Die Globalisierung der Überwachung

Schengen, Europol, Eurodac und die EU-FBI-Überwachungspläne.

[heise.de] Verwaltungsregister wurden in der europäischen
Geschichte nicht nur benutzt, um Einzelne, sondern auch ganze
Bevölkerungsgruppen zu erfassen. Das Schicksal der Juden und anderer
Bevölkerungsgruppen in den 30er und 40er Jahren ist nur ein Beispiel
unter vielen.

So sollen deutsche
Besatzungstruppen in Norwegen während des Zweiten Weltkriegs
verschiedene Bevölkerungsregister benutzt haben, die zu
unterschiedlichen Zwecken eingerichtet wurden, um norwegische Juden zu
verfolgen. Über 50 Prozent der 1400 Juden in Norwegen waren 1942
ausgelöscht, in Dänemark waren es hingegen nur 1 Prozent von 5600.

Warum war der Prozentsatz in Norwegen so viel höher? Dafür gibt es
mehrere Gründe: Unter anderem hatte Norwegen Register, die sich ganz
speziell auf Juden bezogen. Die norwegische Verfassung von 1814
untersagte den Zuzug von Juden nach Norwegen. 1851 wurde das Verbot
aufgehoben, dafür wurde jedoch ein eigenes Register eingerichtet: Ab
1866 registrierte das norwegische Büro für Volkszählung die Juden als
eigene Bevölkerungsgruppe.

Für die deutsche Besatzungsmacht war die Volkszählung nützlich, auch
für die norwegischen Nazis. Auch das Register des norwegischen
Radioamtes erwies sich als nützlich: Gleich nach der deutschen Invasion
1940 ordneten die deutschen Behörden an, alle Radios, die Juden in der
Hauptstadt gehörten, zu beschlagnahmen. Für diesen Zweck konnte das
Register des Radioamtes genutzt werden. Folglicherweise konnten auch
die Juden selbst so ermittelt werden.

Verwaltungsregister können von unkontrollierten Polizeikräften
missbraucht werden, aber auch von der politischen Obrigkeit, wenn der
politische Wind aus der richtigen Richtung weht und die Zeit reif ist –
wie es im Fall von Norwegen während des Zweiten Weltkriegs der Fall
war. Die neuen, technisch extrem innovativen, kombinierbaren,
versteckten, grenzüberschreitenden, unkontrollierbaren datenbasierten
Registriersysteme, die sich derzeit entwickeln, stellen eine enorme
Gefahr dar, die von niemandem ignoriert werden kann, der sich mit der
Kontrolle von Polizei und Politik beschäftigt.

Ich werden mit dem Schengen-System beginnen, da es bereits recht gut
funktioniert. Andere Systeme hingegen sind noch im Planungs-, Entwurfs-
oder Ratifizierungsstadium. Die zentrale Bedeutung von Schengen wird
sich verringern, wenn diese anderen Systeme an den Start gehen.
Besonders Europol, mit seinem Europol-Computersystem wird vermutlich
eine Führungsrolle einnehmen.

Schengen

1985 trafen Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten eine
Vereinbarung in der kleinen Stadt Schengen in Luxemburg. Die
Vereinbarung zielte auf die gegenseitige Anerkennung von Visa und eine
verstärkte polizeiliche Zusammenarbeit. Der Hauptpunkt der Vereinbarung
bestand darin, die nationalen Grenzkontrollen zwischen den Ländern
abzubauen, während gleichzeitig entlang der Außengrenzen die Kontrollen
verstärkt werden sollten.

1990 trafen dieselben Länder ein neues Abkommen, wieder in
Schengen. Dieses Abkommen ist als Schengen-Konvention bekannt und es
erfüllt die Vereinbarungen von 1985. Es regelt eine Reihe kritischer
Fragen zu Grenzkontrollen und grenzüberschreitenden Fahndungen sowie
zum grenzüberschreitenden Datenaustausch einschließlich der Erfassung
von Personen und Objekten. Das Abkommen ermöglicht eine weitreichende
Erfassung und Überwachung großer Bevölkerungsgruppen in den betroffenen
Ländern. Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Österreich
schlossen sich der Vereinbarung an. Großbritannien und Irland hielten
sich zunächst zurück, da sie ihre nationalen Grenzkontrollen
beibehalten wollen. Am 20. Mai 1999 bat Großbritannien formel darum, am
SIS teilnehmen zu können, Irland folgte kurze Zeit später.

