EULEX: Brüssel übernimmt und sichert Kosovo-Kolonie

[imi] Obwohl Serbien – mit einiger Berechtigung (siehe AUSDRUCK Dezember
2007) – die Abspaltung des Kosovo als völkerrechtswidrig erachtet,
erklärte sich die Provinz am 17. Februar 2008 für unabhängig und wurde
bereits kurz darauf zuerst von den USA und wenig später Deutschland
sowie verschiedenen anderen Staaten offiziell anerkannt. Belgrad beruft
sich (unterstützt von Moskau) zurecht auf die weiterhin gültige
Resolution 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrates, die Serbiens
territoriale Integrität – eigentlich – unmissverständlich zusichert.
Eine neue Resolution liegt nicht vor – sie scheiterte am Widerstand
Russlands -, weshalb die Abspaltung des Kosovo ein klarer Bruch des
internationalen Rechts darstellt.
Da sich die westlichen Staaten darüber im Klaren waren, dass nicht nur
die serbische Regierung, sondern auch die überwältigende Mehrheit der
Bevölkerung nicht bereit ist, eine derart eklatante Verletzung der
territorialen Integrität stillschweigend hinzunehmen, wurden bereits im
Vorfeld der Unabhängigkeitserklärung die im Rahmen der NATO
stationierten KFOR-Truppen massiv erhöht. Und in der Tat kam es schnell
zu ersten Unruhen. Ihr vorläufiger Höhepunkt waren die schweren
Auseinandersetzungen im mehrheitlich von Serben bewohnten Nordteil des
Kosovo, bei denen zahlreiche Menschen verletzt wurden.

Um die weitere Zerschlagung Jugoslawiens irreversibel zu gestalten und
sich aber gleichzeitig die vollständige Kontrolle über den Kosovo zu
sichern, beschloss der Europäische Rat bereits im Dezember 2007 eine
Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik (ESVP). Dieser EULEX Kosovo genannte Einsatz wurde
schließlich mit einer Gemeinsamen Aktion des Rates (2008/124) am 4.
Februar 2008 endgültig auf den Weg gebracht. Sie soll einerseits
Unruhen von serbischer Seite bekämpfen, andererseits aber auch den
dauerhaften Status des Kosovo als de facto Kolonie der EU zementieren.

EULEX = Aufstandsbekämpfung

Der offizielle Auftrag von EULEX lautet, im Kosovo für Stabilität zu
sorgen und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen. Hierfür sollen
insgesamt 1829 Personen entsendet werden (die Zahl kann bei Bedarf auf
bis zu 2000 aufgestockt werden). Diese setzen sich aus einer
Polizeikomponente (1400), einer Justizkomponente (225) und einer
Zollkomponente (26) zusammen. Hinzu kommen noch 112 Stabsmitarbeiter
des Missionsleiters und 66 Verwaltungsexperten. Die Mission wird
darüber hinaus von über 1000 Beamten aus dem Kosovo unterstützt.

Besonders brisant sind die Befugnisse der Polizeikomponente, an der
sich Deutschland mit bis zu 180 Polizisten beteiligt. In ihrem Rahmen
sollen auch "Aufstandsbekämpfungseinheiten" ("crowd and riot control")
entsandt werden, deren Aufgabengebiet laut Wissenschaftlichem Dienst
des Bundestags wie folgt lautet: "Exekutivbefugnisse in einigen
Bereichen der Polizeiarbeit, einschließlich der Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei Menschenansammlungen und
Unruhen." Ihr genauer Umfang ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unbekannt,
er dürfte aber bei etwa 700 Polizeisoldaten liegen. Dass am 7. Februar
2008 ausgerechnet ein General und ehemaliger Kommandant der KFOR, der
Franzose Yves de Kermabon, zum EULEX-Missionsleiter ernannt wurde,
zeigt ebenfalls, wie weit es um den "zivilen" Charakter des
ESVP-Einsatzes bestellt ist.

