[malmoe] Im September 2006 beginnt die 24stündige Überwachung
von vier Berliner Akademikern durch deutsche Geheimdienste und das
Bundeskriminalamt. Der Vorwurf: Sie seien Mitglieder einer
›terroristischen‹ Vereinigung namens ›militante gruppe‹ (mg) und würden
als ›ideologische Köpfe‹ für die ›mg‹ die Anschlagserklärungen
schreiben. Der Beleg: Zugang zu Bibliotheken, nicht vorbestraft,
umfassende intellektuelle Fähigkeiten, politisch aktiv, Publikationen
zu Themen, die auch in den Texten der ›mg‹ Erwähnung finden. Im Juli
2007 werden drei Personen festgenommen, denen vorgeworfen wird, sie
hätten Bundeswehr-Fahrzeuge anzünden wollen. Einer von ihnen soll sich
zweimal mit einem der vier Akademiker getroffen haben. So werden die
drei auch zu ›Terroristen‹ nach §129a StGB (1), und der Akademiker wird
mit ihnen inhaftiert. Die gesamte Geschichte entpuppt sich dann als
Fehlschlag für die Strafverfolgungsbehörden in Sachen
›Terrorismus‹-Konstruktion. Sie wirft aber ein bezeichnendes Licht auf
die gegenwärtige ›Sicherheits‹-Politik in Deutschland und in der
›Dritten Säule‹ der Europäischen Union (EU). (2) Während der Akademiker nach internationalem Protest und rechtlichen
Schritten seiner AnwältInnen nach drei Wochen ›haftverschont‹ wird,
gelingt es erst nach drei Monaten, auch die anderen drei Inhaftierten
freizubekommen. Das Strafverfahren ist freilich nicht eingestellt. Der
Vorwurf, die Beschuldigten seien Mitglieder einer ›terroristischen‹
Vereinigung, ließ sich nicht halten, wie der 3. Strafsenat des
Bundesgerichtshofs feststellte. Nun lautet der – ebenso absurde –
Vorwurf, alle sieben seien Mitglieder einer ›kriminellen‹ Vereinigung.
Für etwa Mai/Juni 2008 wird daher unter diesem Rubrum der Prozessbeginn
erwartet, gegen die vier Akademiker wird vermutlich nicht einmal eine
Anklageschrift vorgelegt werden – nach mittlerweile fast eineinhalb
Jahren Dauerüberwachung liegt gegen sie nichts vor. (3) Man mag das
zunächst für einen Sieg halten, sollte ihn dann aber Pyrrhus-Sieg (4)
nennen:
Zum einen bleibt der Makel des ›Terror‹-Vorwurfs, Arbeitgeber haben
Kündigungen ausgesprochen, riesiges Datenmaterial – über 2.000 Personen
sind in den Akten erfasst – steht den Ermittlungsbehörden zur
Verfügung, hohe Kosten für das gesamte Verfahren. Zum anderen wird die
Verschärfung des §129a ebenso vorbereitet, wie immer neue Befugnisse
und Gesetze für Polizei und Geheimdienste gefordert werden. Diskutiert
wird auch, den Schutz seiner Privatsphäre – etwa durch
Verschlüsselungsprogramme – unter Strafe zu stellen. Schon in diesem
Ermittlungsverfahren spielte der Umgang mit Daten eine erhebliche
Rolle. Was der Staat nicht weiß, so die ›Argumentation‹ der
Strafverfolger, stellt eine potentielle Gefährdung dar.
Freifahrtsschein für die Exekutive
Im vorliegenden Fall ist insbesondere bizarr, wie der zuständige
Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof, Ulrich Hebenstreit, alle drei
Monate das Überwachungsarsenal des Bundeskriminalamtes (5) ausweitete,
obwohl sich keine Anhaltspunkte für einen ›Terror‹-Vorwurf finden
ließen: Rund um die Uhr verdeckte Verfolgung durch Kriminalbeamte,
Abhören aller Telefone, Videoüberwachung der Wohnungen, Überwachung
aller Reisebewegungen, Kontrolle des gesamten privaten und beruflichen
Post-, E-Mail- und Internet-Verkehrs, GPS-Sender am Pkw, Überprüfung
von Kontobewegungen, Überwachung auch von Telefonanschlüssen der
Freundinnen – schließlich gar Zugriff auf Akten der
DDR-Staatssicherheit.