1999 ergab sich eine wichtige Veränderung. Am 1. Mai trat der
Amsterdamer Vertrag in Kraft, der von den EU-Außenministern am 2.
Oktober 1997 unterzeichnet worden war. Mit ihm wurde das
Schengen-System in die EU-Strukturen, teilweise in den ersten Pfeiler,
teilweise in den dritten Pfeiler integriert. Der
Schengen-Exekutivausschuss wurde durch den Rat für Justiz und Inneres
ersetzt.

Diese Integration
erweitert den Einfluss verschiedener Schengen-Vereinbarungen wie die
datenbasierte Erfassung und das Überwachungssystem. Hinzu kommt, dass
sich nun die ganze Schengen-Organisation auf Hunderte von
EU-Einrichtungen und Arbeitsgruppen verteilt und sich in Zehntausenden
von EU-Dokumenten niederschlägt. Damit werden die Schengen-Aktivitäten,
die bereits vorher nur sehr schwer zu verfolgen waren, künftig noch
schwieriger zu untersuchen und zu kritisieren sein – zumindest für
Außenstehende. Die nordischen EU-Mitgliedsstaaten – Finnland, Schweden
und Dänemark – haben ebenfalls Schengen ratifiziert, die nordischen
Nicht-EU-Mitgliedsstaaten – Norwegen und Island – haben eine so
genannte Kooperationsvereinbarung mit der EU abgeschlossen.

Aufgrund von Schengen
entsteht ein weitreichendes System und Netzwerk polizeilicher
Zusammenarbeit, Datenerfassung und Überwachung.
Aufgrund von Schengen entsteht ein weitreichendes System und Netzwerk
polizeilicher Zusammenarbeit, Datenerfassung und Überwachung – von
Island im Norden bis zum Mittelmeer im Süden, von der Spitze von
Portugal im Westen bis zur deutsch-polnischen Grenze im Osten. Das ist
zu Beginn des Jahres 2000 eine Realität. Da das Schengen-Abkommen die
Grenzkontrollen an den gemeinsamen Außengrenzen verstärkt, ermöglicht
es verschiedene Arten verdeckter Polizeiaktionen, dazu gehört auch die
grenzüberschreitende Kooperation. So autorisiert Artikel 40 die
Observation über nationale Grenzen hinweg bei Personen "die unter dem
Verdacht stehen eine Straftat begangen zu haben".

Das Schengen-Informationssystem (SIS)

Mit dem
Schengen-Informationssystem (SIS) verfügen europäische Strafverfolger
bereits über ein einheitliches und erfolgreiches polizeiliches
Fahndungsinstrument. Das SIS hat ein Gesamtvolumen von rund 9,5
Millionen Fahndungsdatensätzen, Tendenz steigend. Dabei handelt es sich
überwiegend um Sachfahndungsausschreibungen. In der Personenfahndung
sind derzeit 10.000 Straftäter zur Festnahme zwecks Auslieferung und
circa 750.000 zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben.

Nach Auskunft von Klaus-Henning Schapper, Staatssekretär im
Bundesinnenministerium, konnten 1998 "rund 8.500 Fahndungstreffer
aufgrund deutscher Ausschreibungen in anderen SIS-Teilnehmerstaaten
registriert werden". Umgekehrt führten die Fahndungsnotierungen anderer
Schengen-Staaten zu "über 4.600 Treffern in Deutschland". Nach Ansicht
von Schapper müssen sich künftig "Schengen und Interpol im Bereich der
Fahndung ergänzen". Für ihn ist es "wichtig, dass der geplante
Zusammenarbeitsvertrag zwischen Europol und Interpol zügig
vorangebracht wird". Europol, die G-8-Staaten und die
Financial-Action-Task-Force (FATF) planen, künftig Informationen über
verdächtige Geldwäschetransaktionen aufeinander abzustimmen.

Das
Schengen-Informationssystem hat eine zentrale Datenbank in Straßburg,
sowie nationale SIS-Datenbanken in allen Schengen-Staaten. In allen
Datenbanken sind dieselben Daten gespeichert. 1995 hatten 30.000
Computer in den sieben Schengen-Staaten Online-Zugang über ihre
nationalen SIS-Datenbanken zum Schengen-Informationssystem. 1997 gab es
nach Angaben des Statewatch European Monitor[1] in den neuen
Schengen-Staaten bereits 48.700 Zugangsknoten. Am 26. März 1996 wurden
nahezu 3,9 Millionen Datensätze gespeichert. Deutschland und Frankreich
waren die Hauptnutzer. Informationen über Hunderttausende von Personen
wurden gespeichert, damals wurde die Kapazität des Systems auf neun
Millionen Einträge geschätzt. Für jedes folgende Jahr stiegen die
Zahlen: Von 5,6 Millionen 1997 bis zu 8,8 Millionen 1998.[2]

Erweiterungen wie die Integration der nordischen
Länder in das System sind geplant. In einem Bericht des deutschen
Innenministeriums von 1997 wird folgendes über die Integration der
nordischen Staaten gesagt:

"Es wurde beschlossen, das SIS komplett einem Redesign zu unterwerfen,
um die fünf nordischen Staaten zu integrieren. Der Integration der
nordischen Staaten wird eine zweite technische Generation des SIS
folgen. Dieses neue SIS II wird so ausgelegt, dass die Integration
künftiger Mitgliedstaaten jederzeit technisch möglich sein wird."