Da Umfragen zufolge 90% der Serben die EU-Mission ablehnen, scheinen
weitere Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Vor allem, weil eine
Abspaltung des mehrheitlich von Serben bewohnten Nordteils aus dem
Kosovo von deutscher und amerikanischer Seite aus zwei Gründen
kategorisch abgelehnt wird. Einmal möchte man schon selbst darüber
entscheiden, wer sich wann und unter welchen Umständen von wem
abspalten darf, und wer nicht (man denke beispielsweise an die
pro-russischen Sezessionsbewegungen im Kaukasus). Außerdem liegen zwei
der vier Hauptminen des Trepca-Komplexes, des ökonomischen Filetstücks
des Kosovo, in dieser Region. Um das neu geschaffene Gebilde zu
"stabilisieren", haben die Vereinigten Staaten inzwischen damit
begonnen, die kosovarische Armee mit der Lieferung von Schusswaffen und
gepanzerten Militärfahrzeugen aufzurüsten. Als nächster Schritt ist
bereits die Ausbildung von Fliegerkräften und Panzertruppen vorgesehen.
Dies zeigt, dass Washington von weiteren Auseinandersetzungen in der
Region ausgeht. "Die Hast, mit der das Pentagon jetzt versucht, das
Kosovo unter seine Fittiche zu nehmen, kann nur davon zeugen, dass der
Westen keineswegs von einer baldigen Friedenseinkehr auf dem Balkan
nach der Abtrennung der Provinz von Serbien überzeugt ist. Dabei hatte
gerade diese Rhetorik dominiert, als der Westen versuchte, seine
Unterstützung für die Kosovo-Separatisten zu begründen. Von welchem
Frieden kann man aber nun sprechen, wenn die eine Seite gegen die
andere aufgerüstet wird. Damit wird nur noch mehr Öl ins Feuer
gegossen, das ohnehin stark genug brennt." (Tamara Samjatina, RIA
Novosti, 29.03.2008) Gleichzeitig haben die USA auch damit begonnen
neben Camp Bondsteel, der größten Militärbasis in Europa, einen zweiten
Stützpunkt im Kosovo zu errichten, um damit ihre Fähigkeiten zur
Machtprojektion in die geostrategisch wichtige kaspische Region weiter
zu verbessern.

EULEX = Kolonialverwaltung

Gegenwärtig wird der Kosovo von den Vereinten Nationen bzw. der
UN-Besatzungsbehörde UNMIK verwaltet, die damit die vollständige
Kontrolle in der Provinz ausübt. Der als so genannte
Rechtsstaatsmission getarnte EULEX-Einsatz soll nun bis Juli 2008 die
wesentlichsten Aufsichtsfunktionen von der UNMIK übernehmen –
paradoxerweise aber ohne hierzu von den Vereinten Nationen beauftragt
worden zu sein, da Russland hierfür die Zustimmung verweigerte.

Geht es nach den Vorstellungen Brüssels und Washingtons, so soll also
die quasi-koloniale Beaufsichtigung des Kosovo von den Vereinten
Nationen auf die Europäische Union übergehen. Damit folgt man derzeit
nahezu exakt den Vorschlägen des finnischen UN-Sondergesandten Martti
Ahtisaari, die Anfang 2007 präsentiert, allerdings nie offiziell
verabschiedet wurden. Er schlug vor, den Kosovo aus Serbien
herauszulösen, ohne der Provinz jedoch die volle Souveränität zu
"gewähren", sondern sie stattdessen faktisch der Kontrolle der
Europäischen Union zu unterstellen ("Unabhängigkeit unter
internationaler Überwachung"). Auch die EULEX-Mission war bereits
fester Bestandteil des Ahtisari-Plans. Die EU-Politik weicht eigentlich
nur in einem – allerdings entscheidenden – Punkt von den Vorschlägen
des UN-Sondergesandten ab. Denn während im Ahtisaari-Plan ursprünglich
neben den größten westlichen Staaten auch Russland als Mitglied einer
Kosovo-Lenkungsgruppe (steering group) vorgesehen war, wurde Moskau nun
schlichtweg aus dieser Gruppe hinausgeworfen (bzw. gar nicht erst
eingeladen), nachdem es sich als unwillig erwiesen hatte, dem
westlichen Kosovo-Fahrplan bedingungslos zuzustimmen.

