Grenzkontrolle -Humanitär abgeschreckt

[woz.ch] Die Agentur Frontex in Warschau koordiniert seit drei
Jahren die Bewachung der EU-Aussengrenzen. Auch die Schweiz will sich
beteiligen. Was wären die praktischen Folgen? Die Kritiker melden sich
zu Wort.

Eine blaue, eine gelbe, eine rote, eine grüne Linie
laufen über ein feines Raster, kreuzen sich, führen wieder
aus­einander. Eine Karte aus der Tasche eines Schleppers gefallen?
Zeigt sie Schiffsrouten auf dem Mittelmeer? Dafür ist sie zu genau.
Also doch ein Metroplan, gefunden im Rucksack eines allfälligen
Terroristen? Oben links fehlt der Stadtname, dafür ist die Karte mit
«Europäisierung» ­angeschrieben.

Es handelt sich um eine von vier inter­aktiven Karten,
welche das Projekt «MigMap» ins Internet gestellt hat. Die
Kollaboration aus WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und
Akti­vistInnen will eine Kartierung der Asylpolitik in Europa seit 1989
vornehmen. «Untersucht wird, wie die neuen Formen des suprastaatlichen
Regierens im europäischen Migrationsregime ineinandergreifen.» Konkret:
Was wurde beschlossen – wo, wann und von wem?

Ein Punkt beispielsweise auf der blauen Linie, die der
EU-Entwicklung folgt: 1990 unterschreiben die europäischen Innen- und
JustizministerInnen das Dubliner Abkommen. Demnach ist das erste
EU-Land bei der Einreise für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständig. Weil die Prüfung gleich auch für die übrigen Mitgliedstaaten
gilt, wird sie als «one chance rule» bezeichnet. Ein nächster Punkt,
auf der grünen Linie, dem Schengen-Prozess: 1995 wird das Schengener
Informationssys­tem (SIS) in Betrieb genommen. In der Datenbank werden
auch Informationen über die illegale Migration gesammelt. Ein dritter
Punkt, auf der roten Linie, die die Koordination der EU-Politik mit
weiteren Staaten zeigt: 2003 beschliesst der Europäische Rat,
verdächtige Schiffe bereits auf hoher See zu stoppen und zu
kontrollieren.

Knapp hundert solcher Punkte enthält die Karte – doch
nur in einem einzigen kommen drei Linien zusammen: 2005 nimmt die
Grenzschutzagentur Frontex ihre Arbeit auf.

Eine Vernetzungsmaschine

Die Abkürzung Frontex stammt von «frontières
extérieures», französisch für «Aussengrenze». Abbau der Binnengrenzen
für den Personenverkehr und gleichzeitig Ausbau der Aussengrenze: Das
ist die Logik im Schengen-Raum. Die Aufgabe von Frontex wiederum ist
die Koordinierung der Mitgliedstaaten beim Schutz dieser Aussengrenze.
Die Agentur erstellt Risikoanalysen und betreibt Forschung zum
Grenzschutz. Sie hilft den Mitgliedstaaten mit technischer und
operativer Unterstützung. Frontex unterstützt bei der Organisation
gemeinsamer Ausschaffungsaktionen und bei der Ausbildung von
GrenzwächterInnen.

Eine «Vernetzungsmaschine» sei Frontex, heisst es in
der aktuellen Ausgabe der deutschen Fachzeitschrift «Cilip», die sich
kritisch mit den Themen Polizei und Bürgerrechte auseinandersetzt.

Ihren Sitz hat Frontex in Warschau, im dritthöchsten
Wolkenkratzer Polens. Als Exekutivdirektor amtet der Finne Illka
Laitinen. Die Zentrale beschäftigt mittlerweile 164 MitarbeiterInnen.
Zahlreiche Stellen sind ausgeschrieben. Das Frontex-Budget beträgt
dieses Jahr 70,4 Millionen Euro, für das kommende sind 83 Millionen
beantragt. Es ist der am rasantesten steigende Haushaltsposten der EU.

Drei Jahre nach der Gründung will nun auch die Schweiz
bei Frontex mit­machen. Ohne Gegenstimme hat der Ständerat das Geschäft
in der Sommersession durchgewinkt. Im Nationalrat ist es für die
kommende Herbstsession traktandiert. Was wären die praktischen Folgen
einer Be­teiligung der Schweiz an Frontex?