Sirene

Das SIS ist nur ein System für den Informationsaustausch in Schengen, das andere System heißt Sirene, eine Abkürzung für Supplément d’Information Requis a l’Entrée Nationale.
Sirene soll den bilateralen und multilateralen Austausch erleichtern
sowie ergänzende Informationen über Personen und Objekte, die im SIS
registriert sind, liefern. Über das Sirene-System können
Polizeibehörden in einem Land über eine Person, die im SIS eines
anderen Landes registriert ist, zusätzliche Ergänzungsinformationen
anfordern. Das SIS speichert ziemlich begrenzte und standardisierte
Informationen. Die nationalen Sirene-Einheiten können hingegen mit
weitreichenden, nicht-standardisierten Informationen oder "weichen"
Daten umgehen. Auch von den Leuten, die in den Sirene-Büros arbeiten,
wird explizit betont, dass solche Informationen sehr unpräzise sein
können und nahezu alles beinhalten können. Der Direktor des
portugiesischen Sirene-Büros sagte im norwegischen Fernsehen über das
Sirene-System im März 1997 folgendes:

"Die Konvention bestimmt, wer Zugang zu dem
System hat. Generell hat die Polizei Zugang. Sie sind natürlich auf
Flughäfen und in Seehäfen und können Mobiltelefonate abhören. Jederzeit
haben sie zu den Informationen Zugang. (…) Es ist ein schnelles
System. Es ist auf dem neuesten Stand. Es gibt Massen von
Informationen. Und natürlich ist das System effizienter als das
traditionelle Interpol-System."

Informationen über
Sirene werden in der Arbeitssprache Englisch ausgetauscht. Da es nicht
die Sprache des Schengen-Landes ist, wird es "Schenglisch" genannt. Das
Sirene-System formalisiert und legitimiert den Informationsaustausch
zwischen den Polizeibehörden in den verschiedenen Staaten. Es gibt ein
umfassendes Handbuch das, wie bereits zuvor erwähnt, geheim gehalten
wird. Teile des Handbuches wie auch Zusammenfassungen sickerten an die
Öffentlichkeit heraus und wurden bereits veröffentlicht.[3] Laut
Handbuch kann die Kommunikation zwischen den Sirene-Büros mündlich oder
schriftlich erfolgen, aber auch über Bilder (Fotos, Fingerabdrücke).
Der Text- und Bilderaustausch erfolgt über das Sirene-eigene
Email-System, für die mündliche Kommunikation wird das Telefon benutzt.
Die Sirene-Büros sollen Anfragen "so schnell wie möglich" beantworten:
"Die Zeit sollte zwölf Stunden nicht überschreiten".[4]

Zu den übermittelten Informationen gehören laut Artikel 46 des Schengen-Abkommens alle Informationen "von Interesse, um künftige Verbrechen zu verhindern und Straftaten gegen oder Bedrohungen
der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern" (kursiv durch
Autor). Dies bedeutet, dass kein konkreter Verdacht vorliegen muss. Der
Artikel ermöglicht den bilateralen und multilateralen Austausch von
Informationen bei sehr diffusen Angelegenheiten, die sicherlich auch
politische Aktivitäten beinhalten, wenn sie als Bedrohung definiert
werden. Wie auch das SIS wird das Sirene-System ständig erweitert. Das
Arbeitsprogramm des deutschen Schengen-Vorsitzes im Herbst 1998 sah
vor, "den Informationsaustausch auf der Basis der endgültigen
Implementierung des Sirene-Netzwerkes, Phase II, zu modernisieren und
zu beschleunigen".

Präventive Verbrechensbekämpfung?

