Eine andere Gewalt ist möglich

Die "Lücke zwischen Schuss und Schrei" schließen: Demonstration in Rostock und ein Symposium über nicht-tödliche Waffen

Vor zwei Wochen trafen sich Experten aus aller Welt in Ettlingen,
um neue Konzepte zur Lösung von Konflikten im öffentlichen Raum zu
diskutieren. Am letzten Samstag konnte die Theorie der Polizeitechniker
in Rostock einem Praxistest unterzogen werden. Während die Bundeswehr
in Afghanistan mit bayerischer Blasmusik friedlich Konflikte lösen
will, ist an der Heimatfront schon längst das Hamburger "Schwabingrad
Ballett" als Schlachtenkapelle im Einsatz. Ein Vergleich von Konferenz
und der Realität in der Rostocker Innenstadt ergibt zwei sehr
unterschiedliche Versionen davon, wie man die angeblich bestehende
"Lücke zwischen Schrei und Schuss" schließen möchte. Doch eines kann
als sicher gelten: Zur "Deeskalation durch Stärke" (Günther Beckstein)
ist alle Hochtechnologie überflüssig. Solange die Polizei über zwei
Hubschrauber verfügt, braucht sie keine avancierten Schallwaffen.
Chilipfeffer ist effektiver als Mikrowellenstrahler, weil der brennende
Effekt viel länger anhält, als der Schmerz aus einem "elektronischen
Personen-Kontroll-Gerät".

Wo der Vorsatz zu seinem Recht kommt, dass Gleiches mit Gleichem
vergolten werden muss, dass gegen Steine nur Wuchtgeschosse, Gas und
Strom helfen, dort erhalten Medien und Politiker die Bilder, die eine
inhaltliche Diskussion des Anliegens von Demonstranten erübrigen.
Zugunsten der ausschließlichen Fokussierung auf Polizei und Sicherheit.
"Waffen, die wirken sollen, müssen auch weh tun dürfen", sagt
am Montag nach der Schlacht Rainer Wendt von der Polizeigewerkschaft.
Wenn nun "drastische Konsequenzen" gefordert werden, ist das Teil eines
Eskalationsplans, der die Ursachen des Widerstandes außer Acht lässt.

Rostock, 2. Juni, gegen 16 Uhr

"Am Strande", auf dem Feld der Abschlusskundgebung,
eskaliert, wie man sagt, die Gewalt. Auf der einen Seite eine vor- und
zurückrückende Einheit von Polizisten in schwarzen stichfesten
Drillichen, skelettartigen Beinschienen und monumentalen Brustpanzern.
Die Spezialeinsatzkräfte bilden in diesem Moment die "Schildkröte". Das
ist eine Formation, die mit ihrem Vorbild aus der Tierwelt die
umfassende Panzerung gemein, im Unterschied zu diesem, aber auf allen
Seiten Augen hat. Auf der anderen Seite eine Schar wütender
18-Jähriger, die mit Steinen und Holzstöcken werfen und ihre ebenfalls
tiefschwarzen Carhartt-Hoodies im Nahkampf mit den Polizisten
ruinieren. Sie skandieren ihre einzige Textzeile in diesem
Bürgerkriegstheater: "Haut ab, haut ab, haut ab!". Damit sorgen sie
zugleich dafür, dass genau das nicht geschieht.

Den Soundtrack zu dieser Szene liefert die Schlachtenkapelle
"Schwabingrad Ballett", die von der unmittelbar benachbarten Gewalt
unversehrt bleibt. Musiker genießen im Krieg Immunität. Und das gilt
weitgehend auch für die Fotografen der Nachrichtenagenturen, die an den
Brennpunkten der Gewalt ihre wertvollsten Bilder schießen. Diese
folgen, wo der sorgfältig gewählte Bildausschnitt die Geschichte auf
den Punkt bringt, stets demselben längst verankerten Muster: Es geht um
David gegen Goliath oder den Partisanen, der sich einer so
übermächtigen wie erstarrten Armee in den Weg stellt. Den Arm zum
Steinwurf erhoben, die schwarzen Sachen schlabberig am Körper und durch
Mundtuch und Basecap vor identifizierenden Blicken aber nicht vor
Schlägen geschützt – so wirkt die Pose des Autonomen im Bild auch dort
heroisch, wo sie als anarchistischer oder chaotischer Umtrieb
verurteilt wird.