Dies ist insofern höchst relevant, da diese durch niemanden
legitimierte Lenkungsgruppe sich für befugt hält, einen
EU-Sonderbotschafter zu ernennen, der de facto im Kosovo über die
Machtbefugnisse eines Prokonsuls verfügt. Denn der Ende Februar 2008
mit diesem Posten betraute Niederländer Pieter Feith ist laut
Ahtisaari-Plan die "letzte Autorität" im Kosovo, er darf jeden Beamten
und Parlamentarier feuern und jedes Gesetz annullieren. Darüber hinaus
kontrolliert er auch die Geld- und Wirtschaftspolitik des Landes, für
die die Europäische Union allerdings bereits bei der UNMIK zuständig
war. Insofern dürfte gesichert sein, dass die radikale Umstrukturierung
des Kosovo entlang neoliberaler Leitlinien und die Verschleuderung von
Staatseigentum an westliche Konzerne ungebremst fortgesetzt werden.
Groteskerweise sieht der Ahtisaari-Plan letztlich auch noch vor, dass
nur der EU-Sonderbeauftragte darüber befinden kann, wann sich der
Kosovo für eine volle Souveränität "qualifiziert" hat und damit der
Kolonialstatus der Provinz für beendet erklärt wird.

Hauptaufgabe der nun beschlossenen EULEX-Mission ist es, dem
EU-Sondergesandten bei der Implementierung des Ahtisaari-Plans und
damit der Kontrolle des Kosovo behilflich zu sein. Die Gemeinsame
Aktion 2008/124 räumt zudem mit EULEX Kosovo erstmals einer "zivilen"
ESVP-Mission "Exekutivbefugnisse in einigen Bereichen" ein. Im
Bedarfsfall können die EU-Beamten sogar die Rechtssprechung unabhängig
von kosovo-albanischen Beamten ausüben. Weiter legt die Gemeinsame
Aktion fest, dass EULEX dazu befugt ist, "die Aufrechterhaltung und
Förderung der Rechtsstaatlichkeit sowie der öffentlichen Ordnung und
Sicherheit — erforderlichenfalls auch durch Rücknahme oder Aufhebung
operativer Entscheidungen der zuständigen Behörden des Kosovo in
Absprache mit den einschlägigen internationalen Zivilbehörden im Kosovo
— zu gewährleisten." Damit wurde ein weit gehendes Eingriffsrecht in
die Belange der Provinz verankert, mit der die administrative Kontrolle
de facto auf die Europäische Union übertragen wird.

Vor diesem Hintergrund mutet die "Unabhängigkeitserklärung" des
kosovarischen Parlaments vom 17. Februar 2008 seltsam an. Denn dort
wird zwar einerseits betont, der Kosovo sei jetzt ein "unabhängiger und
souveräner Staat", der "den Willen unseres Volkes widerspiegelt." Auf
der anderen Seite wird aber versichert, man bewege sich damit "in
voller Übereinstimmung mit den Empfehlungen des UN-Sonderbeauftragten
Martti Ahtisaari und seinen umfassenden Vorschlägen zur Regelung des
Status des Kosovo." Die Deklaration akzeptiert "umfassend die
Verpflichtungen Kosovos nach dem Athisaari-Plan" und versichert, die
nun auszuarbeitende Verfassung werde "alle relevanten Prinzipien des
Ahtisaari-Plans berücksichtigen." Hierzu gehören vor allem umfangreiche
Vorgaben im wirtschaftlichen Bereich, u.a. fordert der Ahtisaari-Plan,
"den Privatisierungsprozess fortzuführen" und "eine offene
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" einzuführen. Darüber hinaus wird
in der Deklaration auch die Kolonialpräsenz in Form der EULEX-Mission
hofiert: "Wir laden ein und begrüßen eine internationale zivile Präsenz
für die Überwachung der Umsetzung des Ahtisaari-Plans und eine von der
Europäischen Union geführte Justiz-Mission." Schließlich, um auch keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen, heißt es im abschließenden
Paragrafen: "Wir bekräftigen hiermit unzweideutig, ausdrücklich und
unwiderruflich, dass das Kosovo juristisch gebunden ist, sich an die
Bestimmungen in dieser Deklaration zu halten, insbesondere an seine
Verpflichtungen nach dem Ahtisaari-Plan." (alle Zitate aus der
Deklaration vom 17. Februar aus Paul Mitchell: Das "unabhängige"
Kosovo: Anatomie eines westlichen Protektorats, World Socialist Web
Site, 05.03.2008)