Die norwegischen
Behörden haben mehrmals behauptet, dass der Zweck von Schengen die
Bekämpfung herkömmlicher, schwerer, internationaler Verbrechen ist.
Auch die Schengen-Behörden selbst haben beispielsweise im
Arbeitsprogramm des österreichischen Schengen-Vorsitzes im Herbst 1997
die Bekämpfung des internationalen Verbrechens hervorgehoben. Die
Fakten sehen jedoch anders aus. Statistische Informationen aus
Deutschland sowie statistische Informationen und Berichte von Schengen
zeigen, dass das Schengen-System zu einem großen Ausmaß sich mit
Identitätsausweisen und unerwünschten Ausländern beschäftigt, wie
beispielsweise Asylsuchenden, denen die Einreise verweigert wurde und
die in den Untergrund gegangen sind.

Die Zahlen zeigen, dass die Schengen-Grenzkontrolle
hinsichtlich des organisierten Schleusertums komplett versagt. Von
563.423 Kontrollmaßnahmen an den Außengrenzen bezogen sich 41 Prozent
auf die Einreiseverweigerung von Drittstaaten, 28,5 Prozent auf Bürger
von Drittstaaten ohne Aufenthaltsgenehmigung nahe der Grenze, 24,5
Prozent auf die Rückkehr von Drittstaaten-Bürger in Drittländer, 3
Prozent auf Drittstaaten-Bürgern mit Besitz gefälschter Dokumente und
lediglich 0,5 Prozent auf festgenommene Schleuser. Obwohl auch Inländer
vom Schengen-System betroffen sind, werden Ausländer vermutlich in der
Zukunft die Hauptbedrohung für die öffentliche Ordnung und die
Staatssicherheit darstellen: Die muslimische "Bedrohung" beispielsweise
stellt "einen neuen Feind" nach dem Untergang der Sowjetunion und dem
Verschwinden "der kommunistischen Bedrohung" dar. Aus diesem Grund
wurde Schengen auch als "Festung Europa" bezeichnet.

Der "Entwurf des Schengen-Handbuchs zur polizeilichen Zusammenarbeit
zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" lässt
auf eine stärkere Kooperation in der Zukunft schließen. So können
Polizeibehörden "gemeinsame Kommando- und Koordinationszentren"
einrichten.

In der Erklärung des Exekutiv-Komitees vom 16. September 1998 wird
dasselbe angedeutet: So wird die Schengen-Zentralgruppe angewiesen "zu
untersuchen, ob die Beratung und Unterstützung durch die Beamten eines
Vertragstaates im Rahmen der Kontrollen der Außengrenzen durch einen
anderen Vertragsstaat die Sicherheit der äußeren Schengen-Grenzen
verbessern würde" und "falls notwendig schnell einen Plan zu entwerfen
für eine entsprechende Entsendung von Verbindungsoffizieren an die
Außengrenzen". Im Klartext bedeutet dies, dass beispielsweise ein
deutscher Verbindungsoffizier entlang der italienischen Küste
stationiert werden kann. Offensichtlich besteht der nächste logische
Schritt darin, eine gemeinsame Polizeieinheit an den Schengen-Grenzen
zu installieren, die mit der Umsetzung des Amsterdamer Vertrages
möglicherweise in das entstehende Polizeikorps von Europol integriert
werden kann.

Zwar gibt es das Schengen-System erst seit einigen
Jahren, aber es gibt bereits konkrete Beispiele dafür, dass das System
direkt für politische Zwecke eingesetzt wurde. So wurde im September
1998 einer Greenpeace-Aktivistin, die gegen die französischen
Atombombentests 1995 protestiert hatte und von Frankreich als
unerwünscht deklariert wurde, die Einreise in die Niederlande
verweigert. Sie wurde im Amsterdamer Flughafen Schipol festgehalten.
Grund: Sie war zu einer "unerwünschten Ausländerin" laut Artikel 96 des
Schengen-Abkommens erklärt worden.[5]

Ein weiteres Beispiel: Während des EU-Gipfels in Amsterdam im Juni 1997
gab es politische Demonstrationen. Nach Angaben der Polizei wurden 609
Personen verhaftet. Tatsächlich wurden mehr Leute in Haft genommen,
darunter auch eine Gruppe von Italienern, die verhaftet und abgeschoben
wurde. 29 Dänen wurden verhaftet und nach Dänemark mit Hilfe eines
Militär-Flugzeuges abgeschoben, das von einem Kampfflugzeug eskortiert
wurde. Die dänische Konsulin in Amsterdam protestierte, da es ihr nicht
erlaubt war, die in Gewahrsam genommenen Dänen zu besuchen. Mehrere
schwedische Bürger wurden ebenfalls abgeschoben. Später wurde Opfern
von Polizeibrutalität Schadensersatz gewährt. Für dieses Beispiel
können wir nicht ohne Zweifel dokumentieren, ob das
Schengen-Informationssystem oder das Sirene-System benutzt wurden oder
ob Demonstranten in diesen Systemen für spätere Zwecke registriert
wurden.