Vor dem Steinewerfer, der, obwohl auch er aus einer Gruppe hervortritt,
primär als vereinzelter Desperado und elastische Verkörperung eines
Auflösungswillens ("Chaot") wahrgenommen wird, steht die starre Front
der Gepanzerten. Während Polizisten als einzelne Glieder einer
konturlosen, weil rundum gesicherten Kampftruppe erscheinen, befinden
sie sich in der Rolle des Goliath und taugen schon aus ikonografischen
Gründen ebenso schlecht zur heroischen Identifikation wie die
gepanzerten Römer im Asterix-Comic.

Die Polizisten tragen schwere Druckbehälter auf dem Rücken, mit einem
Schlauch und einem pistolenförmigen Dispenser am vorderen Ende. Wie
Gärtner bei der Schädlingsbekämpfung sprühen sie ein mit Chilipfeffer
angereichertes ätzendes Gas in die Demonstranten aus dem schwarzen
Block. Sie erinnern daran, dass der polnische Philosoph Zygmunt Baumann
den Gärtner als Metapher für den Staat benutzt hat. Das Hegen des
Gartens besteht im Entfernen des Unkrauts vom gesellschaftlichen Feld.

Ettlingen an der Alb, 22. Mai

Das Fraunhofer Institut für chemische Technologie hat zum vierten internationalen Symposium
zur Zukunft der "nicht-tödlichen Wirkmittel" geladen. Diese
euphemistisch "Wirkmittel" genannten Waffen sollen die so genannte
"Lücke zwischen Schuss und Schrei" schließen, die Ordnungsmacht also
auf jenem Handlungsfeld bestücken, das zwischen verbaler Äußerung und
tödlicher Gewaltanwendung liegt.

Hierzu ist zunächst viel grundlegende Forschung über die Wirkung der
Mittel auf den Menschen nötig. Zur Illustration dessen berichtet der
Mediziner Prof. Eduard David von der ZEPU GmbH aus Witten/Herdecke
davon, wie er im Dienst der Wissenschaft ein Kotelett "getasert", ein
saftiges Fleischstück also mit 50.000 Volt mit einem "elektronischen
Personen-Kontrollgerät (Electronic Control Device) und nicht-tödlichem
Einsatzmittel" beschossen hat. Auch habe er die Fische im Aquarium
seiner Kinder einem "inhomogenen elektrischen Feld" ausgesetzt.

Mit Taser behandeltes Kaninchen.

Annähernd dreißig weitere Beiträge referieren ähnliche Experimente mit
Schwein, Maus, Ratte, Kaninchen und gänzlich willenlosen Hefepilzen.
Besonders hervorzuheben: der Beitrag von Jitka Schreiberova, einer
Forscherin auf dem Feld von Anästhesiologie und Intensivpflege der
Prager Karls-Universität. Ihr mit staatlichen Mitteln gefördertes
Projekt untersucht die Wirkung von aggressionsmindernden Pharmazeutika
auf Primaten. Schreiberova führt in Filmausschnitten schlüssig vor, wie
der Wille von Makaken, denen sie verschiedene Opioide verabreicht hat,
innerhalb weniger Minuten gänzlich gebrochen werden konnte. Mittel wie
Midazolam, Naphtylmedetomidin und etliche Ketamine seien, so folgert
die Forscherin, daher auch zur "crowd control", zur Besänftigung von
Menschenmengen, geeignet. Sie lässt aber unbeantwortet, wie mit
bestehenden Verboten, Heilmittel und Drogen als Waffen einzusetzen,
umgegangen werden soll.

Auch bleibt die Frage nach dem Modus der "Verabreichung" offen. Sollen
Polizisten in Zukunft Spritzen mit Betäubungsgewehren verschießen? Das
käme der Arbeitsweise von Ladislav Hess nahe, mit dem Schreiberova eng
zusammengearbeitet hat. Hess war im Prager Zoo in der
Großwildanästhesie tätig. Bemerkenswert bleibt die von Schreiberova
vorgeschlagene strukturelle Gleichbehandlung von aggressiven Affen und
mangelhaft zivilisierten Bürgern. Beide gelten als
domestikationsbedürftig, in beiden Fällen soll die opiatgefüllte
Spritze in Anschlag gebracht werden. Ein Akt, der außerhalb des
wissenschaftlichen Planspiels als Straftat behandelt werden würde.

Mit Opioiden behandelter Makake.

Dennoch kann Schreiberovas Forschung nicht als verstiegene Spinnerei
abgetan werden. Die Moskauer Geiselbefreiung aus der Hand
tschetschenischer Terroristen auf Kosten von 150 Toten durch einen
Gaseinsatz liefert einen Präzedenzfall in der jüngsten Geschichte (Das Gespenst aus der Flasche befreit?). Und auch der umfängliche Bericht
der British Medical Association – er kommt am Tag von Schreiberovas
Vortrag an die Öffentlichkeit – dokumentiert den bereits gängigen
Einsatz von "Medikamenten als Waffen".

