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Berlin ergänzt seine zunehmenden Auslandsinterventionen um ein
eigenes Institut zur Interventionsforschung. An einem
"Sonderforschungsbereich 700" der Freien Universität
Berlin untersuchen Nachwuchswissenschaftler Voraussetzungen und
Möglichkeiten politisch-militärischer Eingriffe rund um den Globus.
Die Forschungsarbeit findet in Kooperation mit Regierungsberatern
statt und wird mit Millionenbeträgen aus staatlichen Haushalten
finanziert. Besonderes Interesse gilt den ressourcenreichen Ländern
des Südens, die zu "Räumen begrenzter Staatlichkeit"
erklärt und damit westlicher Einmischung preisgegeben werden.
Zielgebiete der Berliner Interventionsforscher sind unter anderem
rohstoffreiche Provinzen in der Demokratischen Republik Kongo
(Nord-Kivu, Katanga), aber auch das von der NATO besetzte Afghanistan
sowie Georgien.
Bei
der Analyse von Interventionstechniken geht der
"Sonderforschungsbereich" unter anderem der Frage nach,
inwieweit sich Staaten wie etwa Georgien mit Hilfe sogenannter
Nicht-Regierungs-Organisationen "verdeckt steuern" ließen
und inwieweit unmittelbare "externe Eingriffe" notwendig
seien.
Unfähig oder unwillig
Aktuelle Projekte des
"Sonderforschungsbereichs 700" der FU Berlin sind
Konferenzen in der deutschen Hauptstadt (5. September) und in
Kapstadt (19. September). Dabei geht es unter anderem um die Frage,
inwieweit private Großunternehmen aus der Rohstoffbranche die
"Sicherheit" ("security") und damit die
"Regierbarkeit" ("governance") in den
ressourcenreichen Ländern Süd- und Zentralafrikas gewährleisten
können. Dies sei notwendig, heißt es, weil den dortigen Regierungen
entweder die Fähigkeit oder der Wille fehle, die für eine
erfolgreiche Geschäftstätigkeit notwendige Infrastruktur
bereitzustellen – einschließlich eines funktionierenden
Repressionsapparates ("governments lack the capacity or the will
to provide for public goods").[1] Explizit genannt werden
Provinzen der Demokratischen Republik Kongo (Katanga) und Südafrikas
(Witwatersrand), die über zahlreiche für die westlichen
Industrienationen unverzichtbare Bodenschätze verfügen.[2]
Mit Interventionen rechnen
Der an der FU Berlin angesiedelte
"Sonderforschungsbereich 700 – Governance in Räumen begrenzter
Staatlichkeit" (SFB 700) hat 2006 mit etwa 40 Mitarbeitern seine
Tätigkeit aufgenommen und wird von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) mit insgesamt 6,5 Millionen Euro
finanziert. Beteiligt sind die Universität Potsdam, das
Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), Regierungsberater von der Stiftung
Wissenschaft und Politik (SWP), die Hertie School of Governance und
das European University Institute Florenz. Ihren Sitz hat die
Forschungseinrichtung im Alfried-Krupp-Haus in Berlin, das von der
gleichnamigen Stiftung zur Verfügung gestellt wird [3]; es ist nach
dem Rüstungsindustriellen und NS-Kriegsverbrecher Alfried Krupp von
Bohlen und Halbach [4] benannt. In seiner Eröffnungsrede erklärte
Georg Boomgaarden, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, die vom SFB
700 untersuchten "Länder des Südens" müssten im Falle
der Missachtung "humanitäre(r) Grundregeln" mit der
"gewaltsame(n) Intervention der Staatengemeinschaft (…)
rechnen".[5]
Defizitäre Kolonien
Grundlage der Arbeit des SFB 700 bildet
die Einteilung der Länder der so genannten Dritten Welt in drei
Gruppen: "zerfallen(d)e Staaten" in "Krisenregionen",
bei denen nach Auffassung der Berliner Wissenschaftler weder ein
staatliches Gewaltmonopol noch die Fähigkeit des Staates "zur
effektiven Durchsetzung politischer Entscheidungen" vorhanden
seien (Afghanistan, Kolumbien, Kongo, Nigeria, Tadschikistan);
"schwache Staaten", die in beiden Bereichen, wie es heißt,