Es ist
höchstwahrscheinlich, dass eine Registrierung stattfand, da die
Demonstrationen direkt gegen zentrale Einrichtungen der EU gerichtet
waren. Beobachter sahen diese Polizeiaktionen, die auch unter Einsatz
von Helikoptern und gepanzerten Fahrzeugen durchgeführt wurden, als
groß angelegtes Trainingsmanöver zum Schutz der mächtigen
EU-Institutionen.

Datenschutz?

Die Sirene-Büros in
den verschiedenen Ländern verwalten auch die nationalen
SIS-Datenbanken. Soweit es Sirene betrifft, gibt es keine allgemein
gültigen Datenschutzregelungen, da Sirene ja nicht einmal im
Schengen-Abkommen erwähnt wird. Dies wurde auch als ernster Fehler von
der "gemeinsamen Supervisionsbehörde" (Joint Supervisory Authority –
JSA) bezeichnet. Für SIS gibt es allerdings spezielle
Datenschutzregelungen im Abkommen.

Das Problem des sogenannten "SIS-Super-User"
Bei der JSA handelt es sich um eine Behörde zur Kontrolle des SIS.
Tatsächlich verfügt sie praktisch über keine Kontrollmöglichkeiten und
kann keine Sanktionen verhängen. In einer Anhörung des norwegischen
Parlaments sagte Georg Apenes, Direktor der norwegischen
Überwachungsbehörde, dass das JSA nicht einmal über ein Telefon
verfüge. In ihrem ersten Bericht von 1997, der den Zeitraum von März
1995 bis März 1997 behandelte, sprach die JSA auch das Problem des
sogenannten "SIS-Super-User" an: Dabei handelt es sich um Nutzer, die
nicht nur Zugang zu jeder Datei im System haben, sondern die auch ohne
Spuren zu hinterlassen Dateien verändern können. Die verschiedenen
Datenschutzregelungen bezeichnete die JSA als "rechtliches Labyrinth".
In ihrem zweiten Bericht von 1998 stellt die JSA fest, dass es "größere
Schwierigkeiten hinsichtlich der Integrität" der Daten gäbe. Im
November und Dezember 1997 zeigte ein Fall die fehlende Kontrolle der
JSA über das SIS-System auf: Geheime Dokumente mit sensiblen
persönlichen Daten wurden in einem belgischen Bahnhof gefunden. Die
Dokumente waren jedem Passanten zugänglich. Auch wurde sensibles
Material in einer Wohnung eines verhafteten Belgiers beschlagnahmt. Der
dänische Justizminister Frank Jensen bezeichnete dies als "ernste
Sicherheitslücke im SIS". Im Dezember 1997 kündigte die belgische
Schengen-Präsidentschaft schließlich an, "den Datenschutz zu einer
Priorität" zu machen.

Weitere Systeme

Schengen ist nicht
das einzige europäische Informationssystem. In den 90er Jahren gab es
eine ganze Reihe weiterer Vorschläge, Entwürfe und tatsächlicher
Einrichtungen von Registrierungs- und Überwachungssystemen in Europa.
Der Überwachungsstaat wird bald zur Realität. Schengen scheint ein
Kernsystem zu sein, auf das sich andere Systeme beziehen. Dazu gehören
das Eurodac-System, EIS sowie die Europol-Datenbank.

Das Dublin-Abkommen, das sich auf Asylfragen
beschränkt, führt zur Einrichtung des so genannten Eurodac-Registers.
Eurodac speichert die Fingerabdrücke von Asylsuchenden, aber auch
andere persönliche Daten. Es soll zu einem "europäischen
Zentralregister" werden. Geplant ist eine Registrierung aller
Asylsuchenden über 14 Jahren in allen EU-Mitgliedsstaaten. Die
Fingerabdrücke sollen bis zu zehn Jahre gespeichert werden können.
Falls eine Person Bürger eines Mitgliedstaates wird, sollen die Dateien
gelöscht werden. Auch die Dateien von Flüchtlingen, denen ein
Flüchtlingsstatus nach dem UN-Flüchtlingsabkommen gewährt ist, sollen
vom allgemeinen Gebrauch ausgeschlossen werden und nur für statistische
Zwecke verwandt werden dürfen.

