Der Lissabon-Vertrag gibt Mandataren mehr Recht auf Mitentscheidung. Bloß weiß niemand, wo genau.
[diepresse.com] Während in den Büros der EU-Institutionen angesichts des Inkrafttretens des Lissabon-Vertrages noch der Nachhall knallender Champagnerkorken zu vernehmen ist, entspinnt sich zwischen dem Europaparlament und den Regierungen der Mitgliedstaaten ein zähes Ringen um die neuen Mitbestimmungsrechte der 750 EU-Mandatare. Vor allem in den hochbrisanten Bereichen polizeiliche Zusammenarbeit, Datenschutz und Zugang zu allen Dokumenten der EU-Institutionen, von Rat über Europäischen Gerichtshof bis zu Europol, tobt ein Streit um Zuständigkeiten, der große Folgen dafür hat, wie mit den Grundrechten von Europas Bürgern umgegangen wird.
Vereinfacht gesagt, bekommt das Parlament durch den Lissabon-Vertrag das Recht, bei Fragen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mitzubestimmen. Dieses Vetorecht wertet das Parlament, das sich angesichts der kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung und der großen Distanz zu seinen Wählern unter ständigem Rechtfertigungsdruck findet, stark auf. Ausgenommen sind, wieder vereinfacht gesagt, Bestimmungen, die nur die „operative Zusammenarbeit“ der Behörden regeln. Hier muss das Parlament nur angehört werden.
Der Grundsatz der „Offenheit“
Bei näherem Hinschauen aber sind viele Fragen offen. Zum Beispiel steht im Artikel 16a des Vertrages, dass die „Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter weitestgehender Beachtung des Grundsatzes der Offenheit“ zu handeln haben, um „eine verantwortungsvolle Verwaltung zu fördern und die Beteiligung der Zivilgesellschaft sicherzustellen“. Das betrifft die Institutionen wie Rat, Kommission und Parlament, aber auch EU-Agenturen wie die Grenzschutzagentur Frontex. Bloß: Wie soll zum Beispiel die Polizeikoordinierungsstelle Europol, deren Tätigkeiten einen hohen Grad an Vertraulichkeit mit sich bringen, dem „Grundsatz der Offenheit“ Genüge tun?
Diese Frage stellt sich auch der sogenannte Libe-Ausschuss im Europaparlament, der sich mit den Themen Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres befasst. Die rechtlichen Unklarheiten sind derart groß, dass dieser wichtige Ausschuss derzeit kaum mit seinen Dossiers vorankommt.
Sein Vorsitzender, der spanische Sozialist Juan Fernando López Aguilar, hat darum einen Brief an den juristischen Dienst des Parlaments geschickt, in dem er nach Aufklärung fragt.
Wer prüft Europol – und wie?
Offen ist weiters die Frage, wie das Parlament bei internationalen Abkommen mitentscheiden darf, die zum Beispiel die Weitergabe persönlicher Daten von Flugpassagieren betreffen. „Soll diese Zustimmung als Voraussetzung für die Abkommen gesehen werden?“, fragt Aguilar in seinem Brief, der der „Presse“ vorliegt.
Unklar ist auch, welchen Charakter die neue Zusammenarbeit des Europaparlaments mit den nationalen Volksvertretungen haben soll, wenn es um die Kontrolle von Europol und Eurojust geht, dem Netzwerk europäischer Strafverfolgungsbehörden zur Bekämpfung von Schwerverbrechen. Der Vertrag sieht vor, dass die Parlamente die Arbeit dieser Agenturen evaluieren müssen. Was das genau heißt, wird der Rechtsdienst des Parlaments erläutern – und damit wohl gegenläufige Ansichten der Juristen im Sekretariat des Rates provozieren.
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