Am Bildungsmarkt kämpfen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften um Finanzierung und Akzeptanz. Die Sicherheitsforschung, die europäische BürgerInnen nun auch subjektiv aufrüsten will, macht aktuell ein Angebot.
[malmoe.org] „Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ An den Anfang seiner Online- Videovorlesung stellt der Sicherheitsforscher Alexander Siedschlag, einer der umtriebigsten im deutschsprachigen Raum, ein Zitat des Schweizer Schriftstellers Max Frisch. Die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind die neueste Zutat der europäischen Sicherheitsforschung: Sie sollen die subjektiven Aspekte von Aufrüstung und Bedrohung verstehen, die Politik mit ihrer „soft power“ beraten und zugleich deren Schritte ethisch korrekt legitimieren.
Europäischer Vormarsch
„Sicherheit“ ist dabei ein umfassender Begriff, der vieles vermengt, was zuvor differenziert und unterschiedlich demokratisch verhandelt wurde: innen und außen, Bundesheer und Polizei, BürgerIn und Exekutive, öffentlich und privat, Bewusstsein und Technik. Er integriert Terrorismus, Migration und Naturkatastrophen; das Wissen von Hoch- und Tiefbau mit Islamistik und Sprachwissenschaft. Wir sprechen heute nicht mehr von Konfliktforschung oder Verteidigungspolitik, Zivilschutz oder Gefahrenabwehr – übrigens auch nicht von Friedensforschung –, weiß Siedschlag: „Wenn wir versuchen, sowohl von einem intellektuellen Gesamtsystem als auch von einem politischen Gesamtsystem zu sprechen, sprechen wir eigentlich von dem System Sicherheit.“
Sicherheitsforschung ist ein europäisches Projekt. Die EU hat mit ihrer Forschungsförderung massiv zur Umformulierung, wenn nicht Umorientierung wissenschaftlicher Forschungsschwerpunkte beigetragen. 2004 erschien in Luxemburg im Büro für offizielle Publikationen der Bericht einer Group of Personalities: „Research for a Secure Europe“. Gruppenmitglieder waren neben Javier Solana, Marti Ahtisaari, Kommissions- und Parlamentsmitgliedern und Verteidigungsministern die Vertreter zahlreicher Rüstungsunternehmen wie EADS, BAE Systems, Finmeccanica, Thales Group und die Diehl Gruppe. Es liefert die Grundlage dafür, im 7. EU-Rahmenprogramm zur Wissenschaftsförderung (Laufzeit 2007-2013) Sicherheit „erstmals als einen eigenen prioritären Themenschwerpunkt anzusprechen“. „Europäische Forschung auf dem Vormarsch“, steht auf der Titelseite der Infobroschüre. Das geförderte Kooperationsprojekt CPSI (Changing Perceptions of Security and Intervention) zum Beispiel will „End- Nutzer” wie Regierungen, Exekutivkräfte und Katastrophenschutz mit praktischen „ready-to-use-tools” versorgen.
Alle mit eingeschlossen
Aber auch Österreich sorgt sich um die Sicherheitsforschung und hat laut eigenen Angaben als erster EU-Staat zusätzlich einen nationalen Rahmen geschaffen. Das Förderprogramm KIRAS läuft von 2005 bis 2013 mit einem Gesamtbudget von 110 Millionen Euro unter der Ägide des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT), Stabsstelle Technologietransfer und Sicherheitsforschung. Der Name setzt sich aus den griechischen Begriffen für „Sicherheit“ und „Kreis“ zusammen, weil – wie es heißt – alle Disziplinen und Dimensionen mit eingeschlossen werden. An allen Projekten sollen Geistes-, Kultur- und SozialwissenschafterInnen beteiligt sein, die sicherstellen, dass auch kritische Fragen zwischen Freiheit und Sicherheit berücksichtigt werden. KIRAS fördert Projekte zu Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung, Krisenmanagement, Integration, Zuwanderung, Angst vor Wohlstandsverlust, Industrieunfällen und Klimawandel. KIRAS kooperiert eng mit dem nationalen Sicherheitsrat, und aus Gründen der nationalen Sicherheit kann bei der Förderentscheidung von einem Vergabeverfahren abgesehen werden. Im Gegensatz zur EU-Ebene will man sich bei KIRAS aber klar von Rüstungsforschung abgrenzen, das Programm habe einen eindeutigen und klaren zivilen Fokus, „da Sicherheitsforschung hinsichtlich seiner verteidigungspolitischen Anforderungen keine wehrtechnisch orientierte Materie ist.“
Die Hauptinteressen gelten demnach der subjektiven Akzeptanz der BürgerInnen von Sicherheitsmaßnahmen, der Technikfolgenabschätzung, dem Sicherheitsbewusstsein und der Wahrnehmung von Risiken und Bedrohungen. Ziel der Projekte sei es, nicht nur physische oder materielle „Primärschäden“ abzuwenden, sondern auch die „Verhinderung oder Beseitigung von Sekundärschäden sozialpsychischer oder volkswirtschaftlicher Art wie Vertrauensverlust, Sparverhalten der Bevölkerung, Zukunftsangst oder Panik.“ Dafür sind jetzt die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften da.