Bei seiner Sitzung am 3.
und 4. Dezember 1998 kam der Rat für Justiz und Inneres zu der
Übereinkunft, dass Schengen, ungeachtet der Integration von Schengen in
die EU-Strukturen über den Amsterdamer Vertrag, durch Eurodac
unterstützt werden wird. Dies bedeutet, dass das Dublin-Abkommen die
Asylregeln von Schengen bereits ersetzt hat. Es gibt einige weitere
klare Hinweise auf eine klare Integration: Kürzlich wurde
vorgeschlagen, dass Eurodac auch die Fingerabdrücke von so genannten
illegalen Immigranten und nicht nur von Asylsuchenden speichern darf.
Möglich ist der elektronische Austausch von Fingerabdrücken über das
Sirene-Netzwerk.

Parallel zu Eurodac entwickelte eine Arbeitsgruppe in der EU ein
europäisches zentrales Computersystem innerhalb des Generalsekretariats
des Rats für Justiz und Inneres, um Bilder zu speichern und
auszutauschen. Das System heißt FADU (falsche und authentische
Dokumente). Laut einem Memo aus dem dänischen Innenministerium vom
Dezember 1998 "wird das System auf Internet-Technologie basieren und
über eine zentrale Datenbank in jedem Mitgliedstaat über eine sichere
Internetverbindung benutzt werden. In Dänemark wird die Nationalpolizei
darüber verfügen". Bis heute ist Eurodac als "Europäisches
Zentralregister" in der europäischen Geschichte beispiellos. Es
beinhaltet die langfristige beziehungsweise ständige Registrierung und
Überwachung von großen Bevölkerungsgruppen in Europa.

Seit dem 1. Juli 1999 ist Europol eine gemeinsame Polizeieinheit innerhalb der EU (siehe auch "Computer – Daten – Macht"
(1)). Im Gegensatz zu Schengen zielt Europol auf das internationale
organisierte Verbrechen. Die Europol-Computersysteme bestehen aus drei
Untersystemen: Erstens ist es das zentrale Informationssystem, in das
Daten über verdächtige Personen, sowie Personen, die möglicherweise
künftig Verbrechen begehen könnten, eingegeben werden. Zweitens gibt es
Arbeitsdateien zum Zwecke der Analyse. Diese Dateien können nicht nur
ausführliche persönliche Daten, sondern auch mögliche Zeugen, Opfer und
mögliche Opfer, Kontaktpersonen und Verbündete sowie Informanten
beinhalten. Drittens gibt es ein Indexsystem, das darüber Auskunft
gibt, ob eine Information gespeichert ist. Selbst diejenigen, die
innerhalb des Europol-Systems heute arbeiten, geben Probleme offen zu.
So sagte der assistierende Koordinator der Europol Drogeneinheit (EDU –
Einheit, die vor Europol eingerichtet wurde) W. Bruggemann folgendes:

"Die Vorkehrungen zum Datenschutz sind in der Theorie umfangreich, sie
werden aber fatalerweise durch die Schwierigkeit, sie in die Praxis
umzusetzen, unterminiert. Innerhalb der Union hängt das System
erheblich davon ab, in welchem Grade Datenschutz und Bürgerrechte von
jedem einzelnen Polizeibeamten respektiert werden. Das erfordert nicht
nur rigoroses Training, aber auch in vielen Fällen einen radikalen
Kulturwandel bei den nationalen Polizeikräften. […] Wenn hier der
Eindruck hinzu kommt, dass manche Polizeibeamte der Ansicht sind, dass
bei der Verbrecherjagd die Resultate die Mittel rechtfertigen, ist die
potenzielle Gefahr offensichtlich."[6]

Verschärft ist die
jüngste Entwicklung: Der Rat für Justiz und Inneres autorisierte auf
seiner Sitzung am 27. März 2000 Europol-Verhandlungen für den
Datenaustausch mit nicht-europäischen Ländern und Behörden aufzunehmen.
An erster Stelle stehen hier die Verhandlungen mit Interpol, an zweiter
die Verhandlungen mit Ländern wie Kanada, Island, Norwegen, Russland,
der Schweiz, der Türkei und den USA sowie Bolivien, Kolumbien, Marokko
und Peru.(siehe auch: Europol will mit Kolumbien und Russland Daten austauschen (2))

Globale Überwachungssyssteme

Schließlich gibt es
eine internationale Kooperation bei der Überwachung von
Telekommunikation. Zum einen gibt es das Echelon-System, das der
"Militär-Geheimdienst-Gemeinde" dient und ein neues System, das für die
Strafverfolger-Gemeinde geplant ist. Das System, das Telefonanrufe,
E-Mails und Faxe überwachen soll, wurde bislang mit unterschiedlichen
Namen wie Enfopol, Quantico-Gruppe oder ILETS bezeichnet. Ich werde es
nach Tony Bunyan von Statewatch (3) als EU-FBI-Telekommunikationsüberwachungssystem, beziehungsweise EU-FBI-System bezeichnen.

