zu kommen, einem Polizisten zu widersprechen oder Fragen zu
stellen, kann schon zu einer "GAV", wie es so schön im Amtsjargon
heißt, führen. Seit 2001 sind diese vorläufigen Festnahmen um 55%
gestiegen. Menschenrechtsorganisationen wie die Ligue des Droits de l’homme oder Richtergewerkschaften
stellen ein zunehmend "autoritäres" Klima fest. Ist es ein Zufall,
dass das derzeitige Staatsoberhaupt zuvor zweimal Innenminister war?
Und als solcher mit Bemerkungen geglänzt hatte, die in den Vorstädten
im Herbst 2005 für Feuer und Flammen gesorgt hatten? Sein Wort racaille
, das den Jugendlichen der sogenannten sensiblen Viertel galt, kam
dort nicht wirklich gut an. Sarkozy wollte damals ja diesem
jugendlichen "Gesindel" mit dem Kärcher-Hochdruckreiniger beikommen.

Doch nun scheint selbst der Polizei dieses repressive Klima zu viel zu
werden. Eine Anhäufung von "gardes à vue" sorgte kürzlich in Bordeaux
für einigen Unmut bei den Ordnungshütern, für die es zur Zeit gilt,
"Verhaftungsquoten" vorzuweisen. Diese vorgeschriebene Quote bekam etwa
eine unbescholtene Radfahrerin zu spüren, die leicht angeheitert um 1
Uhr 30 nachts auf ihrem Fahrrad von der Polizei aufgegriffen wurde. Der
Alkoholtest ging erwartungsgemäß positiv aus, und trotz ihrer
Erklärungen, dass sie eben deswegen auf das Auto verzichtet habe, wurde
sie aufs Kommissariat geführt und vorläufig festgenommen. Gemeinsam mit
10 anderen feuchtfröhlichen Radfahrern gilt es dann Leibesvisitationen
und Verhöre über sich ergehen zu lassen. Eine ganz normale "garde à
vue" eben. Um 10 Uhr 30 morgens ist die glücklose Radlerin wieder frei
und erklärt, dass diese Nacht in einer verdreckten, stinkenden Zelle
sie zu tiefst traumatisiert habe. Die Sache sei zudem alles andere als
verständlich, sei sie doch sofort geständig gewesen. Also wozu noch
Verhöre und erniedrigende Leibesvisitationen? Auch der Sekretär der
örtlichen Polizeigewerkschaft Philippe Rolland
findet die Verhängung einer "garde à vue" in diesem Falle exzessiv,
und erklärt, dass man zur Zeit einen regelrechten Wettlauf um die Quote
feststellen könnte:

Die Festnahmen sind systematisch.
Immer mehr Personen werden vorläufig festgehalten. Die Zellen sind
voll, und selbst für uns ist diese Situation schwer zu bewältigen.

Wenige Tage später meldete
sich der Bürgermeister von Bordeaux, Alain Juppé, ehemaliger
Premier und nicht gerade ein Sarkozy-Freund, zu Wort und befand
ebenfalls, dass diese vorläufigen Festnahmen der Radfahrer zu weit
gegangen seien. Eine Sanktion hätte da vollauf genügt. Aber die
Verhängung einer "garde à vue" sei unverhältnismäßig gewesen, befand
der UMP-Bürgermeister.

Dabei hatten die Radfahrer aus Bordeaux noch Glück, ist doch die
maximale Dauer einer "GAV" von Gesetz wegen auf eine Dauer von immerhin
18 Stunden beschränkt, die aber für Delikte, bei denen der Verdacht
einer "organisierten Bande" besteht, zweimal verlängert werden kann.
Besteht Terrorismusverdacht, kann der Spaß bis zu 6 Tagen währen. Doch
ab wie viel Personen handelt es sich um eine "organisierte Bande"? Und
wann hat man es mit einem "Terroristen" zu tun? Ein Rechtsbeistand darf
jedenfalls nicht bei den Verhören anwesend sein. Der Festgehaltene hat
lediglich das Anrecht auf ein halbstündiges Gespräch mit einem Anwalt. Ein Recht, das bei einer Verlängerung der GAV wieder in Anspruch
genommen werden kann. Wozu dienen nun diese nicht gerade populären
"gardes à vue"? Laut Gesetz
gilt es eine "Person festzuhalten, gegen die der Verdacht besteht,
eine Gesetzesübertretung begangen oder versucht zu haben".

Effizienzgebot für die Polizei

Das Satiremagazin Le Canard enchainé
erinnert anlässlich des derzeit herrschenden Polizeieifers, an eine
interne Weisung des ehemaligen Innenministers Sarkozy vom Februar 2007,
die offenbar noch immer ihre Gültigkeit besitzt:

Die neue Effizienzrate der Polizeiaktivitäten wird fürderhin anhand der Anzahl der "gardes à vue" berechnet.