Stephan Lanz, Spezialist für Sicherheitszusammenarbeit
beim Kommando des Grenzwachtkorps in Bern, gibt Auskunft. Lanz
unterscheidet zuerst zwischen den drei Arten der Aussengrenze: die
Landgrenze von Finnland bis Griechenland. Die Seegrenze im Mittelmeer
und im Atlantik. Die Luftgrenze an den Flughäfen. An diesen Grenzen
finden spezifische «joint operations» statt. Lanz sagt: «Wenn quasi ein
Loch im Zaun ist – dann kann Frontex den zuständigen Mitgliedstaat
durch Koordination unterstützen.» Dieser kann bei den übrigen
Mitgliedstaaten personelle und technische Unterstützung anfordern,
darunter Boote, mobile Radarstationen oder Hubschrauber. Ein
Mitgliedstaat kann allerdings nicht zur Mithilfe gezwungen werden.
Auslandeinsätze sind für die Schweizer GrenzwächterInnen ohnehin
freiwillig.

In den Jahren 2006 und 2007 hat Frontex 33 solcher
«gemeinsamer Aktionen» durchgeführt. Sie tragen meist Namen aus der
griechischen Mythologie. Bei der Operation Hydra beispielsweise
kontrollierten GrenzwächterInnen einen Monat lang Reisende aus China.
An der Operation beteiligten sich Britannien, Deutschland, Finnland,
Frankreich, Italien, die Niederlande, Österreich und Spanien.

Die RABITs kommen

Bei einer Beteiligung wird auch die Schweiz
SpezialistInnen an solche Operationen entsenden, sagt Lanz. Das
Grenzwachtkorps verfüge über gefragtes Know-how bei der Erkennung
gefälschter Identitätspapiere und beim Auffinden von Hohlräumen in
Fahrzeugen. Sowie über Diensthunde, welche Drogen und Sprengstoff
erschnüffeln. Beim Grenzwachtkorps kann man sich auch vorstellen, dass
Operationen in der Schweiz stattfinden – «falls die Schweiz von einem
starken Migrationsdruck auf dem Luftweg betroffen wäre». Nicht nur die
Flughäfen in Zürich, Basel und Genf bilden grundsätzlich die
Schengen-Aussengrenze. Flugzeuge, die ausserhalb des Schengen-Raumes
gestartet sind, landen auch in Altenrhein, Bern, Lugano, Samedan und
Sion.

Ein Frontex-Bereich, der nicht das Grenzwachtkorps,
sondern das Bundesamt für Migration und die Kantonspolizeien betreffen
würde, ist für die Schweiz von speziellem Interesse: die Beteiligung an
Ausschaffungen von abgewiesenen AsylbewerberInnen. Nachdem
Zwangsausschaffungen in Linienflügen immer stärker in die Kritik
geraten sind, werden neu ganze Flugzeuge dafür gemietet. Frontex
vermittelt freie Plätze in diesen Charterabschiebungen.

Bis anhin war Frontex tatsächlich eine
Vernetzungsmaschine. Es ging darum, Wissen zu sammeln, auszutauschen,
zu vereinheitlichen. Durchaus im Liveeinsatz. Vor einem Jahr wurde ein
Schritt weitergemacht von einer europäischen Grenzschutzagentur hin zu
einem europäischen Grenzwachtkorps: Frontex wurde berechtigt,
sogenannte RABITs (Rapid Border Intervention Teams) aufzubauen. Der
Hase ist in diesem Fall der Fuchs: Die RABITs sind Soforteinsatzteams
in Krisensituationen mit Flüchtlingen. 572 RABITs haben die
Mitgliedstaaten Frontex bisher zugesichert. Die RABIT-Mitglieder tragen
die Uniform ihres Herkunftslandes und dürfen für die Notwehr auch die
eigene Dienstwaffe gebrauchen. «Sie sind mit einer Armbinde als
RABIT-Mitglieder gekennzeichnet», heisst es in der Botschaft des
Bundesrates an die eidgenössischen Räte.

