Amnesty International fordert von Spanien ein Ende der Incommunicado-Haft. Zusammenfassung und Erläuterung des Berichts.
[de.indymedia.org] Seit
mehr als einem Jahrzehnt weigern sich spanische Regierungen, dem
Drängen von UN-Organisationen, dem Europäischen Komitee zur Verhütung
von Folter (CPT), sowie Menschenrechtsgruppen nachzukommen und die
Incommunicado-Haft aus ihren Gesetzen zu entfernen. Stattdessen hat
Spanien 2003 die Gesetzgebung für die Anwendung der Incommunicado-Haft
bei Terrorismus-Verdacht sogar noch verschärft.
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Eine
Person, die nach ihrer Verhaftung in Incommunicado-Haft genommen wird,
ist für fünf Tage völlig von der Außenwelt abgeschnitten in den Händen
der Polizei. Ein Anwalt oder ein Arzt eigenen Vertrauens ist nicht
zugelassen, Familie oder Freunde werden nicht informiert. Ein Richter
muss die Incommunicado-Haft genehmigen, sieht aber normalerweise den
Gefangenen oder die Gefangene während der ersten fünf Tage nicht. Bei
Terrorismus-Verdacht kann diese Periode auf maximal 13 Tage ausgedehnt
werden. Die spanische Polizei wendet Incommunicado-Haft systematisch
bei Verhaftungen im Kontext des spanisch-baskischen Konflikts an. Fast
alle Formen des Protests, ob friedliche, politische Aktivitäten oder
gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen,
werden dort seit Jahren als „Terrorismus“ klassifiziert.
Amnesty International hat nun am 14. September 2009 der Öffentlichkeit ihren Bericht „Aus dem Dunkeln ans Licht“
vorgestellt, in dem sie in scharfer Form ein Ende der
Incommunicado-Haft fordert. Auf 20 Seiten beschreibt Amnesty
International die Gesetzgebung und die alltägliche Praxis zwischen
Polizei, Richtern und den vom Staat bestimmten Anwälten und Ärzten. Die
wenigen vorgesehenen Kontrollmaßnahmen gelten als Misstrauensbeweise
gegen die Polizei und finden deshalb kaum Anwendung.
AI: „Folter und Misshandlungen ohne Konsequenzen“
Amnesty
International spricht von einem Klima, in dem die Polizei Folter und
Misshandlungen begehen kann, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen und
„sieht
die Incommunicado-Haft, die spanisches Gesetz ist, als eine Verletzung
der internationalen Menschenrechtsgesetze, zu deren Einhaltung Spanien
verpflichtet ist. Kein anderes Land in Europa hat ein Haftsystem, das
die Rechte der Inhaftierten in solch gravierender Weise beschränkt. Die
häufigen Vorwürfe der Folter und anderen Misshandlungen von
Inhaftierten, die in Incommunicado-Haft gehalten wurden, zeigt die
schwerwiegenden Konsequenzen, die dieses System haben kann.“
Amnesty International weist darauf hin, dass bereits 1997 die UN-Menschenrechtskommission „eine längere Periode der Incommunicado-Haft als eine Form grausamer, inhumaner und degradierender Behandlung“
beschrieben hat. Die Berichte von Häftlingen, die durch diese
Incommunicado-Hölle gezwungen wurden, zeigen: Folter, Misshandlungen
und sexuelle Übergriffe werden verwendet zur Einschüchterung, als
Racheaktionen, als Druckmittel, um Aussagen zu erpressen oder um die
Unterschrift unter bereits vorgefertigte Geständnisse zu erzwingen.
Im Abschnitt „besondere Bedenken“
zeichnet Amnesty International ein erschreckendes Bild der Verfehlungen
der am Incommunicado-System beteiligten Richter, Anwälte und Ärzte. Die
Informationen hierzu erhielt Amnesty International in verschiedenen
vertraulichen Interviews.
Anwälte, Richter und Ärzte
Obwohl die Polizei zu ihren Vernehmungen einen Anwalt zuziehen muss, gibt es oft „inoffizielle“ Vernehmungen, die ohne Anwalt stattfinden. Die Aussagen solcher „inoffizieller“ Vernehmungen sind vor Gericht nicht verwertbar, in der Praxis beziehen sich Polizeiberichte auch auf solche Informationen.