Im November 1995 unterzeichneten die EU-Staaten ein "Memorandum of Understanding"
(4). Darin heißt es, dass Strafverfolgungsbehörden
Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen in Realzeit rund um die Uhr
durchführen können müssen. Auch Verkehrsdaten müssen in Realzeit zur
Verfügung gestellt werden.

Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei dem Memorandum um ein
EU-Dokument. Das Schengen-Abkommen berücksichtigt das Abhören von
Telekommunikation nicht. Sirene speichert jedoch bereits Informationen,
die beim Abhören von Handys gewonnen wurden. Mit der Integration von
Schengen in die EU-Strukturen wird das grenzüberschreitende Abhören auf
der rechtlichen Basis eines Memorandums ermöglicht. Es wird keine
Trennung mehr zwischen EU-Vereinbarungen und Schengen-Vereinbarungen
geben.

1993 veranstaltete das amerikanische FBI eine internationale Konferenz
in der FBI-Akademie in Quantico. Elf Länder innerhalb und außerhalb der
Europäischen Union nahmen an der Konferenz teil. Seither arbeiten diese
Staaten daran, die Anforderungen für das Abhören seitens der
Strafverfolgungsbehörden zu standardisieren. Das Treffen in Quantico
führte zur Gründung des so genannten International Law Enforcement
Seminar, ILETS
(5). Diese Ilets-Gruppe, wurde nach und nach vergrößert und zählte 1995
20 Länder: Die 15 EU-Staaten sowie die USA, Kanada, Hongkong,
Australien und Neuseeland. Das Quantico-Treffen, das auf die Initiative
des FBI zurückgeht, und später die ILETS-Treffen der EU ebneten den Weg
für ein globales Überwachungssystem der Telekommunikation: Das
EU-FBI-System. Das neue europäische Rechtshilfeabkommen (6) legitimiert die grenzüberschreitende Überwachung, aber auch die Überwachung der Schengen-Staaten.

1998 veröffentlichte Telepolis, dass das EU-FBI-System auf das Internet
erweitert werden sollte. Die Pläne zeigen ganz klar, in welche Richtung
die Polizei-Kooperation gehen wird. Fraglich ist, ob diese Pläne
technisch machbar sind. Das so genannte Echelon-System, das bereits
Realität ist, zeigt, dass sie es sind.

Die Echelon-Technologie zielt auf das Abhören von Telekommunikation per
Satellit. Sowohl das EU-FBI-System, als auch Echelon können leicht
teilweise oder ganz integriert werden: Die fortgeschrittene
Echelon-Technologie verbreitet sich und wird bald auch seitens des
EU-FBI-Systems angewandt werden können. Die technologischen
Ähnlichkeiten überlappen und der Austausch von Personal lädt zur
Integration ein. Seinerseits werden die Quantico-Entwicklungen einen
ähnlich wichtigen Unterstützungspfeiler für die Anstrengungen innerhalb
von Schengen mit SIS und Sirene sowie Europol darstellen.

Auf dem Weg zu einem integrierten System

Es gibt eine Tendenz
hin zur Konvergenz und Integration zwischen den verschiedenen
Registrier- und Überwachungssystemen in Europa. Der Amsterdamer
Vertrag, der Schengen in die EU-Strukturen integriert, wird diese
Entwicklung beschleunigen. Ein in die EU-Strukturen verschwundenes
Schengen wird nicht weiter über eigene Entscheidungsstrukturen
verfügen, sodass die Verschmelzung mit Europol, Eurodac und anderen
Systemen näherliegt. Am Horizont können wir die Konturen eines
weitreichenden, zunehmend integrierten, multinationalen Registrier- und
Überwachungssystems ausmachen, dessen Informationen sich mehr oder
weniger frei zwischen den Subsystemen bewegen und große
Bevölkerungsgruppen abdecken.

Natürlich würde auch eine volle technische Integration in dem Sinne,
dass jeder Polizeibeamte Zugang zu jedem Informationsbit haben würde,
die Geheimhaltung unterminieren. Von der Geheimpolizei beispielsweise
in Norwegen wird dies als Problem erkannt. Dies wird dazu führen, dass
spezielle Abteilungen sich mit speziellen Themen beschäftigen, aber mit
wichtigen Personen zwischen den verschiedenen Abteilungen auf
verschiedenen Wegen kooperieren.

