In drei Monaten wird der neue Fünfjahresplan der EU zur inneren Sicherheit verabschiedet
[heise.de] Nach dem "Tampere-Programm" 1999 und dem "Haager Programm" 2004
wird die EU unter schwedischer Präsidentschaft mit dem "Stockholm
Programm" mehr Kompetenzen im Bereich innerer Sicherheit erhalten. Der neue Katalog
zur innenpolitischen Staatswerdung der EU stellt "den Bürger in den
Mittelpunkt des künftigen Ausbaus des europäischen Raums der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts". Damit ist sogleich die größte
Zielgruppe dieser neuen sicherheitspolitischen Offensive markiert:
Migranten mit und ohne Aufenthaltsstatus.
Die innenpolitischen Leitlinien
bestimmen die Zukunft von Polizei- und Justizkooperation, Migration und
Asyl, Datenbanken und gemeinsamen Zugriff darauf, "Operationen in
Drittstaaten", Kontrolle des Internet und die Einführung zahlreicher
technischer Applikationen zur vorausschauenden Überwachung und
Kontrolle. Ein eigenes Forschungsprogramm
entwickelt Anwendungen zur automatisierten Erkennung "verdächtigen
Verhaltens", Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer oder der zukünftigen
Verwaltung digitaler Informationen. Auch Fragen der Aufwertung
bestehender und Einrichtung neuer Institutionen werden im "Stockholm
Programm" festgelegt, darunter der Standort einer geplanten "Agentur
zum Betriebsmanagement von IT-Großsystemen" für alle EU-Datenbanken mit Personendaten.
Während das "Haager Programm" unter dem "Prinzip der Verfügbarkeit"
stand (etwa im Bereich von Daten), stehen Innenbehörden, Polizei und
Geheimdienste nun vor dem Problem, die massive Akkumulation von
Informationen sinnvoll zu verwalten. Hierfür müssen nicht nur Hard- und
Software, sondern ebenso Gesetze in den 27 Mitgliedsstaaten der EU
standardisiert werden.
Enger Zeitplan zur Verabschiedung
Zuerst hatte die sogenannte "Future Group" unter
deutscher EU-Präsidentschaft 2007 mit einer Wunschliste die Diskussion
um die Neuauflage des Fünfjahresplans begonnen (Die Wünsche der EU-Innenminister).
Die "Future Group" ist ein (nach Selbstauskunft) informeller
Zusammenschluss europäischer Innenminister, gegründet auf Initiative
des deutschen Innenministers Schäuble angesichts des drohenden
Scheiterns des Lissabon Vertrags. Im Rahmen einer "Konsultation der
Bürger der EU", die von der "Future Group" für das "Stockholm Programm"
großspurig angekündigt wurde, verirrten sich gerade einmal 770 User auf
die Webseite der EU-Kommission und beantworteten 49 Fragen im
Multiple-Choice-Verfahren (diese Beteiligungsfarce regte das European
Civil Liberty Network (ECLN) zu einer eigenen Umfrage zu den gravierenden Veränderungen europäischer Innenpolitik an).
Im Juni hatte die EU-Kommission eine Stellungnahme
abgegeben, in der die Empfehlungen der "Future Group" weitgehend
aufgegriffen und ausformuliert wurden. Als größtes Problem werden wie
in den beiden früheren Programmen 8 Millionen "illegale Immigranten"
ausgemacht. Allerdings erkennt die Kommission auch die "Erfordernisse
des Arbeitsmarktes", der Migranten sowohl mit als auch ohne
Aufenthaltsstatus benötigt, und regt für das "Stockholm Programm" eine
"Überwachung der Migrationsmuster und der Arbeitsmarkttendenzen" an.
Bis 2013 will die EU das Grenzüberwachungssystem Eurosur einführen, das
alle an Migration und Border Management beteiligten Behörden vernetzen
soll.
Perspektivisch wünscht sich die Kommission eine "EU-weite Strategie für
innere Sicherheit" und winkt mit einem Fonds für deren Finanzierung.
Die "Forschung auf dem Gebiet der Sicherheitsmethoden" soll hierfür
ausgebaut und damit die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rüstungs-
und Sicherheitsindustrie gefestigt werden.
