ELSA sieht alles
An diesem 8. November jährt sich zum zweiten Mal die Verhängung des Ausnahmezustands durch die französische Regierung (vgl. Erklärung des Ausnahmezustands als Antwort auf die Unruhen),
die in Reaktion auf die Unruhen in den Banlieues (Trabantenstädten) vom
Herbst 2005 beschlossen worden war. In diesem Jahr findet das Datum in
den Massenmedien nur relativ geringe Beachtung, ebenso wie der 27.
Oktober – der Jahrestag des Todes zweier Jugendlicher in
Clichy-sous-Bois, der zum Auslöser der Unruhen geworden war -, nachdem
im Vorjahr 2006 ein enormer Medienhype rund um diesen Kalender
veranstaltet worden war.
Im vergangenen Jahr löste dies eine enorme Erwartungshaltung im Publikum aus (vgl. Knallt es genau zum Jahrestag wieder?)
und der mediale Druck produzierte seine eigenen Ereignisse, die
wiederum Nachahmungseffekte zur Folge hatten. Von der Pariser Vorstadt
Grigny bis nach Marseille brannten mehrfach Busse aus: Da das Abfackeln
von Autos nicht mehr genügte, um die Kameras anzulocken – weil ihre
Anzahl ohnehin geringer ausgefallen wäre als im Vorjahr -, beschlossen
einige Jugendliche, nun in "ein höheres Stadium" zu springen.
Schnell erwies sich allerdings, dass eine weitere
Steigerung oder Eskalation nicht mehr möglich war: Nachdem Ende Oktober
2006 in einem Marseiller Passagierbus die 26jährige Franko-Senegalesin
Mama Galledou schwere Verbrennungen erlitt (62 Prozent ihrer
Hautoberfläche), zogen Brandstiftungen an Bussen nunmehr sofort heftige
Reaktionen nach sich. Die Serie hörte schlagartig auf. Die ersten
beiden, zum Tatzeitpunkt unter 16jährigen, unter den Busbrandstiftern
von Marseille sind inzwischen im Oktober dieses Jahres zu achtjährigen
Haftstrafen verurteilt worden. Die sechs älteren Jugendlichen und
jungen Erwachsenen unter den Täter werden jetzt im Dezember vor ein
Geschworenengericht kommen. Ihnen drohen bis zu 30 Jahren Haft.
Relatives mediales Desinteresse an einem Rückblick
auf die Banlieue-Unruhen also im Moment – das bedeutet aber nicht, dass
etwa der Sicherheitsapparat die damaligen Ereignisse "vergessen" oder
ad acta gelegt hätte. Er bereitet sich im Gegensatz geradezu fieberhaft
darauf vor, für die Zukunft neue, technische Lösungen für eventuelle
Krisen in den ausgedehnten Sozialghettos zur Verfügung zu stellen.
Anstatt ernsthaft zu versuchen, das Knäuel aus unterschichtstypischen
sozialen Problemen, räumlicher Segregation zwischen
Gesellschaftsschichten und starker örtlicher Konzentration der sozialen
Verwerfungserscheinungen – was zu einer Art "Brennglaseffekt" führt –
zu entwirren und anders zu formen, bereitet man sich offenkundig darauf
vor, sie mit militärisch-technologischen Mitteln besser zu beherrschen.
Und idealerweise aus der Ferne zu überwachen.
"Sehen, ohne wahrgenommen zu werden"
"Der Star" in diesem Zusammenhang heißt ELSA. Der vermeintliche Frauenname ist die Abkürzung für "Engin léger pour la surveillance aérienne",
also "Leichtes Gerät für die Luftüberwachung". Es handelt sich bei
diesen Apparaten um so genannte Drohnen, also kleine unbemannte
Flugzeuge. Sie sollen in diesem Falle über "sensiblen Zonen", also
beispielsweise als soziale Brennpunkte geltenden Trabantenstädten, oder
auch bei größeren Demonstrationen zu Überwachungszwecken eingesetzt
werden können. Die Bilder können dann direkt in eine Kommandozentrale
an anderem Ort übermittelt werden. Der immense Vorteil: Die Entscheider
benötigen keine menschliche Präsenz vor Ort mehr, um sich ein Bild über
die Lage an einem "Brennpunkt" zu machen. Sie können sich dafür
entscheiden, "den Brand von selbst ausgehen zu lassen" oder, im
Gegenteil, mit massiven Mitteln von außen zu intervenieren.