Für die Tatsache, dass der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe
bisher insgesamt sechsmal rechtswidriges Handeln in Sachen §129a
nachgewiesen wurde (6), ist es zu allererst nicht wichtig, dass im
›demokratischen Rechtsstaat‹ juristische ›Ausrutscher‹ korrigiert
werden (können). Vielmehr ist bedeutsam, wie selbstgefällig und für sie
folgenlos die Strafverfolgungsbehörden den Rechtsbruch einkalkulieren
können. Die Exekutive bestimmt die Praxis, die politische Klasse
legitimiert sie, und nachfolgend legalisiert sie der Gesetzgeber mit
einem neuen Gesetz. Nach diesem Modell haben die beiden
Bundesinnenminister, Otto Schily (SPD) und sein Nachfolger Wolfgang
Schäuble (CDU), das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ebenso
demontiert wie die Bürger- und Menschenrechte. Da im ›präventiven
Sicherheitsstaat‹ jede/r als potentieller ›Gefährder‹ gilt, wird diese
Demontage konsequenterweise nun auch auf EU-Ebene exekutiert.(7) Mit
der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und weiteren Maßnahmen
wird nun vorgeschlagen, gleich ohne irgendeinen Verdacht die Daten
aller BürgerInnen zu ihrem Kommunikationsverhalten zu erfassen.
›Gefährder‹ präventiv unschädlich machen
Der deutsche ›Behörden Spiegel Online‹ gibt regelmäßig den
›Newsletter Netzwerk Sicherheit‹ heraus, so auch am 24. Januar 2008.
Dort ist zu lesen, die Europäische Kommission habe mitgeteilt, »dass
erst acht der 27 Mitgliedstaaten […] die im Februar 2006 beschlossenen
EU-Vorgaben zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten ins
nationale Recht umgesetzt und die entsprechenden Gesetze nach Brüssel
gemeldet hätten. Hinzu kommt inzwischen auch Deutschland, das im Rahmen
des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung zum 1.
Januar 2008 die Richtlinie umsetzte.« (8). Genau gegen diese
Vorratsdatenspeicherung wurde am 31. Dezember 2007 in Deutschland Klage
erhoben (9), eine Entscheidung steht dort noch aus. In Österreich hatte
im vergangenen November der Präsident des Verfassungsgerichtshofes,
Karl Korinek, in Sachen EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung
angeregt, »Österreich sollte versuchen, eine Befassung des Europäischen
Gerichtshofes zu Stande zu bringen.« (10) Die überfallsartige
Beschlussfassung des Sicherheitspolizeigesetzes war Anlass für die
Gründung der Bürgerinitiative „Demokratischer Salon“.
Doch während verschiedene Verfassungsklagen anhängig sind, eine
gesellschaftliche Debatte in Gang kommt und mehrere Demonstrationen in
Europa durchgeführt wurden und werden, verschärft die EU die Gangart.
Jüngste Initiative: EU-Innenkommissar Franco Frattini will nach
der vollständigen Protokollierung der Telekommunikation nun die
Flugreisen sämtlicher europäischer Bürger verdachtsunabhängig
registrieren und 13 Jahre lang in Datenbanken aufbewahren lassen.