Zahlreiche Beispiele nicht nur aus der tschechischen Republik, auch aus
Großbritannien und den USA belegen das "Interesse der Regierungen" am
Einsatz "taktischer Pharmazeutika". So genannte "riot control agents",
wie schnell wirkende Beruhigungsmittel und weniger gefährliche Mikroben
und Stinkgase zählen ohnehin längst zum Arsenal von Polizei und
Militär. Malcolm Dando von der in Bradford ansässigen Universität für Friedensforschung spricht von einer "unmittelbar bevorstehenden Militarisierung der Neurobiologie."

Rostock, 2. Juni, gegen 13 Uhr

Keine Eskalation ohne Latenz, keine Gewalt ohne Vorlauf, kein Aufmarsch
ohne Anmarsch, kein Ausbruch ohne Stau. In der Rostocker Innenstadt
zieht die Demonstration, von der nachher alle Seiten sagen werden, dass
sie aus überwiegend friedlichen Teilnehmern bestand, eine Strecke
entlang, die, solange der Blick der Gehrichtung folgt, weitgehend frei
von Polizei ist.

Die Munitionierung mit Steinen, die den späteren Ausschreitungen
notwendigerweise vorausgeht, wird durch genau diese Route ermöglicht.
An einer Stelle befindet sich zur linken und rechten Seite eine breite
asphaltierte Fahrspur, in der Mitte aber ein Gleisbett für
Straßenbahnen, voll mit losen Steinen. Anstatt den Zug an dieser Stelle
über die asphaltierten Fahrbahnen zu leiten, verengen Ordner die
Demonstranten auf den Mittelstreifen. Alle gehen also über das
Gleisbett, im schwarzen Block werden Steine gesammelt. Auf der Brücke
über der Unterführung stehen Polizeibeamte mit Helmen und beobachten
den Vorgang.

Ansonsten sammeln sich die Beamten in den Straßen der Altstadt, die
sternförmig auf die breitere Demonstrationsroute zulaufen. Die Polizei
zeigt sich also im Blick nach rechts und links, sie bleibt nicht
unsichtbar, erscheint aber sporadisch. Wie tief das Personen- und
Gerätearsenal in diesem Innenraum stehen muss, verdeutlichen Zahlen.
Nimmt man die "konservative" und von anderen Seiten angezweifelte
Schätzung der Polizei beim Wort, stehen 16.000 Beamte (der größte
Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik) 25.000 Demonstranten
gegenüber. Das hieße, dass auf nicht einmal zwei Demonstranten jeweils
ein Polizist käme. Und glaubt man der polizeilichen Angabe, dass sich
unter den 16.000 Demonstranten 2000 bis 3000 gewaltbereite befanden,
dann hätte sich ein jeder von diesen nicht weniger als sieben bis acht
Staatsdienern gegenüber gesehen.

So lange der Zug in Bewegung ist, und das Verhältnis von Polizisten und
Demonstranten ein flankierendes ist, kommt es aber zu keiner
Konfrontation. Es bedarf dazu eines frontalen Hindernisses. Eingangs
des großen Feldes der Abschlusskundgebung steht den Demonstranten dann
plötzlich ein einzelnes Einsatzfahrzeug im Weg. Es heißt später, dass
sich die Gewalt hier in dem Moment entzündet hat, als aus dem schwarzen
Block Steine gegen das Fahrzeug geschleudert wurden.

 


Ettlingen an der Alb, 21. Mai

Ein Workshop des kritischen Physikers Jürgen Altmann
widmet sich dem Thema Schallwaffen. Sind sie ein effektives Instrument
zur Beherrschung von Krawallen? Michael Murphy, der seit Jahren einem
Programm der U.S. Air Force zur Entwicklung hochenergetischer
Mikrowellenwaffen (Human Effectiveness Directorate)
angehört, berichtet Ergebnisse eines Schallwaffen-Versuchs an Affen. Er
bedauert, dass man das aufmüpfige Verhalten der Affen aber letztlich
nicht wie gewünscht habe ändern können. Denn alle Affen seien nach dem
ersten akustischen "Impuls" taub gewesen.