Derzeit wird im Rahmen von KIRAS im Auftrag der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft mbH, der nationalen Förderstelle für anwendungsorientierte und wirtschaftsnahe Forschung, bei allen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Instituten angeklopft. Bei einer Erhebung der Forschungsaktivitäten sollen alle Einrichtungen unter „Produkte/Dienstleistungen“ Studien, Umfragen, statistische Auswertungsverfahren, besondere Methodologien etc. angeben, die für die Sicherheitsforschung relevant sein könnten. Eine „Landkarte Sicherheitsforschung Österreich“ soll entstehen. Ziel ist laut Fragebogen, „Akteuren aus den Bereichen Forschung, Bedarfsträger (etwa Behörden) und Industrie eine raschere und effizientere Vernetzung zu ermöglichen“.
Verquickte Karrieren
Dass die Vernetzung in Österreich schon recht fortgeschritten ist, illustriert die Stiftungsprofessur für Europäische Sicherheitspolitik der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck, von 2004 bis 2007 unter der Leitung von Alexander Siedschlag. Als Pendant zur umfassenden Sicherheit bot sie „comprehensive teaching“: eine klare Mission, einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheitsstrategie zu leisten, ein Joint Study- Seminar mit der Landesverteidigungsakademie zu Fragen praktischer Implementierung, das mit einem Strategiepapier abgeschlossen wird, oder zum Beispiel eine Lehrveranstaltung zu den transatlantischen Beziehungen mit der Summer School des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES). Die Bedrohungslagen seien unübersichtlich geworden, heißt es oft im Kontext der Sicherheitsdebatten. Dieser Zustand mache neues Wissen, neue Expertise nötig. Ein Resultat ist, dass die Wissenswege selbst unübersichtlich werden. Eine Forschungsbiografie kann da vom Politikwissenschaftsinstitut zu einer staatlich finanzierten Denkfabrik führen, vom Stipendiaten der nationalen Forschungsförderung wird jemand NATO-Fellow, nach der Stiftungsprofessur des Verteidigungsministers sitzt man in einer ministeriellen Wissenschaftskommission, evaluiert und berät für die Europäische Kommission, wird mit eigenem Miniinstitut Professor an einer Privatuniversität und richtet zugleich als Juror im Forschungsförderungsprogramm über Sinn und Unsinn anderer wissenschaftlicher Ambitionen.
Von einer zunehmenden „Kolonisierung“ der Teilsysteme Politik, Medien und Wissenschaft bis hin zum Verschwimmen ihrer Grenzen spricht Klaus Segbers, Politikwissenschaftler an der FU Berlin, im „Handbuch Politikberatung“. Jeder Teilbereich würde über Teilmärkte mit Wahlerfolgen, Zuschauerratings und akademischen Leistungsmerkmalen und der jeweiligen Beschleunigungslogik betrieben, „zu Lasten seiner reflexiven Kompetenz“.
Die Legitimierungsfalle
Gerade bei konkreter Gefahr aber, beruft sich Segbers auf Studien, seien PolitikerInnen besonders „beratungsresistent“. Je dramatischer die Krise, je höher der Zeitdruck sei, desto größer die Neigung, abweichende Positionen herauszudrängen oder nicht zuzulassen. Dazu gilt für Österreich, dass sich im Gegensatz zu Deutschland nie ein professioneller Politikberatungsmarkt herausgebildet hat. Wenn es um das entscheidende Wort geht, dominieren neokorporatistische Strukturen in Nähe von Interessensvertretungen und Parteien.
Im Namen neuer Bedrohungsszenarios werden Wissenschaften, die sich oftmals als „kritisch“ verstehen oder verstanden haben, also auf den Sicherheitsplan gerufen und über Förderprogramme in die politischen Projekte europäischer Regierungen wie Migrationskontrolle oder den deutschen Einsatz in Afghanistan integriert. Sie beeinflussen dabei Entscheidungen weniger als sie sie legitimieren. Die Transformation des universitären Felds trägt dazu bei: Reduktion der (Basis-) Finanzierung, Zwang zu Drittmittelakquise, Evaluierung nach betriebswirtschaftlichen Kriterien, verschärfter Wettbewerbsdruck. Lange wurde den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften vorgeworfen, kein anwendbares und verwertbares Wissen zu produzieren. Nun haben sie die Option, ihre Existenz zu sichern, indem sie die Akzeptanz der BürgerInnen für polizeilich-militärische Maßnahmen erschließen und somit zugleich ihre eigene im Forschungsbetrieb.