Erfasst werden sollen sämtliche Flüge zwischen Europa und
Nicht-EU-Staaten (11). Das als ›Raum von Freiheit, Sicherheit und
Recht‹ vermarktete Europa entpuppt sich sukzessive als Raum
›permanenten Ausnahmezustands‹, Verdachts und Misstrauens. Wolfgang
Schäuble nennt das ›präventive Strafverhinderung‹, die es brauche, weil
die ›Gefahren so groß‹ sind. Die ›Gefährder‹, gegen die es vorzugehen
gelte, sind alle, die vielleicht möglicherweise irgendwann gegen
Gesetze verstoßen könnten (selbst gegen jene, die es heute noch nicht
gibt). Dagegen hat Schäuble (12) (wie Schily vor ihm) (13) und dagegen
hat Frattini – einen Katalog. Solche Kataloge nennt der britische
Kriminologe Richard Ericson ›counter-laws.‹ (14)
Counter-laws – Abschied vom Rechtsstaat
Noch 1997 hatte Richard Ericson gemeinsam mit Kevin D. Haggerty in dem
Band Policing the Risk Society die exzessive Sicherheitspolitik mit
einer Logik des Risikos begründet. In seinem neuen Band Crime in an
Insecure World beobachtet er nun das Bemühen, der Ungewissheit in
Politik, Wissenschaft und Technologie mit einer Logik der Vorbeugung
und Vorsorge (precautionary logic) zu begegnen. Während Risiko,
zumindest theoretisch, noch berechnet werden kann, hat sich das bei
Ungewissheit erledigt. Zweifel und Misstrauen, Ahnung und Angst,
Argwohn und Ablehnung werden zur Grundlage von Entscheidungsprozessen –
gerade im Recht und bei der Konstruktion von Kriminalität. Die
Vorsorgelogik treibt den umfassenden Verdacht gegenüber allem und jedem
an, und wo das Recht bisher – zumindest theoretisch – Ungewissheit noch
mit Unschuld(svermutung) übersetzte, ist sie nun Grundlage »for extreme
preemptive measures for which designated agents are held responsible,
and […] judged not only by what [they] should have known but also by
what [they] should have suspected.« (14) ›Counter-laws‹ umfassen
Gesetze, die gegen bestehende Gesetze zum Einsatz kommen (oder
bestehende im Sinne der Vorsorgelogik modifizieren), und es umfasst
neue Überwachungstechnologien (oder deren Modifikation) – beide Formen
zielen darauf, »to erode or eliminate traditional principles,
standards, and procedures of criminal law that get in the way of
preemptive imagined sources of harm.« (14)
Dass in Österreich gegenwärtig die Bevölkerung ihre Regierung
regelrecht bitten muss, wenigsten in den parlamentarischen Gremien über
die neuen Überwachungsmaßnahmen zu debattieren (15) – und sie nicht
unter Ausschluss der Öffentlichkeit einfach zu exekutieren – wirft ein
bezeichnendes Licht auf ein Europa, das sich als ›Raum von Freiheit,
Sicherheit und Recht‹ geriert. Tatsächlich aber, so scheint es, haben
sich die europäischen ›Gemeinschafts‹-Schnüffler darauf verständigt,
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ebenso ad acta zu legen
wie die Unschuldsvermutung.
Fußnoten
(1) Deutschland kennt den §129a schon seit 1976. Die Integration
eines Anti-›Terror‹-Paragraphen in nationale Gesetze ist mit einer
EU-Richtlinie (EU-Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002, ABl. EG Nr. L 164)
nun aber zur Voraussetzung für die Aufnahme und den Verbleib in der
Europäischen Union gemacht worden.
(2) RAV. Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (Hg.,
2003): Europa, Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht? Die (Re-)
Organisation der Inneren Sicherheit in Europa. Berlin: RAV.
(3) Aktuelle Informationen finden sich hier.
(4) Volker Eick (2007): Schäuble noch zu retten? ›Rechtsstaatlich‹
leider nicht zu beurteilen. In: telegraph. ostdeutsche zeitschrift,
115/07, S. 12-20.
(5) Gegenwärtig wird ein Gesetz
vorbereitet, dass es dem BKA gar erlauben soll, ohne richterliche
Kontrolle Überwachungsmaßnahmen nach eigenem Ermessen durchzuführen
[29.01.2008].
(6) Vgl. http://einstellung.so36.net/de/soli/825 [29.01.2008].
(7) Zum punitive turn auf dem Weg zum ›Strafstaat‹ und der Zunahme
repressiver Sicherheitspolitik in der ›Strafstadt‹, vgl. zuletzt Volker
Eick/Jens Sambale/Eric Töpfer (Hg., 2007): Kontrollierte Urbanität. Zur
Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik. Bielefeld:
transcript; Donatella della Porta/Abby Peterson/Herbert Reiter (Hg.,
2007): The Policing of Transnational Protest. Aldershot: Ashgate.