Der beim Pentagon beschäftigte Carlton Land setzt mit einer in den
siebziger Jahren geborenen Idee einer "Friedenstechnologie" nach:
Effektivität sei zwar wichtig, aber nicht ausschließlich über
Schalldruck zu gewährleisten. Vielmehr sollten Schallwaffen eingesetzt
werden, um die Gegenseite vorübergehend zu besänftigen. Dadurch gewinne
man Zeit zur Vorbereitung "besserer Optionen". Franz Wolf von der Wehrtechnischen Dienststelle für Schutz und Sondertechnik
(WTD 52) der Deutschen Bundeswehr in Schneizlreuth äußert den
Vorschlag, künftig ethnische Differenzen dazu zu nutzen, Randalierer
und Demonstranten aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben.
Beispielsweise eigne sich bayerische Blasmusik bei Auslandseinsätzen
der Bundeswehr in Afghanistan zur Einschüchterung von Unruhestiftern.
Diese Musik entfalte ihre abschreckende Wirkung, weil sie dort
unbekannt sei. Um einen empirischen Beleg dieser These gebeten, zieht
sich Wolf allerdings auf die militärische Geheimhaltungspflicht zurück.

Im Vorfeld der Diskussionen über die Nutzung von Hochtechnologie zum
Schutz von Heiligendamm war in "BILD" zu lesen, dass unter Umständen
auch der Einsatz von LRAD zu erwarten sei, ein
"Langstrecken-Schall-Strahler", der normalerweise zur Piratenabwehr auf
hoher See benutzt wird. Mit Hilfe von Mikrowellen "verschießt" er außer
Warnbotschaften auch punktgenau extrem schmerzhafte Töne über große
Distanz ("Sound-Laser").

Rostock, 2. Juni, 15-17 Uhr

Über dem Feld der Abschlusskundgebung kreisen Hubschrauber der Polizei.
Sie zögern durch bloße Produktion von Lärm die geplanten Reden und
Musikbeiträge auf der Bühne zwei Stunden lang hinaus, während am Rande
des Feldes gewalttätige Auseinandersetzungen stattfinden. Hubschrauber
sind nicht als Schallwaffen entwickelt worden, kommen aber hier als
solche sehr effektiv zum Einsatz. Als sie schließlich abdrehen, hört
nur noch wenige den Reden zu.

 


Ettlingen an der Alb, 21. Mai

Immer wieder diskutieren die Forscher und Praktiker
bei Polizei und Militär über Mittel zur Verhaltensänderung. Warum? Man
könnte darauf mit dem ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum
antworten: "Die Gefahr geht vom Menschen aus." Es geht eben nicht um
die Abwehr von Schaden, sondern um eine Umerziehung der
"Überflüssigen", wie sich eine Gruppe von G8-Gegnern selbst ironisch
nennt. Welche Rolle spielt dabei das Szenario, das technisch als "area
denial", als dringende Notwendigkeit zur Versiegelung sensibler Zonen
beschrieben wird?

Mit den bereits vorhandenen Mitteln, deren Einsatz die Konferenzteilnehmer diskutierten, wie dem Active Denial System (einer Mikrowellenwaffe) und dem Taser Remote Area Denial
(einem rundum Lähmungspfeile verschießenden Dreifuss) werden
Widerständige einem Crashkurs unterzogen. Durch eine bloß einsekündige
Lektion sollen sie vollständig und nachhaltig verstehen, was man besser
nie wieder tun sollte.

Die "maximalen Schmerzen", die den Waffen ihren englischen Sammelnamen
geben, stehen für dieses Programm einer radikalen Verkürzung der
Lernzeit. Oder wie Kirk Hymes, der Direktor des Pentagon-Programms für nicht-tödliche Waffen,
es formuliert: Wer sich einmal einen Sonnenbrand geholt hat, geht doch
nicht gleich wieder raus und verbrennt sich freiwillig noch einmal.

Rostock, 2. Juni, 17 Uhr

Ausfallstraße im Südosten der Stadt. Eine Ampel, eine
Autofahrerin, den Blinker nach rechts gesetzt. Am linken Straßenrand
ein PKW der Polizei, davor auf dem Bürgersteig ein Beamter, der die
Kreuzung überblickt. Im Gegenverkehr ein Konvoi mit Einsatzfahrzeugen
der Polizei auf ihrem Weg stadteinwärts. Die Autofahrerin ist vom
Anblick des Konvois offenbar völlig in den Bann geschlagen. Sie wartet
ihn ab, gibt, sobald die Straße frei ist, Gas und biegt rechts ab.
Dabei übersieht sie die grüne Fußgängerampel und den Radfahrer von
links, es kommt zum Unfall. Der Radler bleibt zunächst auf der Straße
liegen, hebt sein verbogenes Rad Gefährt und spricht mit der Frau. Die
beiden Unfallparteien trennen sich ohne größeres Aufheben voneinander.

