Dauerprotest gegen neues Überwachungsgesetz in Schweden
[neues-deutschland.de] Seit dem 18. Juni befindet sich Schweden im Zustand
eines neuartigen gesellschaftlichen Protestes. Dieser äußert sich nicht
nur in den traditionellen öffentlichen Manifestationen sowie im
Meinungsstreit in Presse und Fernsehen. Die neue Form des politischen
Kampfes findet in der »Bloggosphäre« des Internets statt.
Hintergrund der zahlreichen Meinungsäußerungen im »Web« ist das
genau vor einem Monat im Reichstag mit vier Stimmen Mehrheit
verabschiedete FRA-Gesetz der bürgerlichen Vierparteienregierung, das
ab 2009 eine umfassende staatliche Überwachung der
grenzüberschreitenden Tele- und IT-Kommunikation erlaubt. Das
FRA-Kürzel, mit dem dieses Gesetz in den Debatten figuriert, leitet
sich von der im Kalten Krieg eingerichteten Abhörstation der
schwedischen Streitkräfte (Försvarets Radioanstalt) im Stockholmer
Schärengarten her, die der Aufklärung des Funkverkehrs der Warschauer
Vertragsstaaten diente.
FRA soll sich künftig »im Interesse der nationalen Sicherheit« vor
allem den an »Kooperationsknoten« in Schweden zusammenlaufenden
grenzüberschreitenden Datenströmen widmen. Für Einrichtung und
Unterhalt dieser IT-Kabelknoten haben die in Schweden operierenden
Telekom-Unternehmen Sorge zu tragen. Die regierungsoffizielle
Behauptung, deren Kontrolle diene lediglich der Frühaufklärung
auswärtiger Bedrohungen, wird durch die Tatsache konterkariert, dass
zehntausende Internetnutzer im Land auf ausländische Server
zurückgreifen.
Nicht nur der Inhalt, sondern auch das rigorose
Durchpeitschen dieses von Kritikern in Anknüpfung an die
Schreckensvisionen des Romans »1984« als »George-Orwell-Gesetz«
charakterisierten Regierungsprojektes hat einerseits zu neuartigen
Erfahrungen der politischen Klasse beigetragen. Andererseits aber auch
zu erheblichen Verschiebungen in den politischen Konstellationen,
welche die gewohnte Struktur von Regierungslager und Opposition in
diesem Fall nicht widerspiegelt. Vor allem die Parlamentarier der
bürgerlichen Parteien im Reichstag, dem über eine Million an
Protest-Bloggs zum FRA-Gesetz zugegangen waren, sahen sich einem nie
zuvor bekannten öffentlichen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Viele von
ihnen beklagten aber auch den Disziplinierungsdruck, mit der sich ihre
Partei- und Fraktionsführungen über ihre Gewissensnöte oder Einwände
hinwegsetzten. So distanzierten sich angesichts der permanenten
Proteste nach dem Passieren des FRA-Überwachungsgesetzes sechs
Abgeordnete der liberalen Volkspartei öffentlich von dem Projekt.
Klar
ist, dass die Opposition in Gestalt von Sozialdemokraten, Grünen und
Linkspartei diese Situation zur weiteren Demontage der
Regierungsreputation unter Premier Fredrik Reinfeldt nutzt. Noch
schmerzhafter ist, dass die größten Unternehmen der
Telekommunikationsbranche, die etwa 85 Prozent des Breitbandmarktes
Schwedens repräsentieren, öffentlich Stellung gegen das FRA-Gesetz
bezogen. Sie befürchten eine Schädigung Schwedens als eines der
fortgeschrittensten IT-Länder und damit immense Geschäftsverluste. Aus
Finnland und Norwegen verlautete bereits, dass die
Kommunikationsministerien bereits Analysen dazu in Auftrag gegeben
haben. So hat TeliaSonera z. B. auf Wunsch seiner finnischen Kunden
erste Netz- und E-Mailserver vom schwedischen Boden abgezogen.
Nun
kommt auch noch dazu, dass das schwedische »Zentrum für Gerechtigkeit«
beim Europäischen Gerichtshof sogar Klage eingereicht hat, um die
Vereinbarkeit des FRA-Gesetzes mit der Europa-Konvention prüfen zu
lassen. Das Zentrum sieht in dem »Orwell-Gesetz« eine Verletzung der
persönlichen Integrität der Bürgerinnen und Bürger. Derart unter Druck
geraten, schob die Reinfeldt-Regierung erst später, im Juli, ein
Argument nach, das bei der Gesetzeseinbringung angeblich bewusst
ausgespart bleiben sollte: Russland, das zu etwa 80 Prozent seine
Telekommunikation nach Westen über Schweden abwickelt. Dieses Land sei
im näheren Umfeld Schwedens ein zu überwachender sicherheitspolitischer
Risikofaktor. Die hierbei zu gewinnenden Erkenntnisse würden
»anderenorts« (d.h. in USA und NATO) eine höchst willkommene
»Tauschware« darstellen. Russisches Fernsehen und Moskauer Zeitungen
berichteten hierüber mit unverkennbarer Zurückhaltung und Indignation.
Dortige Telekom-Unternehmen halten künftige Umgehungen Schwedens
allerdings ohne größere Probleme für machbar.
Von Gregor Putensen
Source: http://www.neues-deutschland.de/artikel/132224.datenklau-fuer-usa-und-nato.html