(8) Bei den acht Ländern handelt es sich um Frankreich,
Großbritannien, Spanien, Belgien, Dänemark, Tschechien, Lettland and
Estland. Weiter heißt es dort: »Die Frist für die Umsetzung der
Richtlinie lief bis zum 15. September 2007, in Bezug auf Regelungen zu
Internetdaten konnten die Mitgliedstaaten mit einer Erklärung die
Anwendung der Richtlinie bis zum 15. März 2009 aufschieben. Auch bei
der inzwischen erfolgten Umsetzung bestehen erhebliche Unterschiede
zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. So hat z.B. Großbritannien den
gesamten Internetbereich von der beschlossenen einjährigen
Vorratsdatenspeicherung bislang noch ausgenommen. Das britische
Innenministerium begründete diese Entscheidung damit, dass eine
Einbeziehung der Internetdaten nicht angemessen gewesen wäre. Als
Gründe nannte es ›spezielle technische Probleme‹ und Ressourcenengpässe
bei Zugangsanbietern.« Für Deutschland vgl. Jens Puschke/Tobias
Singelnstein (2008): Telekommunikationsüberwachung,
Vorratsdatenspeicherung und (sonstige) heimliche Ermittlungsmaßnahmen
der StPO nach der Neuregelung zum 1.1.2008. In: Neue Juristische
Wochenschrift, 3/2008, S. 113-120.
(9) http://www.daten-speicherung.de/index.php/tkg-verfassungsbeschwerde/ [28.01.2008].
(10) Kurier vom 4. November 2007. Unter: http://www.kurier.at/nachrichten/oesterreich/119051.php [28.01.2008].
(11) Vgl. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/189/55/lang,de/
[28.01.2008]. Insgesamt 19 Merkmale werden erfasst, die auch
Mitreisende betreffen. Selbst die Daten derjenigen, die die Tickets in
den Reisebüros ausstellen, sollen erfasst und gespeichert werden.
(12) Die Erfassung der Fingerabdrücke der gesamten Bevölkerung
gehört zu Schäubles Katalog ebenso wie die Online-Durchsuchung auch
ohne Verdacht; weiter will er die Wiedereinführung des Großen
Lauschangriffs, die Erlaubnis für Ermittler und V-Leute, konspirativ in
Wohnungen eindringen zu dürfen (auch ohne richterliche Zustimmung), die
Wiedereinführung der Kronzeugenregel, die Aufhebung der Trennung von
Polizei und Geheimdiensten, die präventive Rasterfahndung – und
schließlich hat er selbst die präventive Erschießung von Verdächtigen
vorgeschlagen: »Schäuble hatte angeregt, potenziell gefährliche
Islamisten, die nicht abgeschoben werden können, vorbeugend zu
internieren und einen Straftatbestand der Verschwörung einzuführen. Für
diese Verdächtigen solle auch ein Handy- und Internet-Verbot erwogen
werden. Außerdem will Schäuble die Rechtmäßigkeit der gezielten Tötung
Verdächtiger durch den Staat prüfen lassen«; vgl. http://www.focus.de/politik/deutschland/sicherheitsdebatte_aid_66154.html [29.01.2008].
(13) Vgl. zu den so genannten ›Otto-Katalogen‹ unter Bundesinnenminister Otto Schily, http://www.cilip.de/terror/index.htm [29.01.2008].
(14) Richard V. Ericson (2008): Crime in an Insecure World. Cambridge: Polity Press.
(15) »Wir wollen, dass sich der Innenausschuss des Nationalrats
ernsthaft mit der Überwachung von Handys und Internet befasst. […] Wir
erwarten vom österreichischen Nationalrat Sorgfalt und
Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit den Grundrechten der Menschen
und der Verfassung der Republik«, vgl. http://www.ueberwachungsstaat.at [29.01.2008].
Volker Eick ist Politikwissenschaftler und arbeitet in Berlin.
Jüngste Veröffentlichungen: Kontrollierte Urbanität. Zur
Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik (mit J. Sambale/E.
Töpfer), Bielefeld 2007; BIDs – ein neues Instrument für Containment
und Ausgrenzung? Erfahrungen aus Nordamerika und Großbritannien (mit J.
Sambale/E. Töpfer). In: PROKLA, 149/4 (2007)
autorIn und feedback : Volker Eick