[heise.de] Die zunächst durchwegs friedlich abgelaufene Großdemo
gegen den "Überwachungswahn" in Staat und Wirtschaft am gestrigen
Samstag in Berlin wird von gewalttätigen Eingriffen der Polizei am
Rande des Protestzugs überschattet. Ein auf verschiedenen Online-Plattformen zu sehendes Video
eines Teilnehmers zeigt zumindest in einem Fall einen scharfen und
anscheinend ungerechtfertigten Übergriff von Vertretern der
Staatsgewalt auf einen unvermummten Passanten mit Fahrrad und weitere
Umstehende. Auslöser der Szene war nach Informationen
des Bloggers FeFe, dass der Radfahrer Anzeige gegen einen anderen
Polizisten erstatten wollte. Er habe gesehen, wie ein Freund von ihm
unsanft "einkassiert" wurde.
Direkt während des Auftritts der mit entspannten Reggaeklängen
aufwartenden Band Mono & Nikitaman auf der Abschlusskundgebung der
Demonstration auf dem Potsdamer Platz kam es dort ebenfalls zu einem im
Webstream der Veranstaltung thematisierten Polizeizugriff. Nach Angaben
des Aktivisten padeluun vom Organisator, dem Arbeitskreis
Vorratsdatenspeicherung, holten die in Einsatzmontur angerückten
Ordnungshüter dabei einen Vermummten unsanft aus der Menge. "Das war
unterhalb von Schützenfestniveau", kritisierte padeluun den Vorgang
scharf gegenüber heise online. Auch den auf Video festgehaltenen
Angriff bedauerte der Sprecher des Veranstaltungsbündnisses als
unnötig: "Wir hatten uns sofort um Deeskalation bemüht und dem Opfer
gleich vor Ort Hilfe angeboten und geraten, Anzeige zu erstatten." Man
werde die Sache weiter verfolgen. [Update: Inzwischen hat die Polizei nach eigenen Angaben gegen die beteiligten Beamten Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet.]
Der neben vielen bunten Gruppierungen etwa von Oppositionsparteien
an der Demo auch beteiligte Antifaschistische Block moniert nach Angaben der taz
in einer Mitteilung, dass die Berliner Polizei auf der
Schlussveranstaltung grundlos "massiv" gegen Teilnehmer aus den eigenen
Reihen und weitere Mitmarschierer vorgegangen sei. Dabei hätten die
Beamten sowohl Schlagstöcke als auch Pfefferspray eingesetzt und
mehrere Personen teils schwer verletzt. Die genaue Zahl der Betroffenen
sei noch unklar. Zudem seien eine Reihe Demonstranten bis 20 Uhr teils
brutal festgenommen worden. Von der Polizei gibt es noch keine
offizielle Reaktion auf die Vorwürfe. Bereits 2007 war die Staatsmacht
gegen Vermummte bei der damaligen Protestaktion gegen den
Überwachungsstaat massiv mit Gewalt vorgegangen.
Schon beim Vorspiel zu der eigentlichen Demo in diesem Jahr hatte die Polizei wie im Vorjahr
scheinbar grundlos Videoaufnahmen auf einer sehr überschaubaren
Kundgebung eines Splitterbündnisses getätigt. Ein Teilnehmer, der die
Beamten bei der Ausübung dieser Tätigkeiten wiederum mit einem
Mobilgerät festhielt, wurde genötigt, diese Aufnahmen zu löschen.
Während des Protestzugs rund um den Potsdamer Platz selbst hielt sich
die Polizei im Hintergrund und zog ihr Großaufgebot mit Einsatztruppen
in Seitenstraßen zusammen.
Monty Cantsin von der Hedonistischen Internationale nahm auf dem
Ausklang der Demonstration die Tatsache, dass "wir vom Staat abgefilmt
werden", als einen Hinweis auf die in der "Mitte der Politik"
herrschende "Verfassungsfeindlichkeit". Diese habe "uns in den
Überwachungsstaat geführt". Es reiche, bei Google außergewöhnliche
Suchbegriffe einzugeben,
"um als Terrorverdächtiger im Knast zu landen". Zensurinfrastrukturen
würden aufgebaut, Abhörzentralen errichtet. Es sei daher an der Zeit
aufzuwachen und die Weichen in Richtung Freiheit zu stellen. Cantsin
ersparte aber auch dem Publikum keine Kritik und rügte, dass vermutlich
viele der anwesenden "Datenschutzaktivisten" ihre selbst erstellten
Fotoeindrücke mit Namen und GPS-Koordinaten in soziale Netzwerke
hochladen und bei Twitter ihre Privatsphäre freiwillig preisgeben
würden.
"Polizisten in Uniform und in zivil zeichnen auf, was wir hier tun", beklagte sich auch Franziska Heine, die Initiatorin
der Rekordpetition gegen Web-Sperren zur Bekämpfung von
Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen. Zugleich warf sie Fragen
auf: "Was passiert mit diesem Material? Wer garantiert, dass es nicht
einmal gegen uns verwendet wird?" Grundrechte würden von der Politik
"leichtfertig über Bord geworfen", monierte die Aktivistin. Im Streit
um das "Zugangserschwerungsgesetz"
ergänzte sie: "Seit Monaten erleben wir Tag für Tag, wie missbrauchte
Kinder von einer Familienministerin instrumentalisiert werden."
Insgesamt zogen die Veranstalter ein positives Fazit. Dass nur eine
Woche nach einer großen Anti-Atomdemo insgesamt 25.000 Bürger zu
mobilisieren gewesen seien, zeigt, "dass die Menschen keinesfalls
politikverdrossen sind", sagt Rena Tanges vom Presseteam. Sie hätten
aber "kein Vertrauen in die herrschende Politik". Jetzt müssten die
neuen Überwachungsgesetze wie etwa zur verdachtsunabhängigen
Protokollierung der Nutzerspuren "endlich wieder abgeschafft werden,
sowohl national wie auch europaweit". Die Polizei geht von rund 10.000
Demonstranten aus.
Siehe dazu auch:
(Stefan Krempl) /
(se/c’t)
Source: http://www.heise.de