Im Dezember
wird auf EU-Ebene wohl das "Stockholm-Programm" beschlossen werden. Der
europäische Datenschutzbeauftragte kritisiert eine Transformation zur
Überwachungsgesellschaft.
VON MATTHIAS MONROY
[taz.de] Auf EU-Ebene
wird im Dezember voraussichtlich das "Stockholm-Programm" verabschiedet
werden: "Stockholm" ist ein neues Mehrjahresprogramm mit Richtlinien
für einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". Als
Nachfolger des "Haager Programms" von 2004 beinhaltet "Stockholm"
tiefgreifende Veränderung in der europäischen Sicherheitsarchitektur.
Unter anderem soll die Kapazität von Europol
ausgebaut und die verschiedenen Polizei-Datenbanken sollen
zusammengeführt werden. Vorgesehen sind ein zentrales
Bevölkerungsregister, grenzüberschreitende Onlinedurchsuchungen, mehr
Kontrolle des Internets, eine verbesserte Satellitenüberwachung,
computergestützte Risikoanalysen, gemeinsame Abschiebeflugzeuge und
-flüge, neue Flüchtlingslager in Drittstaaten, der Einsatz des Militärs
zur Migrationsabwehr, polizeiliche Interventionen auch außerhalb der
EU, der Aufbau einer europäischen Gendarmerietruppe und mehr
Zusammenarbeit der In- und Auslandsgeheimdienste.
Die
zuständige EU-Kommission für Justiz und Sicherheit will in diesem
Zusammenhang eine "Strategie der inneren Sicherheit" entwickeln, die im
"Stockholm-Programm" ausformuliert werden soll. Gemeint ist die
Zusammenarbeit von Polizei, Militär und Geheimdiensten, die sich am
US-Modell einer Homeland Security orientiert und Bedrohungen
voraussehen, zuvorkommen und abwenden will.
"Stockholm" richtet sich hauptsächlich gegen Migranten
Der neue Katalog zur innenpolitischen
Staatswerdung der EU stellt "den Bürger in den Mittelpunkt". Die
quantitativ größte Zielgruppe dieser sicherheitspolitischen Offensive
sind aber Migranten – mit und ohne Aufenthaltsstatus. Allerdings werden
sich auch andere gesellschaftliche Akteure Gedanken machen müssen, was
die Einführung der von der Sicherheitsindustrie entwickelten Systeme
für ihren Alltag bedeutet.
Das Bundeskriminalamt (BKA) sitzt im Konsortium
des europäischen Sicherheitsforschungsprogramms ESRP, dessen Ausbau im
"Stockholm-Programm" ebenfalls geregelt wird. Im ESRP forschen
Polizeien zusammen mit Militär und Sicherheitsindustrie unter anderem
an der Nutzung von Satellitenaufklärung und fliegenden Kameras.
Besonders interessiert dürfte das BKA an der Einführung von
Applikationen zur intelligenten Suche im Datendschungel sein. Software
etwa, deren Quellcode nicht öffentlich ist, gleicht Personendatenbanken
oder "Taterklärungen", Telefonmitschnitte oder Social Networks
automatisiert auf Cluster (im Polizeijargon "Risiken") ab. Laut den
Hochglanzpapieren der Sicherheitsindustrie kommen solche Verfahren
bereits in einigen Landeskriminalämtern sowie beim Wiesbadener BKA zum
Einsatz.
Was bedeuten diese Entwicklungen für linke Praxis?
Die Maßnahmen, die in Brüssel beschlossen
werden sollen, sind erst in einigen Jahren mit ihrer Ratifizierung in
den Mitgliedsstaaten spürbar. Was bedeuten diese Entwicklungen für die
politische Praxis linker Bewegungen, außer "noch mehr Repression"?
Sicher, Angriffe des Staates auf bürgerliche Freiheiten oder linken
Widerstand mögen in früheren Jahren sogar heftiger gewesen sein.
Bedenklich stimmen in der EU allerdings die Träume von proaktiver
(vorauseilender) Homeland Security, die Schaffung neuer und die
Vernetzung bestehender Datenbanken sowie der Aufbau EU-eigener
Polizeien mit eilig ausgeweiteten Kompetenzen.
Die Kritik an der Versicherheitlichung sozialer
Phänomene bleibt zu oft auf nationalstaatlicher Ebene stecken. Der
Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, dem es immerhin gelang, eine
spektrenübergreifende Bürgerrechtsbewegung auf die Beine zu stellen,
wurde von Innenminister Schäuble belächelt. Der erklärte der taz, dass
in Deutschland eine EU-Richtlinie umgesetzt werden müsse, anderenfalls
drohten Sanktionen. Der AK Vorratsdatenspeicherung hat versäumt
herauszuarbeiten, dass das deutsche Innenministerium ein zentraler
Akteur im Einsetzen solcher Richtlinien und Aktionspläne ist, zum
Beispiel durch die Schaffung der informellen "Future Group" unter
deutscher Ratspräsidentschaft 2007. Auch auf Kämpfe in anderen Ländern,
in denen Vorgaben der EU zur Kontrolle von Telekommunikation und
Internet, Terrorismusgesetzgebung oder Migrationsabwehr umgesetzt
werden, wird von sicherheitskritischen Kampagnen wie dem AK
Vorratsdatenspeicherung zu wenig Bezug genommen.
Kritik auf nationalstaatlicher Ebene greift zu kurz
Bürger- und Menschenrechtsgruppen
argumentieren, Freiheit und Sicherheit müssten ausbalanciert werden und
fordern mehr Datenschutz. Doch es steht vielmehr eine generelle Debatte
über den "Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität" an, in
dessen Namen Freiheiten europaweit eingeschränkt werden. In diese
Richtung argumentiert auch einer der wenigen europäischen Akteure, das
European Civil Liberty Network (ECLN), die EU stehe "mitten in einem
Paradigmenwechsel bezüglich der Art und Weise, wie Europa und der Rest
der Welt kontrolliert werden". Selbst der europäische
Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx kritisiert eine Transformation zur
Überwachungsgesellschaft, Datenschutz würde allenfalls unter dem Aspekt
der Vermeidung von Datenverlusten gesehen. Tony Bunyan, Mitglied der
britischen Bürgerrechtsorganisation Statewatch, sieht die EU auf dem
Weg zu einer "Datenbankgesellschaft".
Die Spielräume für linke Intervention haben
sich nach dem 11. September nicht gerade vergrößert. Überwachung und
Kontrolle haben eine andere Form angenommen. Gleichzeitig bietet der
Umbau zur Homeland Security aber auch eine Chance für neue Bündnisse,
die breite gesellschaftliche Diskussionen und unerwartete
Interventionen ermöglichen. Eine Verknüpfung von linker
Antimilitarismus-, Antirepressions- und Migrationspolitik liegt
jedenfalls auf der Hand. Es ist an der Zeit, den Widerstand gegen den
Aufbau der europäischen Polizeien Frontex, Europol und einer
europäischen Gendarmerietruppe zu vernetzen Die Pläne der Baumeister
dieser europäischen Sicherheitsarchitektur bieten genügend
Anknüpfungspunkte.
Source: http://www.taz.de/1/politik/schwerpunkt-ueberwachung/artikel/1/das-grosse-aufruesten/