Ausgehend von den
heutigen SIS-Zahlen müssen wir damit rechnen, dass Millionen Personen
in einem mehr oder weniger integrierten System gespeichert werden. Eine
Minderheit wird aufgrund vergangener Verbrechen registriert sein. Eine
andere Minderheit aufgrund konkreter Verdachtsmomente. Eine große
Mehrheit wird aus Leuten bestehen, die sich in extrem großen Kreisen um
solche Personen bewegen, sowie Personen, die in einem difusen Sinne als
Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Staatssicherheit betrachtet
werden sowie unerwünschte Ausländer.

Das Schengen-System sowie das geplante
Europol-Computersystem werden in dem integrierten System eine zentrale
Rolle spielen. Zu den Anfangsproblemen wird gehören, dass die
gespeicherten Informationen zu umfangreich sind, sodass verschiedene
Polizei- und andere Behörden mit einem "Information-Overload" zu
kämpfen haben werden.

Die Notwendigkeit einer "alternativen Öffentlichkeit"

Doch das werden nur
die Anfangsprobleme sein. Die Situation erfordert Widerstand. Das
Schlüsselwort ist hier die "alternative Öffentlichkeit". Es geht darum
einen alternativen öffentlichen Ort zu schaffen, wo gut begründete
Kritik und ein von Prinzipien geleitetes Denken wichtige Werte
repräsentieren. Dabei ist die Befreiung von der absorbierenden Kraft
der Massenmedien nötig. Ebenso wichtig ist, dass Graswurzelbewegungen
ihre Selbstachtung und den Glauben an sich erneuern. Schließlich müssen
Intelektuelle wieder zu einem Veranwortlichkeitsgefühl finden.

Im Bereich der Strafrechtspolitik haben wir in
Norwegen mit der Organisation KROM, dem norwegischen Verband für
Strafrechtsreform, so etwas versucht. Über jährliche Konferenzen unter
einer breiten Teilnahme verschiedener Berufsvertreter und Behörden
sowie Seminare und andere Aktivitäten konnten wir ein Informations- und
Meinungsnetzwerk in den relevanten Verwaltungs- und politischen
Systemen aufbauen. Dasselbe könnte auch im Bereich der Überwachung
getan werden: Kriminologen, Juristen und Sozialwissenschaftler sowie
Lehrer, Journalisten, Musiker und Schauspieler könnten einen
öffentlichen Raum für Kritik und Diskussion entwickeln. Sobald die
Leute auch den Hintergrund der komplizierten Technologien erfahren,
bekommen sie ein Gefühl, was vor sich geht und werden besorgt und
engagieren sich.

Dies ist nur eine Möglichkeit, auf das Problem der
Überwachung hinzuweisen. Es gibt natürlich auch andere Wege. Aber
keiner dieser Wege ist breit und bequem. Schließlich möchte ich sagen,
dass der entstehende Überwachungsstaat, der die demokratischen
Strukturen unserer Gesellschaft, wie wir sie kennen, bedroht, eine
ständige Herausforderung an uns, die wir uns politisch oder
wissenschaftlich damit beschäftigen, darstellt.[7]


Thomas Mathiesen, geboren 1933, ist seit 1972 Professor für
Rechtssoziologie und lehrt an der Universität von Oslo, Norwegen. Er
hat über 25 Bücher über Rechtssoziologie, Kriminologie,
Mediensoziologie und politische Soziologie geschrieben, von denen auch
einige ins Deutsche übersetzt wurden.

Literaturangaben

[1]

Statewatch European Monitor, Band 1, Nummer 1,1998, Seite 30

[2]
Aus verschiedenen Ausgaben des Statewatch-Journals.

[3]
Fortress Europe?, Dezember 1996/Januar 1997

[4]
Seite 26 des Sirene-Handbuchs in der dänischen Übersetzung

[5]
Dagbladet, 7. September 1998

[6]
Bruggemann, W.: "Data Protection Issues in Interinstitutional
Information Exchange: The Case of Criminal and Administrative
Intelligence". Vortrag wurde auf dem 6. Schengen-Kolloquium des
European Institute of Public Administration in Maastricht 1998 gehalten

[7]Dieser
Beitrag beruht auf dem von Statewatch im November 1999
veröffentlichten, im Juni 2000 aktualisierten Pamphlet von Thomas
Mathiesen "On Globalisation of Control: Towards an Integrated
Surveillance System in Europe"

Links

(1) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/1/1955/1.html
(2) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/8/8213/1.html
(3) http://www.statewatch.org
(4) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6334/1.html
(5) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6396/1.html
(6) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/8/8204/1.html

Source:
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6861/1.html