Gummikugelhagel

Nathalie Roller

Die französische Polizei setzt immer häufiger die "weniger
tödliche" Flash-Ball-Pistole ein. Und wo? In den übel beleumundeten
Vorstädten natürlich
Doch diese – wie es laut Eigenwerbung heißt – "subletale" Waffe des französischen Waffenfabrikanten Verney-Carron
hat Anfang Juli einem jungen Mann ein Auge gekostet. Die Polizei geht
schon seit Anfang der 90er mit diesen Gummigeschossen gegen "Gauner",
wie Präsident Sarkozy, es nennt, vor, um "diese einzuschüchtern, wenn
sie die Polizei herausfordern". Seitdem haben schon einige Bürger ein
Auge eingebüßt, obwohl es der Polizei an sich verboten ist, auf den
Kopf zu zielen. Allein im Departement Seine-Saint-Denis, der urbanen
Peripherie im Nordosten von Paris, wird die "Flash-Ball" 3 Mal pro Tag
gezückt. Auge um Auge, Zahn um Zahn?

[heise.de] Die Polizei der Polizei, die IGS (Inspection générale de la police nationale), hat Ende Juli statuiert, dass der Polizist, der dem 34-jährigem Regisseur Joachim Gatti,
in dem Städtchen Montreuil (Seine-Saint-Denis), das Auge weggeschossen
hat, nicht in "legitimer Selbstverteidigung" gehandelt und der Einsatz
der Flash-Ball-Pistole eine "disproportionale Reaktion" gewesen sei.
Dem betroffenen Polizisten der BAC (Brigade anticriminalité), die auf
urbane Gewalt spezialisiert ist, drohen nun laut der IGS schwere
Konsequenzen. 

Denn das Vergehen, das Herr Gatti sich zu Schulden hat kommen lassen,
bestand einzig und allein darin, dass er gegen die Räumung eines
besetzten Hauses protestiert hatte. Ein besetztes Haus, das nach
Vorbild des italienischen "centro sociale", dazu benutzt wurde, Leute
unterzubringen, Filme vorzuführen, eine Zeitung zu verfassen und
"Illegale", sogenannte "sans Papiers" (ohne Papiere) zu unterstützen.
Dieser Protest gegen die Räumung kam ja auch wirklich einem
regelrechten Aufstand gleich: Die Besetzer und ihre Freunde hatten ein
großes, gemeinschaftliches Gnocchi-Essen veranstaltet, um zu
diskutieren, was denn nun mit dem alternativen Kulturzentrum weiter zu
geschehen habe. Das Ganze endete mit einem in zwei gerissenen Augapfel,
einem zerfetzten Augenlid und 3 Frakturen im Gesicht.

Joachim Gatti beschreibt den Hergang der Geschehnisse im Onlinemedium Rue 89
folgendermaßen: "Es gab ein

Feuerwerk über der Stadt und einige von uns sind
hingegangen, um es zu sehen. Die Polizisten, die uns von ihrem Auto aus
beobachtet hatten, folgten einige Meter hinter uns. Sie begannen mit
ihren Flash-Balls auf uns zu schießen. Ich sah in Richtung der
Polizisten. Da fühlte ich einen starken Einschlag auf meinem rechten
Auge, so stark, dass er mich zu Boden geworfen hat.
Joachim Gatti

Kein Wunder, hat doch das Gummigeschoss eine Einschlagsoberfläche von
35 Quadratzentimetern und in etwa denselben "Effekt wie der Faustschlag
eines Boxchampions". Die Flash-Ballpistole hat ein Kaliber von 44 mm
und entspricht einer 38-er Spezial. Sie ist in Frankreich so wie der
Revolver den Waffen der 4. Kategorie zugeordnet und darf nur im Falle
einer "legitimen Selbstverteidigung" eingesetzt werden. Nur was genau
gilt noch als "legitim"?

Fraglich bleibt auch, was die Spezialeinheit BAC, die
nicht auf die Wahrung der öffentlichen Ordnung spezialisiert ist, bei
einem friedlichen Picknick zur Unterstützung von Hausbesetzern
eigentlich verloren hatte. Denn von urbaner Gewalt konnte hier wohl
keine Rede sein. Auch wenn einige Medien anfänglich von Steinwürfen
gegen die Polizei berichtet hatten. Die Zeugen verneinen dies unisono.
Gatti hat jedenfalls Klage erhoben.

Häufung der "nicht letalen" Zwischenfälle

Als die Flash-Ball-Pistole zu Beginn der 90-er Jahre Einzug in die
französischen Polizeikräfte hielt, war diese nur Spezialeinheiten wie
der BAC, dem Einsatzkommando der Gendarmerie, dem GIGN (Groupe d’intervention de la Gendarmerie nationale) und dem RAID,
vorbehalten. Eliteeinheiten, die für extreme Situationen wie z.B.
Geiselnahmen ausgebildet sind. Die Häufung der Probleme begann, als der
Einsatz der Pistole, 2002 unter einem wohlbekannten Innenminister
namens Sarkozy, auch auf die Gemeindepolizei, die Gendarmerie und dem
CRS (compagnie républicaine de sécurité) ausgeweitet wurde. Und es sind eben diese CRS, welche zur Zeit wieder einmal in der Seine-Saint-Denis, nach einem tödlichen Motorradunfall eines von der Polizei verfolgten Pizzaliferanten,
alle Hände voll zu tun haben. Wird auch hier mit Gummigeschossen gegen
die aus Protest wegen des Todes eines der ihren zündelnden Jugendlichen
vorgegangen? Die Tatsache, dass diese Art von Waffen "weniger tödlich"
sind, scheint jedenfalls dazu zu ermuntern, sie auch öfter einzusetzen.

