Communiqué von Mytilini, August 2009
[akweb.de] Lesbos, eine griechische Insel kurz vor der türkischen Küste, hat sich in den letzten Jahren zum Knotenpunkt der Migration nach Europa entwickelt. Beinahe jede Nacht landen MigrantInnen auf der Insel – wenn sie nicht von der griechischen Küstenwache oder der EU-Grenzagentur Frontex abgefangen werden (siehe ak 539 und lesvos09.antira.info). Die Behörden sperren die Ankömmlinge ins "Welcome Center" Pagani, ein gefängnisartiges Lager, wo sie auf Papiere zur Weiterreise aufs griechische Festland warten. Im August protestierten an die 500 AktivistInnen aus verschiedenen europäischen Ländern vor Ort gegen die Zustände im Lager Pagani und gegen die europäische Migrationspolitik. Wir dokumentieren eine Erklärung, die am Rande der Protest-Aktivitäten auf Lesbos entstanden ist.
"Von Lesbos zum ,unknown Land`." antwortete Mr. X auf die Frage nach den Plänen für die Weiterreise nach Athen im NoBorder-Camp Mytilini. Mr. X ist der Sprecher einer somalischen Gruppe, die kurz vor Beginn des NoBorder-Camps zusammen mit afghanischen und eritreischen MigrantInnen aus dem "Welcome Center Pagani" entlassen wurde. Pagani, das "Aufnahmezentrum" der Insel, ein Gefängnis für ca. 250 Personen, war im August mit rund 1.000 Insassen – Männern, Frauen, Kinder – völlig überbelegt. Ein Video, das mit einer geschmuggelten Kamera von den TransitmigrantInnen aus dem Inneren des Lagers Pagani aufgenommen wurde, hatte die in jeder Hinsicht unhaltbaren Zustände dokumentiert. Für die freigelassenen MigrantInnen wurde in Mytilini eine Abschieds-Parade veranstaltet. NoBorder-AktivistInnen, andere TransitmigrantInnen und BürgerInnen Mytilinis begleiteten die Abreisenden auf ihrem Weg zur Fähre nach Athen. Ein Moment, in dem sich Hoffnung und Unsicherheit, Zuversicht und ungewisse Perspektive, Trost und Sorge verdichteten. Die Strategie der europäischen Grenzpolitik, die TransitmigrantInnen unsichtbar zu machen, wurde in Mytilini von den MigrantInnen selbst und mit Unterstützung der AktivistInnen durchbrochen.
Pagani zog neben der Grenzkontrollagentur Frontex allen Zorn auf sich. Auf Druck der AktivistInnen des NoBorder-Camps konnten über 500 MigrantInnen Pagani mit Freilassungspapieren verlassen. Diese Papiere gewähren nur den Aufenthalt von 30 Tagen innerhalb Griechenlands. In dieser Zeit sollen die MigrantInnen die Rückkehr in ihre Heimatländer organisieren. Selbstredend nutzen die meisten diese Zeit, um sich zu erholen, Kontakt mit den Verwandten und FreundInnen aufzunehmen, vielleicht etwas Geld zu verdienen und dann die Weiterreise zu ihren Zielorten in Europa oder darüber hinaus zu planen. Die Gelegenheiten der Weiterreise auf den kommenden Routen zu nutzen – oder zu bleiben. Die Potentialität der Lebensentwürfe zu realisieren. Schritt für Schritt unterwegs im "unknown Land".
Schritt für Schritt ins "unknown land"
Tarifa, eine Kleinstadt, die nur den Fans des Kitesurfens ein Begriff ist. Ceuta und Melilla, Fußnoten der spanischen Kolonialgeschichte. Die Kanaren, das große europäische Sonnenstudio. Lampedusa, eine Unbekannte. Lesbos, eine kleine Tourismusinsel, ein beispielhafter Schauplatz europäischer Bevölkerungspolitiken und eines der vielen Archipele der Migration und ihrer Hoffnungen auf ein besseres Leben.
"Das Recht auf Hoffnung. Die Grenzen erscheinen vielen daher wie die Pforte zum Paradies. Davor ist ein Feuergraben, den du überwinden musst, Europa ist das Schloss mit dem Meer als Schlossgraben davor. Der erste Kontakt mit denen, die es geschafft haben, ist immer gleich: Sie sagen uns, es sei das Paradies. Wir alle wollen das Paradies sehen. Wir bestehen auf dem Recht des Sehendürfens, auf dem Recht auf eine Chance." (Tarek, Transitmigrant)
Heute ist jeder dieser Grenzorte ein Newsbreaker. Die Hotspots der transnationalen Migration. Stätten des Bodycounts der Toten der Überfahrt. Stätten der Internierung und Stätten des Transit. Kleine Städte mit 10.000 oder 20.000 EinwohnerInnen, die mit Lagern und Grenzpolizei militarisiert sind. Kleine Städte, wohin die sozialen Probleme und gesellschaftliche Folgen einer europäischen Migrationspolitik abgeschoben werden. Die Externalisierung der Lager, das Abschieben, das findet hier seine Fortsetzung. An den grünen Tischen der europäischen Metropolen werden Dublin-II-Abkommen beschlossen, die diese Barbarei formalisieren. Das Elend von Pagani ist eine Verschiebung dieser Politik an die Ränder Europas.
Pagani – schließt Pagani. Ohne Wenn und Aber.
Die Schiffe und Hubschrauber der Frontex – abrüsten. Ohne Wenn und Aber.
Die Freilassungspapiere – ausstellen. Lasst die Kinder und Frauen und Männer frei. Ohne Wenn und Aber.