Die
ausschließlich staatlich bestellten Anwälte dürfen sich nicht
vertraulich mit ihren Klienten unterhalten. Sie haben zwar im Anschluss
an die Polizeibefragung theoretisch das Recht, Fragen zu stellen.
Vielfach befiehlt die Polizei den Anwälten jedoch, den Mund zu halten.
Wer sich daran nicht hält, erfährt von der Polizei in „aggressiver und einschüchternder Form“, wer hier das Sagen hat.
Richter müssen der Incommunicado-Haft zwar in schriftlicher Form zustimmen. Bei „Terrorismus-Verdacht“
wird ein solcher Antrag von der Polizei jedoch systematisch gestellt
und von den zuständigen Richtern des Sondergerichtshofs Audiencia
Nacional systematisch per „copy-paste“ ohne individuelle Prüfung genehmigt.
Seit
2008 können Richter auch die Videoüberwachung der Incommunicado-Periode
anordnen. Dies schließt jedoch die Überwachung der Verhöre nicht ein.
Außerdem hat Amnesty International festgestellt, dass Videoüberwachung
nur in etwa 50% der Fälle angeordnet wird. Da die Polizei dies als
einen persönlichen Misstrauensbeweis des Richters sieht, verzichtet
dieser oft auf die Überwachung.
Auch der Arzt wird wie der Anwalt
staatlich bestimmt. Oft überwachen Polizisten auch die medizinische
Untersuchung. Die zugewiesenen Ärzte sind zudem oft nicht ausgebildet,
Misshandlungen zu erkennen. Amnesty International zitiert eine
wissenschaftliche Studie, der 425 Berichte solcher Ärzte zugrunde
liegen, die in den Jahren 2000-2005 über baskische Häftlinge in
Incommunicado-Haft angefertigt wurden. Allein die Zahl zeigt das Ausmaß
der Anwendung der Incommunicado-Haft im Zusammenhang mit dem
spanisch-baskischen Konflikt.
Die Studie kommt zu dem vernichtenden Ergebnis, dass die Qualität der Berichte „inakzeptabel“
sei und keinen Schluss zu ließen, ob Verletzungen der Häftlinge durch
Misshandlung entstanden sein könnten. Die schlechte Qualität solch
wichtiger Beweismittel gibt dem Häftling kaum Chancen, Anzeigen wegen
Folter und Misshandlungen zu belegen. Außerdem unterstellen spanische
Behörden im Falle baskischer Incommunicado-Häftlinge, die Folter
anzeigen, also für die große Mehrheit der Fälle, eine „organisierte, kriminelle Strategie, um den Staat zu diskreditieren.“
Amnesty International bewertet dies wie folgt:
„Wo
solche Annahmen gemacht werden, bevor eine ernsthafte Untersuchung
dieser Anschuldigungen erfolgte, entsteht ein Klima, in dem Folter und
Misshandlungen begangen werden können, ohne Konsequenzen befürchten zu
müssen“
Empfehlungen von Amnesty International an Spanien
Amnesty
International fordert ein Ende der Incommunicado-Haft und wendet sich
an die einzelnen, für die Aufrechterhaltung des Incommunicado-Systems
verantwortlichen Stellen:
An den spanischen Justizminister:
ein Ende der Incommunicado-Haft durch Streichung der entsprechenden
Strafrechtsparagraphen; das Recht auf die freie Wahl eines Anwalts und
auf die Anwesenheit eines Anwalts in allen Vernehmungssituationen; das
Recht auf medizinische Untersuchung, auf Wunsch durch einen Arzt der
eigenen Wahl; das Recht unmittelbar nach der Verhaftung Angehörige oder
eine andere Person des Vertrauens über die Verhaftung und das Gefängnis
zu unterrichten.
An den spanischen Innenminister:
Video- und Audioaufnahmen in allen Bereichen von Polizeistationen, in
denen sich Häftlinge aufhalten, mit Ausnahme der Bereiche, in denen
solche Aufnahmen die Privatsphäre eines Gesprächs mit Arzt oder Anwalt
verletzt; Video- und Audioaufnahmen aller Verhöre
An die spanischen Justizbehörden:
Anträge auf Incommunicado-Haft zu verweigern; Video- und Audioaufnahmen
für die Dauer der Inhaftierung anzuordnen; einen Anwalt und einen Arzt
freier Wahl zu genehmigen; sicherzustellen, dass alle Verhafteten so
früh wie möglich persönlich vor einem Richter erscheinen; die
Verantwortung für die Überprüfung der Haftbedingungen wahrzunehmen.