Die Hauptrolle in dieser Szene ist aber mit dem Polizisten auf der
gegenüberliegenden Straßenseite besetzt. Er beobachtet und bleibt wie
angewurzelt stehen. Nicht einmal sein Funkgerät kommt zum Einsatz. Was
erzählt diese vergleichsweise unspektakuläre Szene am Rand der Stadt
über das spektakuläre Gewaltgeschehen in ihrem Inneren? Die erklärte
Ignoranz des Polizisten gegenüber einem zivilgesellschaftlichen
Alltagsgeschehen markiert den Ausnahmezustand. Das Aufnehmen von
Personalien, die Protokollierung des Unfallhergangs, Erstattung einer
Anzeige, Einleitung medizinischer Versorgung – also die
erwartungsgemäßen Aufgaben des Ordnungshüters in dieser Situation –
sind hier suspendiert. Heute befindet sich die Polizei in einem
unerklärten Krieg. Sie verkörpert die eine Seite einer Doppelmasse,
deren anderer Teil schwarzer Block heißt. Der Einsatz verengt, daher
der Tunnelblick.

Berlin, 3. Juni

Angela Merkel verurteilt die Auseinandersetzungen von
Rostock und schließt sich damit Vertretern von Attac, der
Demonstrationsleitung und der Polizei an. Gewalt sagt sie, "ist mit
nichts zu rechtfertigen." Damit hat sie insofern Recht, als die
manifeste Gewalt, die im unerklärten Kriegszustand der Demonstration
ausgeübt wird, das Gegenteil jedweder verbaler Sinnstiftung – und damit
auch einer Rechtfertigung – ist.

Es gibt aber keine Schlachtordnung ohne Schlacht und keine
Einsatzleitung ohne Einsatz. Und so drängt sich der Verdacht auf, dass
die Gewalt im selben Maße, in dem sie von allen Seiten explizit
verleugnet wird, unausgesprochen gewünscht wird. Der Ordnungsmacht
verhilft sie zur Realisierung zunächst abstrakter Planspiele und zum
Einsatz des aufgefahrenen Geräts. Den Medien liefert sie – obschon
bereits ungezählte Male gesehen und immer wieder genau so fotografiert
– die einzigen Bilder, mit denen sich tatsächlich Aufmerksamkeit
generieren lässt. Man weiß das schon vom 1. Mai: jede Demo, die
friedlich verläuft, ist eine Nullnachricht. Den Demonstranten dient die
Gewalt schließlich zur kathartischen Abfuhr des Aufgestauten und als
körperliche Manifestation eines markanten Ereignisses. Dabei spielt es
keine Rolle, ob es sich um steinewerfende Autonome handelt oder um die
passive Mehrheit, die, ob sie will oder nicht, in diesem Moment von
ihnen vertreten wird. Körperliche Gewalt trägt sich ins Bildgedächtnis
ein und formiert ein Ereignis als historische Zäsur. Nur solche Zäsuren
wirken gemeinschaftsstiftend.

Es gehört dabei zur Lektion von Rostock, dass die Lücke zwischen Schrei
und Schuss auf konventionelle Art längst geschlossen ist. Die Lektion
von Ettlingen besagt hingegen, dass die Lücke zwischen Schrei und
Schuss auf andere Weise erst noch geschlossen werden soll. Und zwar
möglichst so, dass keine Wunden und damit auch keine Bilder von Wunden
produziert werden. Das hieße, die Gewalt zu maskieren und hinter den
Schirm zu verschieben, hinter dem sie strukturell längst wirkt.
Gänzlich schmerzfrei und stets im Dienst der eigenen Sicherheit. Zum
Beispiel als Routenplaner des Dienstes map24, der den Benutzer nach
Eingabe des Suchbegriffs "Rostock" darüber informierte, dass seine
"Identifikationsdaten" nun "für einen begrenzten Zeitraum" gespeichert
werden.

Insofern ist die Gewalt der Demonstration von Rostock nicht nur selbst
sichtbar – sie macht zugleich eine zweite Gewalt als Gewalt sichtbar,
die ansonsten hinter dem Schirm des Sicherheitsversprechens kaschiert,
wenn nicht gar gänzlich unbemerkt bleibt. Das ist das Gute. Nur darf es
natürlich von niemandem gesagt werden.

Olaf Arndt und Ronald Düker 06.06.2007

Quelle: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25448/1.html