Den Aufstand proben: Vorbereitung auf den Einsatz

Altmark, 23.06.2007. Laute Sprechchöre, drohende Fäuste hinter dem Stacheldraht: einige
Demonstranten brechen durch die Absperrung und drohen das gesicherte
Gebiet zu stürmen. Die Soldaten des ORF-Bataillons
müssen schnell handeln, um serbische Mönche vor dem Mob zu schützen.
Die Situation eskaliert – im Gefechtsübungszentrum des Heeres (GÜZ) in
Sachsen-Anhalt. Alle
regulären Kräfte sind bei Magdeburg konzentriert, um schwere
Ausschreitungen einzudämmen. Die Reserve, das ORF-Bataillon
(Operational Reserve Force), ist alarmiert worden und hat Stellung
bezogen. Ihre Aufgabe: das „serbische Kloster“ auf dem Krähenberg nahe
„Stullenstadt“ vor gewaltbereiten UCK-Anhängern zu schützen.


Aufruhr vor Stullenstadt

Die Nerven der Soldaten liegen blank. Vor ihnen formieren sich die Demonstranten. Immer wieder dieselben Rufe: „UCK, UCK!“.
Der Anführer fordert die Soldaten auf, die Serben nicht länger zu
schützen. Er droht mit Gewaltanwendung. Die Einsatzkräfte warten ab.
Demonstranten, die den Stacheldraht durchbrochen haben, werden
abgefangen, die Lücken in der Absperrung wieder geschlossen. Der
Kompaniechef versucht die Lage im Gespräch mit den Rädelsführern zu
entspannen; es erschallen Lautsprecherdurchsagen: „KFOR ist hier um Euch zu helfen.“ Doch jeden Augenblick können Steine fliegen, vielleicht Schüsse fallen.


Der schlimmstmögliche Fall

Was
passieren wird, wissen die Soldaten des ORF-Bataillons nicht, das hier
auf einen Einsatz auf dem Balkan vorbereitet wird. Die Truppe des
Gefechtsübungszentrums des Heeres (GÜZ), so genannte „Soldaten in
darstellender Funktion“, schulen in der Rolle als Demonstranten das
richtige Handeln in der Lage. Dabei geht es auch darum, Situationen
entsprechend zu bewerten: Haben die UCK-Anhänger Waffen? Besteht Gefahr
für die Bewohner des Klosters oder die eigenen Leute? Was tun, wenn es
zu Übergriffen kommt?

Die Soldaten müssen mit allem rechnen, was im Einsatzland, auch nur passieren könnte. „Wir bilden den schlimmstmöglichen Fall aus“, erklärt
der Leitungsstabsoffizier des GÜZ, Oberstleutnant Harald Reinhardt. Das
Drehbuch kennen dabei nur er und sein Ausbildungsteam. Trotz der
Verlegung des Einsatzszenarios an fiktive Orte wie „Stullenstadt“
nehmen die Soldaten das Geschehen auf dem Gefechtsübungsplatz in der
Altmark hundertprozentig ernst.


Generalprobe für Reserve

Das
GÜZ ist der letzte Ausbildungsblock, den eine Einheit vor dem Einsatz
durchläuft, die Generalprobe sozusagen. Das ORF-Bataillon, das hier das
Verhalten gegenüber unfriedlichen Menschenmengen übt, die so genannte Crowd and Riot Control
(CRC), stellt vom 1. Juli 2007 bis zum 1. Januar 2008 einen Teil der
Reserve für KFOR und EUFOR. Das Bataillon ist 620 Mann stark und
besteht im Wesentlichen aus Soldaten des Gebirgsjägerbataillons 232
Bischofswiesen, unterstützt von Pionieren aus Brannenburg,
Versorgungskräften aus Augustdorf, einer Sanitätsstaffel aus Bad
Reichenhall und Feldjägern aus Bremen.


Was tun, wenn’s brennt?

Der
Anführer der Demonstranten lässt sich nicht beruhigen. Er wisse, dass
einige serbische Rücksiedler in das Gebiet bei Stullenstadt kommen
sollen. Dies dürfe nicht geschehen. „Serbenfreunde!“, schallt es aus der Menge. „Wenn ihr uns nicht durchlasst, wird es Euch Leid tun.“ Die aggressive Gruppe wendet sich vom Kloster ab. Sie bewegen sich in Richtung Stullenstadt. Ihr Ziel: Das Gebäude der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees), des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen.
Wenige
Augenblicke später heult eine Sirene auf, Rauch schlägt aus den
Fenstern. Kurz darauf geht ein PKW in Flammen auf. Der Mob stürmt das
Gebäude und nimmt vier UNHCR-Mitarbeiter als Geiseln, ein verletzter
Zivilist wird herausgebracht.