An die Polizei:
sicherzustellen, dass Polizeibeamte keine Vernehmungen ohne Anwalt
durchführen; sicherzustellen, dass Polizeibeamte Anwälte nicht in der
Ausübung ihrer Arbeit behindern; unverzüglich ernsthafte und effiziente
Untersuchungen einzuleiten, sobald der Verdacht auf Misshandlungen
besteht und die Ergebnisse den Justizbehörden weiterzuleiten.
An die Ärzte:
darauf zu bestehen, alle medizinischen Untersuchung außer Sicht- und
Hörweite von Polizeibeamten durchzuführen; sicherzustellen, dass
Untersuchungen den internationalen Richtlinien zur Untersuchung von
Folterfällen genügen. Berichte sollten eine Aussage des Arztes zu
möglichen Misshandlungen enthalten.
Beispiel 1: Unterschrift unter vorgefertigtes Geständnis
Der
baskische Jugendliche Iñigo Alzelai, wird nach fünf Tagen Tortur auf
Kaution freigelassen. Auf einer Pressekonferenz am 7.4.2009 berichtet
er: „Ich erhielt Ohrfeigen mit offener Handfläche, Schläge am
ganzen Körper, Drohungen. Sie fragten mich über meine Freunde aus, über
andere junge Leute aus Hernani … Die Schläge wurden jedes Mal schlimmer
… Sie sagten mir, wenn ich kooperiere, lassen sie mich in Ruhe. Es
waren viele, alle vermummt … am Schluss begannen (zwei Polizisten),
meine Erklärung zu schreiben. Es war ihre Erklärung. Ich habe nichts
beigetragen. Sie sagen Dir, … dass sie Dich nicht in Ruhe lassen, bis
Du diese Erklärung unterschrieben hast. In Deiner Verzweiflung weißt Du
nicht, was Du machen sollst, es sind fünf Tage. Du willst nicht noch
mehr Schläge und am Ende unterschreibst Du. Man denkt, dass sie einen
ins Gefängnis stecken … Am Schluss ließen sie mich frei … Die
Solidarität der Leute in Hernani ist großartig … Aber ich denke an
die Freunde, die ins Gefängnis mussten …"(weitere Details)
Beispiel 2: Nach Folter auf die Intensivstation
Igor
Portu wurde zusammen mit Mattin Sarasola im Januar 2008 im Baskenland
verhaftet und Incommunicado gehalten. Einen Tag nach seiner Verhaftung
wurde er mit schwersten Verletzungen auf die Intensivstation des
Krankenhauses in Donostia (span: San Sebastian) eingeliefert (siehe
Foto). Die Polizei behauptete, die schweren Verletzungen hätten sich
durch den Widerstand während der Verhaftung ergeben. Die vielen
Stunden, die zwischen Verhaftung und Einlieferung ins Krankenhaus
vergangen waren, konnte sie nicht erklären.(weitere Details)
Beispiel 3: Foltervorwurf des Chefredakteurs der baskischen Zeitung Egunkaria
Im
Februar 2003 wurde die Zeitung Egunkaria verboten und der Chefredakteur
Martxelo Otamendi mit neun Journalisten festgenommen. Der renommierte
Journalist Otamendi beschrieb später vor dem baskischen Parlament, wie
er tagelang gefoltert wurde. Im September 2008 klagte er vor dem
europäischen Menschengerichtshof, weil seine Foltervorwürfe von der
spanischen Justiz nicht untersucht worden waren. Im November 2009 wird
das Verfahren wegen angeblicher ETA-Mitgliedschaft eröffnet, obwohl
selbst die Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen für die
Einstellung plädiert hatte.
Baskische
Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Folterfälle in
spanischen Gefängnissen im baskisch-spanischen Konflikt der letzten 30
Jahre auf etwa 7000.
Beispiel 4: Film: Das zerbrochene Fenster (mit deutschen Untertiteln)
Spanien,2003
(27 min.), von Eñaut Tolosa und Hammudi al-Rahmoun; Inhalt: drei
baskische Jugendliche berichten über Verhaftung und Incommunicado-Haft,
ein Richter aus Madrid kommentiert(weitere Details)
Source: de.indymedia.org