Die erst kurz vor der Sommerpause veröffentlichte Stellungnahme der
Kommission wird nun im Rat, im Parlament und in den zuständigen
Ausschüssen erörtert. Ende Oktober soll die "allgemeine Richtung" des
Dokuments bekannt sein. Für die Verhandlungen des "Stockholm Programms"
sind für die schwedische Präsidentschaft die Minister Tobias Billstrom
(Migration) und Beatrice Ask (Justiz) zuständig (Schweden leistet sich
keinen eigenen Innenminister und trennt die Bereiche Migration und
Justiz). In schwedischen Regierungskreisen wird das Papier der
Kommission als "gute Verhandlungsgrundlage" kommentiert.
Auf der Webseite zur schwedischen EU-Präsidentschaft wird der neue Fünfjahresplan überschrieben mit The Stockholm Programme: towards an open and more secure Europe.
Justizministerin Ask hatte die Pläne der schwedischen Präsidentschaft
Anfang September im Bürgerrechtskomitee des Europäischen Parlaments
(LIBE) vorgelegt und versucht, Bedenken zur Tragweite erwarteter
Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten zu beschwichtigen.
Ausschussmitglieder wiesen auf die Widersprüchlichkeit ihrer
Ausführungen hin, da kaum ein Bruch der Kooperation mit den USA im
Namen des "Kampfes gegen den Terrorismus" zu erwarten sei. Jüngste
Urteile zu SWIFT, ACTA und CIA hätten gezeigt, dass auf diesem Gebiet
kein Kurswechsel zu erwarten sei.
Laut dem schwedischen grünen Europaabgeordneten Carl
Schlyter reagieren Angehörige schwedischer Innenbehörden "hysterisch",
wenn die Rede auf das Strategiepapier der "Future Group" kommt. Die
Minister Ask und Billström bemühen
sich, auf internationalem Parkett Harmlosigkeit zu demonstrieren.
Kritiker würden die Wunschliste der europäischen Innenminister mit dem
"Stockholm Programm" verwechseln, während sich die schwedische
Präsidentschaft für das Recht auf Asyl und Datenschutz einsetzen würde.
Angestrebt würde etwa ein europaweit einheitliches System der
Anerkennung in Asylverfahren.
Flüchtlingsaufnahme auf freiwilliger Basis?
Tatsächlich nehmen die Bereiche Migration und Asyl
großen Raum im neuen Fünfjahresplan ein. Italien zwingt
Flüchtlingsboote unter Inkaufnahme Dutzender Toter regelmäßig zur
Rückkehr in libysche Gewässer ("zur Umkehr überreden") und übt damit
Druck auf Kommissionspräsident Barroso aus. Abkommen zwischen Italien
und Libyen (darunter Kooperation der Grenzbehörden, satellitengestützte
Migrationsabwehr, Einrichtung von Auffanglagern) haben trotz fehlender
Menschenrechtsstandards in Libyen Vorbildfunktion für das neue
"Stockholm Programm". Die im früheren "Haager Programm" beschlossene
"Grenzschutzagentur Frontex", deren Etat sich 2008 verdoppelt hatte,
soll zur zentralen EU-Grenzpolizei werden.
Der Innenausschuss des Europäischen Parlaments hatte im März einen "Konstruktionsfehler" bei der Schaffung von Frontex an festgestellt.
"Schutz- und Menschenrechtsbelange" müssten in die Missionen integriert
werden. Auch das UNHCR hatte die italienischen Operationen heftig
angegriffen, es ist jedoch zweifelhaft, ob sich diese selbst in
Regierungskreisen geübte Kritik durchsetzen wird. Italien, Malta,
Zypern, Griechenland und Spanien drängen die Kommission auf eine
"solidarische Lastenverteilung" bei der Aufnahme von Flüchtlingen, die
es trotz hochgerüsteter Grenzpolizei im Mittelmeer schaffen, die
europäischen Außengrenzen zu erreichen. Spanien hat bereits
angekündigt, im Rahmen seines EU-Vorsitzes 2010 die Migrationsabwehr in
den Mittelpunkt zu stellen und strebt neue Abkommen mit Herkunfts- und
Transitländern von Migranten an. Ähnliche Verträge, die Spanien bereits
mit Marokko geschlossen hatte, werden von Amnesty International heftig kritisiert,
da sie benutzt würden "um willkürliche Festnahme, Inhaftierung und
Abschiebung von Asylsuchenden und Migranten in diesen Ländern zu
rechtfertigen"
Die schwedische Präsidentschaft verhandelt um die Etablierung eines EU Resettlement-Programms
zur "Aufnahme von Flüchtlingen aus Krisenregionen". Gemeint sind
"Neuansiedlungen von Flüchtlingen" die in den Mittelmeerstaaten der EU
ihr Recht auf Asyl geltend machen. Während
Nichtregierungsorganisationen verbindliche Schlüssel zur Verteilung
fordern, will die EU-Kommission das Programm auf "freiwilliger Basis" anbieten
und "finanzielle Anreize" schaffen. In Frage kommende Flüchtlinge
würden durch das UNHCR "vorgeschlagen". Dieser Ansatz wird von der
Bundesregierung in einer gemeinsamen Stellungnahme
von Außen-, Innen, Wirtschafts- und Justizministerium geteilt (nicht
ohne eine Stärkung von Frontex zur Migrationsabwehr zu fordern).