Die Einsatzkräfte müssen
reagieren, sie sperren die Straße. Eine Postenkette drängt die
Demonstranten zurück. Dabei steht eine Gruppe von fünf Soldaten
isoliert und wird von UCK-Anhängern umzingelt. Sie haben Reizgas und
ein Pistolenmagazin erbeutet. Es fallen Schüsse. Einer der Soldaten
wird von den Demonstranten weggeschleppt. „Die Ausbildungstruppe ist darauf trainiert, sofort jede Schwachstelle auszunutzen“, erläutert Oberfähnrich Rüdiger Scheip. Er ist der stellvertretende Presseoffizier des Gebirgsjägerbataillons 232. „Diese Soldaten hätten nicht freistehen dürfen.“


Klassenziel erreicht

Wenig
später haben die Einsatzkräfte die Situation wieder unter Kontrolle
gebracht. Die Geiseln inklusive des eigenen Mannes können befreit, der
Aufruhr zerschlagen werden. „Das ist schon eine sehr komplexe
Ausbildung, die hier läuft. Im Kern hat der Verband seinen Auftrag
erfüllt. Natürlich ist – wie immer – nicht alles perfekt gelaufen. Aber
das System im Gefechtsübungszentrum lässt eine sehr detaillierte
Auswertung zu, so dass wir im Nachgang die einzelnen Fehler erkennen
und analysieren und entsprechende Folgerungen ziehen werden. Dann wird
der ein oder andere Teil wiederholt“, fasst der Kommandeur der Gebirgsjägerbrigade 23, Brigadegeneral Erich Pfeffer den Erfolg des Übungsabschnittes zusammen.

Hauptfeldwebel
Lutz Warmboldt, Zugführer beim Gebirgsjägerbataillon 232, war bereits
im Einsatz und macht die Ausbildung zum zweiten Mal mit. „Das Zusammenspiel des Zuges, der Kompanie und des Bataillons werden hier sehr gut geübt.“ Auch der Realitätsgrad sei sehr hoch: „Das Rollenspiel ist perfekt.“
Das einzige, auf das man sich seiner Meinung nach nicht vorbereiten
kann, ist die Gesamtsituation im Einsatz: die räumliche Beschränkung,
die Entfernung zu den Freunden und Angehörigen. „Der Stress lässt sich nicht üben. Das ist wie ein freiwilliger offener Vollzug.“


Hightech für Handlungssicherheit

Indes
in der „Schaltzentrale“ des Gefechtsübungszentrums: Überall flackern
Monitore. An ihren Computern und auf einer Videoleinwand verfolgen die
Mitarbeiter des Leitungs- und Auswertungsdienstes das Geschehen. Im
Gegensatz zur adrenalingeladenen Stimmung auf dem Übungsplatz, ist der
Raum von ruhiger Konzentration erfüllt. Jede Entscheidung, jede
Handlung der Soldaten in den jeweiligen Übungssituationen, wird hier
verfolgt und in Bild und Ton aufgezeichnet, das Material in Form eines
Soll-Ist-Abgleichs analysiert. Situationen, in denen schwere Fehler
gemacht wurden, werden wiederholt. Das erzeugt Handlungssicherheit, die
im Einsatzland unverzichtbar ist.

Die eskalierte
Demonstration war nur eine der Aufgaben, die die Soldaten des
ORF-Bataillons in dem neuntägigen Übungszeitraum erfüllen mussten.
Oberstleutnant Reinhardt erklärt, dass selbst erfahrene Einheiten
weiterüben. „Fehler werden immer gemacht.“ Trainiert wird
eben das, was die Soldaten noch nicht beherrschen. Deshalb ist die
Übung Teil der Vorbereitung jeder Einheit, die in den Einsatz geht.
Gerade die Kontinuität ist der zentrale Ansatz. Ziel sei es, „permanent
die Fähigkeit der Truppe in der Koordination, im Zusammenspiel zwischen
den einzelnen Elementen in der Truppe zu verbessern“, bestätigt Brigadegeneral Pfeffer.

Quelle: www.bundeswehr.de