Ob längerfristig geplante Operationen oder
kurzfristiger RABIT-Einsatz: Das Grenzwachtkorps rechnet damit, dass
ständig drei bis vier Schweizer GrenzwächterInnen für Frontex-Einsätze
bereitstehen werden. Eine Beteiligung würde die Schweiz 2,3 Millionen
Franken pro Jahr kosten. Das tönt nach wenig. Und bedeutet doch viel:
«Das Tätigkeitsgebiet des Grenzwachtkorps ist damit ganz Europa. Es
gibt einen Austausch von Lageinformationen, wir erfahren die ‹best
practices› der übrigen Grenzwachen», sagt Stephan Lanz.

Auf MigMap laufen bei Frontex nicht nur drei
europäische Prozesse zusammen. Es ist auch der Zeitpunkt, in dem die
humanitäre Tradition der Schweiz deckungsgleich wird mit der
Abschreckungspolitik der EU.

In den letzten Monaten ist gegen Frontex Kritik laut
geworden: In Deutschland fragen sich Bundestagsabgeordnete von Grünen,
Linken, SPD bis hin zur FDP, inwieweit Grenzwächter­Innen auch bei
«exterritorialem Handeln», also ausserhalb der Zwölfseemeilenzone,
verbriefte Flüchtlingsrechte einhalten müssen. Frontex, so heisst es,
leite Flüchtlingsboote in die afrikanischen Staaten zurück, ohne sich
bei den Insassen nach bestehenden Asylgründen zu erkundigen. Am
heftigsten kritisiert wird die Intransparenz von Frontex: Die Agentur
ist der Kontrolle der nationalen Parlamente entzogen.

In der «Cilip»-Ausgabe heisst es dazu: «Durch eine
weitgehend von den Parlamenten und Mitgliedstaaten entkoppelte
Vernetzung der Sicherheitsbehörden und der Sicherheitsindustrie soll
ein unpolitisches, effizientes Regieren ermöglicht werden. Dies bezieht
explizit militärische Akteure mit ein und verwischt systematisch die
Grenzen zwischen Krieg und Frieden, innerer und äusserer Sicherheit,
Katastrophenschutz, Terrorbekämpfung und Verteidigung.»

Im Juni protestierten migrationspolitische und antirassistische Aktivist­Innen vor der Grenzschutzagentur in Warschau.

Kritik gibt es auch in der Schweiz. Die Frontex-Vorlage
ist zwar eine Weiterentwicklung der Schengen-Dublin-Abkommen. Die
Schweiz hat sich verpflichtet, diese grundsätzlich zu übernehmen. Zwei
Nationalräte, welche sich bereits in der sicherheitspolitischen
Kommission mit der Vorlage beschäftigt haben, wollen trotzdem dagegen
stimmen: Ricardo Lumengo, SP, und Geri Müller, Grüne.

«Sand ins Getriebe»

«Ich bin selbst aus Angola geflohen, mit dem Flugzeug»,
sagt Lumengo. «Ich hätte heute an der Aussengrenze keine Chance mehr.»
Schon das neue Asyl- und Ausländergesetz sei schwierig anzuwenden und
zeitige schlimme Folgen. «Wie soll Frontex den hohen Anforderungen
genügen?» Lumengo: «Ich werde versuchen, meine Fraktion von einem Nein
zu überzeugen.»

«Ich hoffe, dass ich im Parlament reden kann», sagt
Geri Müller. «Wir müssen Sand ins Getriebe schmeissen. Frontex – das
ist die Folge unserer Bewegungsfreiheit im Schengen-Raum. Die Leute
sollen das ruhig hören.» Im Übrigen wolle er nicht, dass sich Schweizer
GrenzwächterInnen an rassistischen Übergriffen beteiligen. «Frontex
kann sagen, sie tut es nicht: Aber de facto werden Boote dazu gebracht,
dass sie umkehren, bevor die Menschen um Asyl bitten können.»

Ricardo Lumengo sagt: «Statt Grenzen aufzubauen, sollte
man in die Entwicklung und in die Demokratie der afrikanischen Staaten
investieren.»

Die Hilfe vor Ort könnte sich, mit einem letzten Blick
auf MigMap, allerdings auch in eine andere Richtung entwickeln: Die
vierte, die gelbe Linie beschreibt die Idee von exterritorialen
Flüchtlingslagern, wie sie bereits in der Ukraine und in Libyen
existieren. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie sich mit einer
Linie kreuzt, die von Frontex wegführt.