Letztlich geht es beim "EU Resettlement-Programm" um eine Überarbeitung
des "Dublin II"-Abkommens (aufgegriffene Flüchtlinge werden in das Land
zurückgewiesen, in dem sie die EU-Grenzen erreicht haben). Die
Verwaltung des "Resettlement-Programms" soll ab 2010 einem neuen
"European Asylum Support Office" (EASO) obliegen. Durch das neue
Abkommen will die EU ihre Außenpolitik mittels Definitionsmacht in
Menschenrechtsfragen stärken:
The current relatively low level of involvement of the EU
in the resettlement of refugees impacts negatively on the ambition of
the EU to play a prominent role in global humanitarian affairs and
hence on the influence of the EU in international fora.
EU-Kommission
Menschenrechtsorganisationen versuchen Kurskorrekturen
Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, Bürger- und
Menschenrechtsgruppen haben in den vergangenen Monaten eigene
Stellungnahmen zur Verhandlung des "Stockholm Programms" vorgelegt, um
auf den letzten Drücker den Kurs des Fünfjahresplans zu beeinflussen –
immerhin behauptet die EU-Kommission, im "Stockholm Programm" den
Schutz von Flüchtlingen stärken zu wollen.
Auch das UNHCR unterstützt
die Etablierung eines "Resettlement Programms" und wünscht sich eine
Vereinfachung der Zusammenführung in der EU verteilter
Familienmitglieder sowie mehr Rechte für minderjährige unbegleitete
Flüchtlinge. Wie wenig Einfluss derartige "Empfehlungen" auf
europäische Innenpolitik haben, zeigt das jüngste Maßnahmenpaket
der Kommission, das europäischen Strafverfolgungsbehörden den Zugriff
auf die Fingerabdruck-Datenbank EURODAC erlaubt. Wie üblich begründet
mit der "Abwehr von Terrorismus und schwerer Kriminalität", will die EU
"Daten von Asylsuchenden effizienter nutzen". Das UNHCR hatte zuvor wie
zahlreiche andere Flüchtlingsorganisationen vor einer Stigmatisierung
von Migranten gewarnt.
Ob das UNHCR überhaupt ein guter Anwalt für die Belange von
Flüchtlingsfragen sein kann, ist zweifelhaft. Die UN-Behörde
verschließt sich nicht generell neuen Maßnahmen zur Abwehr von
Migranten, wünscht sich aber dass Mitarbeiter der "Grenzschutzagentur
Frontex" trainiert werden, diejenigen zu identifizieren die ein Recht
auf Asyl geltend machen könnten.
Briefings anderer Nichtregierungsorganisationen gehen
zwar in eine ähnliche Richtung, üben aber eine deutlichere Kritik an
der Migrationspolitik der EU. Caritas Europa hofft,
dass die zukünftige EU-Kommission den "Ton der Debatte von ‚Sicherheit‘
zu ‚Arbeitnehmerrechten’" verlagere. Der Europäische Flüchtlingsrat
(ECRE) spricht Schweden immerhin eine beträchtliche "moralische
Autorität" zu, da das Land die gleiche Aufnahmequote von Flüchtlingen
habe wie Malta (gerechnet auf die Einwohnerzahl).