Das Satiremagazin erläutert anschließend einige klassische Verläufe von
"GAV". Mehr oder weniger zivilisiert, mehr oder weniger brutal: Da geht
es z.B. um einen grünen Stadtpolitiker, der eben die Bedingungen der
vorläufigen Festnahmen in einem Kommissariat überprüfen wollte und sich
prompt selbst in einer "GAV" vorfindet. Oder um einen Fußgänger, der es
gewagt hatte, bei Rot über die Straße zu gehen und abends dann im
Pyjama von zu Hause von den Ordnungskräften abgeführt wird. Oder um
einen Verliebten im Park, der von Polizisten beim Turteln rüde
unterbrochen und aus ungeklärten Gründen einer "integralen
Leibesvisitation" unterzogen wird. Dabei wird er so heftig zu Boden
gedrückt, dass er das Gefühl hat zu ersticken und um Hilfe schreit. Am
Kommissariat muss er anschließend 4 Stunden mit Handschellen
verbringen. Die Polizeikontrollbehörde IGS hat bislang noch nicht auf
seine Anfragen reagiert. Die "garde à vue" einer schwarzen Französin
ist offenbar so heftig ausgefallen, dass sie im Krankenhaus geendet
hat.

Falls die Ordnungskräfte wirklich zu hart rangegangen sind, bleibt noch
immer die Möglichkeit, einen Aufmüpfigen der Rebellion (um Hilfe
schreien), des Widerstandes gegen die Staatsgewalt (die schwarze Dame
kannte ihre Rechte) oder Anstiftung zur Meuterei zu bezichtigen, wie im
Falle des glücklosen Fußgängers, der bei seiner Festnahme begonnen
hatte, mit Passanten zu diskutieren. Prinzipiell muss der Staatsanwalt
sofort von einer vorläufigen Festnahme durch die Polizei oder
Gendarmerie informiert werden. Prinzipiell. Doch wird diese gesetzliche
Verpflichtung offenbar so fleißig umgesetzt, dass sie laut "Canard
Enchainé", regelmäßig für einen Lacherfolg bei Jusstudenten sorgt.

Die derzeit herrschende Polizeiwillkür hat Amnesty International dazu veranlasst, dem "Fall Frankreich" eine eigene Webseite zu widmen. Der dazugehörige Bericht
ist für die Grande Nation, die sich in ihrer öffentlichen
Selbstdarstellung gerne selbst als Erfinderin der Menschenrechte
wahrnimmt, alles andere als erfreulich. Kleine Lektion gefällig?

Die Situation in Frankreich ist so
weit gediehen, dass sich die Ordnungskräfte als über den Gesetzen
stehend empfinden.(…) Totschlag, Prügel, rassistische Beschimpfungen
und übertriebene Anwendung von Gewalt durch Beamte der staatlichen
Ordnungskraft sind unter allen Umständen vom internationalem Recht
verboten. Doch in Frankreich münden die Klagen für solcherlei
Missachtungen der Menschenrechte kaum in einer effektiven Untersuchung,
und die Verantwortlichen landen nur selten vor der Justiz.

Denn die Richter seien quasi zu Handlangern der Polizei geworden.
Klagen wegen Amtsmissbrauchs würden meist sang- und klanglos wieder
fallen gelassen. Der Sprecher der größten Polizeigewerkschaft UNSA-Police, Yannick Danio, meint, dass manche seiner Kollegen durchaus ab und an vorm Richter landen würden und rechtfertigt die gelegentlichen "Ausrutscher" folgendermaßen:

Man darf nicht vergessen, dass sich
unter der Uniform Männer und Frauen befinden, die sich in Permanenz mit
der Gewalt und dem Zeitdruck konfrontiert sehen, und die neuerdings
einer Politik der Quote, der Zahlen und des "alles Repressivem" genüge
tun müssen. Eine Politik, die wir nicht müde werden anzukreiden,
vertieft sie doch auch den Graben zwischen uns und der Bevölkerung. So
gesehen, kann man doch verstehen, dass man in bestimmten Situationen
die Nerven verliert.

Doch nicht nur auf der Polizei lastet zur Zeit schwerer politischer
Druck. Auch der Justiz ergeht es nicht viel besser. So hat der gelernte
Anwalt Nicolas Sarkozy Anfang Januar angekündigt, dass er den Status des bislang in Frankreich von der Politik
unabhängigen Untersuchungsrichters (juge d’instruction) zu verändern
gedenkt. Statt dessen soll dieser künftig die Untersuchungen nur noch
kontrollieren und nicht mehr leiten. Dieser von der Staatsanwaltschaft
unabhängige Richter war für alle bekanntlich sensiblen Angelegenheiten
zuständig, die direkt die Autorität des Staates betreffen. So u.a.
Fälle von politischer Korruption oder Missbrauch von öffentlichen
Geldern . Richtern wie Polizisten scheint es jedenfalls in "Sarkozien"
nicht gerade wohl zu ergehen. Doch gegen seinen Willen festgehalten und
eventuell sogar Prügel zu beziehen, dürfte für das Wohlergehen auch
nicht gerade zuträglich sein. Sind die Zeiten des göttlichen Lebens in
Frankreich endgültig aus und vorbei? Hoffen wir, dass es nur
vorübergehend ist.

Source: www.telepolis.de