Bislang konnten zwar bereits Helikopter etwa zum Filmen von
Demonstrationen und zum Abschätzen der Teilnehmerzahl eingesetzt
werden. Aber die Betroffenen waren sich darüber im Klaren, dass ein
Hubschrauber über ihren Köpfen kreiste. Da ELSA weitgehend geräuschlos
ausfallen soll, entfällt diese Erwägung nun. "Sehen, ohne wahrgenommen
zu werden" lautet das Credo der Überwacher.
ELSA wird erstmals am 15. Dezember dieses Jahres ausgeliefert werden
(den Zuschlag für den Auftrag zur Herstellung bekam die in Nantes
ansässige Firma Sirehna). Danach wird er testweise durch die
Polizeikräfte eingesetzt und im Anschluss schrittweise durch die
Kommissariate erworben werden. Mutmaßlich in einem mäßigen Tempo, da
der Apparat pro Stück circa 10.000 Euro kosten wird. Das Ganze parallel
zu einem ehrgeizigen Programm des Ausbaus der Videoüberwachung, da
Innenministerin Michèle Alliot-Marie die Anzahl der Überwachungskameras
– in Frankreich derzeit circa eine Million – bis Ende 2009 verdreifachen möchte, um sich an britische Dimensionen anzunähern.
Das Gerät wiegt nicht mehr als eine Wasserflasche, da es überwiegend
aus Schaumstoff besteht. Es ist mit Überwachungskameras ausgerüstet –
je nach Tages- und Nachtzeit gern auch mit Infrarot- oder anderen
Spezialkameras – und verfügt über eine "Autonomie", d.h. eine maximale
Flugzeit ohne Aufladen, von rund 40 Minuten. Es ist auf einen
Aktionsradius von zwei Kilometern ausgelegt und kann in 500 Meter Höhe
aufsteigen. Da der Überflug bewohnter Zonen jedoch
genehmigungspflichtig ist, wird vermutet, dass es nur bis in 150 Metern
Höhe eingesetzt werden wird.
Erste Tests im "Département 93"
Noch ist es nicht soweit, aber erste Tests zur Vorbereitung auf den
Einsatz von Drohnen zur Fernüberwachung haben bereits stattgefunden.
Und, welch ein Zufall, jeweils über dem "Département 93", also dem
Bezirk Seine-Saint-Denis, der unmittelbar nördlich an das Pariser
Stadtgebiet angrenzt. Dieser frühere Industrie- und Arbeiterbezirk hat
sich, im Zuge des Anstiegs der Massenarbeitslosigkeit und des
"Abschiebens" von immer mehr Armutsgruppen auf sein Gebiet durch andere
Städte und Départements, zu einer veritablen sozio-ökonomischen
Krisenzone entwickelt. Auch wenn inmitten des Trabantenstadtbezirks
auch Inseln der Prosperität oder der gesamtgesellschaftlichen
Wahrnehmbarkeit liegen – etwa die neue Industriezone von La
Plaine-Saint Denis und das nebenan gelegene riesige Fubballstadion
(Grand Stade), das zur Weltmeisterschaft 1998 errichtet wurde -, so
sind doch bedeutende Teile des Bezirks durch die Zentralgewalt
richtiggehend "abgeschrieben". Aus ihrer Sicht geht es eher darum,
soziale Probleme hier zu "parken" und zu verwalten, nicht so sehr, sie
zu lösen. Nur muss man sie unter Kontrolle behalten, damit das Ganze
nicht überbordet.
Am 14. Juli 2006, dem französischen Nationalfeiertag,
überflog ein Kleinflugzeug der Marke Cesna größere Teile des Bezirks,
ausgestattet mit einer ferngesteuerten Videokamera. Es handelte sich
gewissermaßen um den "Jungfernflug" für die geplante spätere
Überwachung mit Drohnen. Am Sylvestertag, dem 31. Dezember 2006, fand
ein erneuter Aufklärungsflug über dem Département statt, dieses Mal mit
Infrarot-Wärmekameras. Man wollte prüfen, ob es an irgendeiner Stelle
zu einer besonderen Häufung abgefackelter Autos in der Sylvesternacht
komme. Anlässlich der Rugby-Weltmeisterschaft im Grand Stade im
September und Oktober dieses Jahres fanden weitere Flugoperationen
statt, um Fanbewegungen und etwaige Sicherheitsprobleme aufzuspüren.