In einem jüngst veröffentlichten Report
forciert der ECRE ebenfalls eine Umverteilung von Flüchtlingen, im
"Stockholm Programm" solle eine grundsätzliche Korrektur des "Dublin
II"-Abkommens angelegt sein. Migranten, die keinen Aufenthaltsstatus
erlangen können, sollen wenigstens in "Sicherheit und Würde" in ihre
Herkunftsländer abgeschoben werden.
Ähnlich äußert sich die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte
(FRA), die das "Stockholm Programm" als eine "Chance, den Schutz
fundamentaler Rechte in den Mittelpunkt zu stellen" begrüßt.
Der Kampf gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus wird
willkommen geheißen, soll jedoch die "Menschenwürde nicht
unterminieren".
Amnesty International kritisiert,
dass die Maßnahmen der EU nicht am Schutz der Menschen in Europa
orientiert seien, stattdessen die Effektivität von Kontrollmaßnahmen im
Mittelpunkt stehe. Die Vorlage der Kommission bringe nicht wie
angekündigt Fortschritte zur Lösung humanitärer Probleme, das Papier
sei zwar in Teilen akzeptabel, doch falle die Aufmerksamkeit für
internationale Menschenrechtsgesetze dem Kampf gegen Terrorismus zum
Opfer. Stattdessen sollen die Mitgliedsstaaten ihre existierenden
Verpflichtungen umsetzen.
Der Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) bemängelt
die fehlende Harmonisierung prozessualer Rechte in Strafverfahren. Die
EU sehe Anwälte lediglich als "eine weitere Kategorie von
Dienstleistern" denn als "Akteur für Gerechtigkeit".
Auch die im Europaparlament vertretenen Parteien verhandeln eifrig um
die Neugestaltung der europäischen Innenpolitik. Christian Engström von
der Piratenpartei hat "grundsätzlich nichts gegen die Kooperation von
Polizeibehörden aus verschiedenen Ländern einzuwenden, wenn es darum
ginge, Kriminelle zu fassen". Er moniert
allerdings den zunehmenden Datenabgleich mit Polizeien und Militär
"fremder Länder". Der stellvertretende europapolitische Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion, Michael Roth, wünscht
sich ein "besseres Gleichgewicht im Spannungsverhältnis von Freiheit
und Sicherheit" und erneuert die Forderung der SPD nach einer Trennung
der Generaldirektionen Justiz und Innen in der EU-Kommission. Die SPD
optiert für eine "Klausel zum Vorrang des Datenschutzes" im "Stockholm
Programm".
Die meisten Statements zum "Stockholm Programm"
fordern mehr "Balance" von Freiheit und Sicherheit und bleiben damit im
innenpolitischen Diskurs verhaftet, Sicherheit würde Freiheit schaffen.
Nur wenige Organisationen üben eine grundsätzliche Kritik am geplanten
"Stockholm Programm". Das European Civil Liberty Network konstatiert eine "Versicherheitlichung von allem"
und sieht die EU "mitten in einem Paradigmenwechsel bezüglich der Art
und Weise, wie Europa und der Rest der Welt kontrolliert werden". Der
Europäische Datenschutzbeauftragte (EDPS) Peter Hustinx kritisiert
die Transformation "in Richtung Überwachungsgesellschaft, in der jede
Transaktion und fast jede Bewegung der Bürger aufgezeichnet wird". Tony
Bunyan, Mitglied der britischen Bürgerrechtsorganisation "Statewatch"
sieht die EU im Übergang zur "Datenbankgesellschaft":
What is new is the clear aim of creating the surveillance
society and the database state. Future generations, for whom this will
be a fully developed reality, will look back at this era and righlty
ask, why did you not act to stop it.
Tony Bunyan
Auf dem nächsten Treffen der europäischen Innenminister am 21.
September in Brüssel wird weiter über das "Stockholm Programm"
verhandelt. Auf der Agenda stehen unter anderem das "EU Resettlement Programme" und dessen Finanzierung sowie die Aufwertung von Frontex.
Das Bürgerrechtskomitee des Parlaments will bald einen eigenen Bericht
zum "Stockholm Programm" verfassen. Im Oktober soll eine
"interparlamentarische Anhörung" stattfinden, an der Vertreter des
Europäischen Parlaments sowie nationaler Parlamente teilnehmen. Nach
Beschlußfassung der Innen- und Justizminister am 1. Dezember wollen die
EU-Regierungschefs den Fünfjahresplan auf ihrem Gipfel in Brüssel am
10. und 11. Dezember endgültig verabschieden.