Europa, ein Schloss mit dem Meer als Schlossgraben
"Unser ganzer Kontinent ist auf der Suche nach Hoffnung. Die Hoffnung, durch Migration der Misere zu entkommen, das ist die Luft, die wir atmen, eine Musik, die immer da ist, eine ganze Kultur. Die Idee der Migration wurde in uns geboren, als wir noch jung waren. Kinder träumen, überall auf der Welt. Wenn man hier ein Kind fragt, was möchtest du werden, Arzt, Professor oder Pilot – dann antwortet es: Ich werde Migrant. Jemand, der ins Ausland gegangen ist, ist mehr wert als alle anderen." (Tarek, Transitmigrant)
Wir gehören zu den ersten Generationen, die das Verschwinden der Schlagbäume erlebt haben. Die ersten Generationen, für die es Alltag wurde – aber alles andere als normal oder selbstverständlich – in multinationalen, postkolonialen, gettoisierten, diskriminierten, mehrsprachigen Milieus aufzuwachsen. Wir haben erlebt, dass das Begehren nach Bewegungsfreiheit eiserne Vorhänge zerreißen kann. Wir sind groß geworden mit Globalisierung, mit Internet und Computer, mit Handy, mit Interrail, mit Heimfahrten über den Autoput und Mitmenschlichkeit über Grenzen hinweg. Wir sind erwachsen geworden mit den Balkankriegen, mit den Kriegen in Somalia, Ruanda und im Sudan, und den Afghanistan- und den Irakkriegen und denen, die wir aus unserem Alltag verdrängen. Wir stoßen an die neuen Grenzen, die unsere Städte und Länder durchziehen. Die Allgegenwart des Terrors als Rechtfertigung für Kontrolle, Entrechtung, Internierung und Intervention ist das Mantra unserer Zeit. Unser Leben ist die Veränderung und die Transformation: Das Absterben der alten sozialen Ordnung, das Aufkommen der Prekarität und das große Fragezeichen namens Zukunft.
"Wir sind alle Opfer der Lügen und der Versprechungen aus dem Fernsehen. Wir glauben an diese Erfolgsgeschichten. Wenn tausend Personen auswandern und es nicht schaffen, aber eine schafft es – dann gucken wir nicht auf die tausend, wir gucken auf den einen. Es wird nicht gefragt, was er da drüben macht, ob er den Müll weg räumt oder Drogen verkauft. Man sieht, was er hat, wenn er wiederkommt: ein Auto, Markenklamotten, ein richtiges Leben. Die Menschenschmuggler profitieren davon, sie versprechen dir, was du hören willst. Wir nennen sie Traum-Verkäufer." (Tarek, Transitmigrant)
Viele von uns sehen die begehrlichen Blicke auf die roten Pässe. Wir kennen diese Scham, Schengens Segen für uns und Schengens Fluch für die anderen. Glaubt ihr, wir werden nicht zornig auf diese Zustände und richten uns ein als Profiteure dieser Ordnung? Und glaubt ihr, wir sehen nicht wie die perfiden Grenzsysteme die Reisen der TransitmigrantInnen von Tag zu Tag gefährlicher machen? Glaubt irgend jemand ernsthaft, die im wahren Sinn des Wortes kommenden BürgerInnen Europas nutzen ihre Hände nicht zum Arbeiten, ihren Verstand nicht zum Denken, ihre Menge nicht um sich zu versammeln, nur weil Migration illegalisiert wird? Jeder weiß, dass unsere europäische Verfassung überhaupt nur auf Basis dieser Arbeit, dieser Ausbeutung und dieser Mobilität funktioniert.
Für eine Normalität des Unterwegsseins.
"The cat hunts the mouse and the mouse is always faster. And so are we, always. Migration existed since ever, since the beginning of human existence and why should that end now? In africa nothing is changing actually. So our families sent us on the journey, which changed us so much that we are not able to go back. I came here by accident. And it is the best journey ever. The track has been the best experience of my life." (Jean-Marie, Transitmigrant)
Was wir wollen ist einfach. Es ist das Recht auf eine Reise in Sicherheit. Die Verrechtlichung des Weges. Die Normalität des Ankommens und Unterwegseins statt des ständigen Ausnahmezustands. Damit jede und jeder in Ruhe die Koffer auspacken, ankommen und BürgerIn Europas werden kann.
BürgerInnen Europas 2009:
Frank John (Buchhalter und Freelancer, Hamburg), Efthimia Panagiotidis (Soziologin, Lehrkraft für besondere Aufgaben, Uni Hamburg, transit e.V.), Arndt Neumann (Historiker, Hamburg), Irene Hatzidimou (Organizerin ver.di, Hamburg/Hannover), Gerda Heck (Forschungsstelle für interkulturelle Studien, Uni Köln), Lena Oswald (Politologin, Hamburg), Meike Bergmann (Geschäftsführerin dock europe GmbH), Vassilis Tsianos (Soziologe, Lehrbeauftragter Uni Hamburg), Miriam Edding (Vorstand Stiftung DO Hamburg), Jan Ole Arps (Politologe, Berlin), Ole Bonnemeier (Arzt, Hamburg), Andreas Georgiadis (selbstständiger KFZ-Meister), Christoph Breitsprecher (Linguist, wissenschaftlicher Mitarbeiter Uni Hamburg), Anja Kanngieser (Researcher Melbourne/Hamburg), Aida Ibrahim (Studentin, Uni Hamburg), Marion von Osten (Kulturproduzentin, Professorin Wien, transit e.V. Berlin), Peter Spillmann (Kulturproduzent, Labor K3000/Zürich, transit e.V.), Marianne Pieper (Soziologin, Professorin, Hamburg), Angela Melitopoulos (Filmemacherin, transit e.V.), Despina Altinoglou (Lehrerin, Hamburg), Valery Alzaga
to be continued…