Der sozialdemokratische Abgeordnete von
Seine-Saint-Denis, Daniel Goldberg, ist unterdessen empört. "Die
Nutzung von Geräten militärischen Ursprungs durch zivile (Anm.:
Polizei-)Kräfte ist kein Zufall", erklärte er in der zweiten
Oktoberwoche der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde. Und weiter:
Unsere Stadtteile sind nicht mit den Extremfällen von
Geiselnahmen oder Ländern in Bürgerkriegssituationen vergleichbar. Ohne
strenge gesetzliche Auflagen droht die Benutzung der Drohnen, früher
oder später von einem ausnahmsweisen Gebrauch im Krisenfall zu einem
permanenten, präventiven Einsatz zu werden, der die Stigmatisierung der
Einwohner der Banlieues noch mehr verstärken würde.
Überblick über Demonstranten und Schwarzarbeiter
Tatsächlich ist auffällig, dass es sich um die Übertragung einer
bislang militärisch genutzten Technologie auf einen zivilen Bereich
handelt. Weltweit technologisch federführend bei der Entwicklung von
Drohnen war lange Jahre der Staat Israel. Und dies ist auch kein
Zufall, erscheint der Einsatz solcher Geräte – der eine Fernüberwachung
bestimmter Zonen, aber auch den Abschuss von Minibomben ohne den
Einsatz von Piloten ermöglicht – doch typischerweise den Bedingungen
einer Besatzungsherrschaft über eine als feindlich gesonnen eingestufte
Bevölkerung angemessen. Nichtsdestotrotz interessieren sich inzwischen
auch mehrere europäische Staaten, die weder mit den Folgen einer
Besatzung noch einer Bürgerkriegssituation konfrontiert sind, für die
Geräte.
Insbesondere Großbritannien, dessen Regierung 2006 das Projekt Astraea
lanciert hat und gern die sozialen Brennpunkte der Hafenstadt Liverpool
auf diese Art überwachen würde, oder Belgien. Die Brüsseler Polizei
macht geltend, dass es sich um eine praktische Art handeln würde, ohne
größeren personellen Aufwand einen Überblick über die – am Sitz der
EU-Institutionen besonders zahlreichen – diversen Demonstrationen zu
behalten. Aber auch vom Einsatz bei der "Bekämpfung von Schwarzarbeit"
ist die Rede, mutmaßlich durch Luftüberwachung von Baustellen u.ä.
Die Technologisierung der Tätigkeit der
Polizeiapparate scheint kaum aufzuhalten, und der Einsatz von Drohnen
ist nur ein Meilenstein dabei. Aus Anlass der Waffenmesse Milpol (das
Kürzel steht für Militär und Polizei), die vom 9. bis 12. Oktober in
den Pariser Messehallen an der Porte de Versailles stattfand, wurde
dies überdeutlich. Dort wurde ein "Kommissariat der Zukunft",
ausgestattet mit zahlreichen technischen Spielzeugen – und aus Sicht
der amtierenden Innenminister Michèle Alliot-Marie eher weniger
Personal als heute -, präsentiert.
Zu den Zukunftsvisionen der Ausstellungsmacher gehört der Einsatz der
Messung biometrischer Daten bis in Kindergärten hinein. Im Jahr 2004
hatte ein "Blaubuch", das empfahl, Kinder (und Eltern) ab diesem frühen
Stadium zur Gewöhnung an solche Technologien "zu erziehen", in
Frankreich noch eine Polemik ausgelöst. In diesem Jahr war die Firma Zalix
mit ihren biometrischen Apparaten auf der Waffenmesse präsent und warb
damit, dass sie bereits drei Kindergärten mit solchen Messgeräten
ausgestattet hat. Die Pariser Vorstadt Neuilly-Plaisance ihrerseits ist
stolz auf den Einsatz dieser Apparate, da sie die Identifikation
"derer, die ihre Kinder in den städtischen Kindergärten abgeben", und
damit die Rechnungslegung erleichtere. Schöne neue Zukunft?
Bernard Schmid 08.11.2007