Doch nicht nur die Flash-Ball-Pistole "verschreckt" mit Gummigeschossen
die "Gauner aus der Vorstadt". Die Polizei verwendet seit Beginn dieses
Jahres auch eine sogenannte LBD40
(lanceur de balles de defenses 40 mm), eine ebenfalls "subletale"
Waffe, deren Gummigeschosse allerdings für weiter entfernte Ziele
(25-50 Meter) gedacht sind, wohingegen die Flash-Ball-Pistole für Ziele
in 7-10 Meter Entfernung vorgesehen ist. Die LBD ist mit ihrer
angeblichen Präzision und höheren Durchschlagskraft an sich für
Anti-Terror-Einsätze gedacht. Der Waffenfabrikant "Verney-Carron"
verteidigt seine "harmlose" Flash-Ball in einer Pressemitteilung
mit dem Argument, dass es nie und nimmer eine Flash-Ball gewesen sein
kann, die Herren Gatti das Auge eingedrückt hat. Der
Flash-Ball-Fabrikant erinnert daran, dass die Polizei auch andere
Gummigeschosswaffen mit anderen Kalibern einsetzt, und diese seien eben
auf kurze Distanz gefährlich. Mit anderen Worten: Eine LBD ist schuld!

Wie auch immer: In den öffentlichen Stellungnahmen
der Polizei und der Politiker bleibt meist weitgehend unklar, ob für
einen Einsatz eine Flash-Ball oder eine LBD verwendet wurde. Meist wird
nur die Flash-Ball erwähnt. Um zu vertuschen, dass eine offenbar
"weniger harmlose" LBD ihre Gummikugeln verteilt hat? Das herrschende
Definitionswirrwarr scheint auch der herrschenden Hilflosigkeit der
Politiker zur schier endlosen Thematik der "sensiblen Vierteln" an der
urbanen Peripherie zu entsprechen. Gleichzeitig erzeugt auch dieser
Mangel an konkreten politischen Ausrichtungen und Lösungsversuchen bei
den Polizeikräften eine Art Orientierungslosigkeit.

Flash-Balls im rechtsfreien Raum

Laut dem Honorarkommissar Georges Moréas wähnen sich die Polizisten zur Zeit von ihrer Hierarchie in "einer rechtlichen Unsicherheit"
belassen: "Gibt es denn keinen Chef mehr an Bord, um ihnen präzise
Weisungen zu erteilen?" Erst letztes Jahr hatte der Direktor der
öffentlichen Sicherheit der Seine-Saint-Denis, Jean-François Herdhuin,
noch treuherzig erklärt, dass er nicht dazu da sei , den (periurbanen)
Vierteln oder den Jugendlichen den Krieg zu erklären, und einzig und
allein die Gesetze der Republik zu gelten hätten.

Nur dass im Falle der Flash-Ball und wohl sämtlicher Gummikugelwerfer
kurzum noch keine Gesetzestexte existieren. Seit deren Einsatz durch
die Gendarmerie- und Polizeikräfte ist noch keine Modifizierungen des
Strafrechtes erfolgt. Laut dem bloggenden Kommissar dürften wohl
derweilen die Gesetze, welche die legitimeSelbstverteidigung
betreffen, gelten. Danach darf "keine Unangemessenheit zwischen den
Mitteln der Verteidigung und der Schwere des Verstoßes" bestehen, denn
ansonsten würde der Polizeibeamte zum Aggressor. Was laut dem Kommissar
de facto bedeutet, dass der Einsatz solcher Waffen der Einschätzung der
Gefährlichkeit einer Situation durch die Polizeibeamten überlassen
bleibt. Ein Ergebnis dieses rechtlichen Vakuums scheint zu sein, dass
allein schon seit März dieses Jahres mindestens5 Personen im Gesicht verletzt wurden.

Während rechtliche Unsicherheit für die Polizisten besteht, reichen
sich die Politiker die heiße Kartoffel "banlieu" (Vorstadt) schon seit
einigen Regierungen weiter, ob nun konservativ oder sozialistisch. Die
ehemaligen "Liberation"-Journalisten von "Rue 89"bringen bringen das ewige Dilemma mit den französischen Vorstädten folgendermaßen auf den Punkt:

In einer Gesellschaft, die gerade am Abdriften ist,
bieten inkompetente Politiker die Polizei als Lösung für alles an.
(…) Es ist einfach und auch häufig der Fall in dieser
Abdriftbewegung, einzig und allein den Polizisten für einen
"Ausrutscher" (bavure) verantwortlich zu machen. Den Ausrutscher
begehen die Politiker, wenn die Polizei auf illegitime Art und Weise
dazu benutzt wird, den Bürgern zu vertuschen, wie sehr die eigene
Inkompetenz sie überflüssig gemacht hat.

Rue 89

Source: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30958/1.html