Gegen diesen vom Parlament sanktionierten Kolonialstatus regt sich
jedoch zunehmender Widerstand innerhalb der kosovo-albanischen
Bevölkerung. Es kam bereits zu massiven Protesten gegen die westlichen
Besatzer, bei denen zahlreiche Verletzte und sogar zwei Todesopfer zu
beklagen waren. Auch hier sollen die Aufstandsbekämpfungseinheiten von
EULEX Kosovo die reibungslose Administration der Kolonie gewährleisten,
womit sie sich zynischerweise gegen beide verfeindete Parteien richtet
und damit einen Weg einschlägt, der mit Sicherheit nur für Brüssel
weder aber für die serbische noch die kosovo-albanische Seite in die
richtige Richtung weist.

Führungsanspruch

Mit der EULEX-Mission untermauert Brüssel damit einmal mehr den
Anspruch, seine Interessen gegen geltendes Recht und gegen den
Widerstand der betroffenen Menschen durchzusetzen: "Das ist das klarste
Signal, das die EU geben kann, um zu zeigen, dass sie im Kosovo und in
der Region die Führung übernehmen will", betonte der portugiesische
EU-Ratspräsident Jose Socrates. Eine Vorreiterrolle spielt dabei einmal
mehr Deutschland. Zwar waren einige wenige Staaten schneller, als es
darum ging, den Kosovo offiziell anzuerkennen, dafür hat aber Berlin
als Allererstes eine Botschaft im Kosovo eröffnet.

Die Tragweite der gegenwärtigen Vorgänge zeigt sich daran, dass
Deutschland (und zahlreichen anderen westlichen Staaten) mit der
Zerschlagung Serbiens und der Kolonialisierung des Kosovo beabsichtigt,
das Völkerrecht endgültig durch eine Art Beliebigkeitsprinzip zu
ersetzen: "Die Anerkennung der kosovarischen Eigenstaatlichkeit, von
der deutschen ‚Botschaft‘ in Pristina als ein kleiner, kaum spürbarer
Schritt beschrieben, ist tatsächlich eines der einschneidendsten
Ereignisse der vergangenen Jahre. Mit ihr gewinnt die Willkür als
gestaltendes Prinzip der globalen Politik eine noch größere Bedeutung
als zuvor. Daß im Zweifelsfall Macht vor Recht ergeht, das ist nicht
neu. Daß man Staaten auch ohne Legitimierung durch die Vereinten
Nationen überfallen kann, das hat der Kosovokrieg gezeigt, und der
Irakkrieg hat es bestätigt. Aber erst die Sezession des Kosovo und
deren Anerkennung im Westen haben bewiesen: Man kann im 21. Jahrhundert
auch Staaten gegen ihren Willen zerschlagen, und zwar auch dann, wenn
es sich bei den Sezessionsgebilden nicht (wie im Jugoslawien der
neunziger Jahre) um die Teile eines Bundesstaats handelt, sondern um
einfache Verwaltungsbezirke. Man braucht auch keinen Konsens dafür, es
genügt, ausreichend Truppen im Sezessionsgebiet stationiert zu haben.
Dann kann man fast alles machen, was man will – sogar Grenzen
verändern." (Jörg Kronauer, Konkret, April 2008)

Jürgen Wagner

Source: http://www.imi-online.de//2002.php3?id=1738