"große Defizite" aufwiesen (Argentinien, Armenien,
Aserbaidschan, Georgien, Indien, Indonesien, Mexiko, Pakistan), sowie
"Schwellenländer", bei denen dies für "Teilbereiche
ihres Territoriums" gelte (Brasilien, China, Südafrika,
Südkorea). Abgeglichen werden die diagnostizierten "Defizite"
in historischer Perspektive mit den Schwierigkeiten, mit denen sich
deutsche, britische, französische und japanische Kolonialisten
konfrontiert sahen – bei der Sicherung ihrer Herrschaft über die von
ihnen okkupierten "Räume".[6]
Verdeckt steuern
Der SFB 700, der vor allem
Nachwuchsakademiker beschäftigt, gliedert sich in mehrere
Teilbereiche. In den Forschungsprojekten des Teilbereichs A
("Theoretische Grundlagen") geht es unter anderem um die
Frage, wie internationale Institutionen und
Nicht-Regierungs-Organisationen (Non-Governmental Organizations/NGOs)
den "zerfallenden Staat" Georgien "verdeckt steuern"
könnten [7] und inwieweit "externe Eingriffe und Aufbauhilfen"
notwendig seien [8]. Mit der "Durchsetzung" der
"EU-Vorgaben zu Gutem Regieren" befasst sich auch
Teilbereich B ("Herrschaft"); dies geschieht am Beispiel
der von Brüssel geforderten "Korruptionsbekämpfung" in
Belarus, Georgien, Armenien und Aserbaidschan.[9]
Feldforschung
Neben der Analyse von
Interventionstechniken widmet sich der SFB 700 auch der Evaluation
aktueller Gewaltoperationen. Unter Leitung von Christoph Zürcher und
Ulrich Schneckener – beide arbeiten bei der Stiftung Wissenschaft und
Politik (SWP) als Regierungsberater – prüfen Forscher des
Teilbereichs C ("Sicherheit"), ob "externe
Stabilisierungsstrategien" zur "Herstellung von Sicherheit"
in Afghanistan beigetragen haben. Dabei legen die Wissenschaftler
nach eigener Aussage "größten Wert auf Empirie aus erster
Hand": "(D)ie qualitativen Fallstudien basieren auf
längeren Feldforschungsaufenthalten, welche es uns ermöglichen, die
Realitäten vor Ort zu erfassen."[10] "Feldforschung"
findet auch in der Provinz Nord-Kivu der Demokratischen Republik
Kongo statt; [11] deutschen Regierungsstellen wird vorgeworfen, in
Kämpfe um die dortigen Ressourcen verwickelt zu sein – zum Nutzen
von Bürgerkriegsmilizen.[12]
Systematischer Einblick
In Arbeit ist nicht zuletzt ein
Datenbankprojekt, das Informationen über mögliche
Interventionsgebiete ("Akteurskonstellationen,
Strukturbedingungen und Gewaltdynamiken inner- und substaatlicher
Kriege nach 1990") umfassend bündeln und für die weitere
Auswertung bereithalten soll. Ziel ist die "präzise Erfassung
von gewaltsamen Konflikthandlungen auf Ereignisbasis" sowie die
Kartierung "lokaler, regionaler oder transnationaler
Konfliktformationen". Damit könne man "systematischen
Einblick" in "Eskalations- und Deeskalationsdynamiken"
gewinnen, heißt es. Neben Angaben über die "militärischen und
finanziellen Möglichkeiten der involvierten Akteure" soll die
Datenbank die "Häufigkeiten und Charakteristika externer
Steuerungsversuche (militärische Intervention)"
berücksichtigen.[13] Damit erschließt das Projekt auch vergangene
Interventionskriege einer gezielten Evaluation.
Instrumentalisierung
Zur Zeit führt der SFB 700, der
mehrere Juniorprofessoren beschäftigt, 19 Teilprojekte durch und
betreut insgesamt 32 Doktorarbeiten; mehrere Publikationsreihen
erscheinen hier. Die Forschungseinrichtung verbindet gezielt
akademische Nachwuchsförderung mit der Instrumentalisierung
sozialwissenschaftlicher Forschung für die weltweite deutsche
Expansion.
[1] Business in Local Governance.
Workshop hosted by the Research Project: Fostering Regulation?
Corporate Social Responsibility in Countries with Weak Regulatory
Capacity at the Freie Universität Berlin. 19. September 2008,
Graduate School of Business, University of Cape Town,
www.sfb-governance.de
[2] Workshop "Governing Security and
Making Space". 5. September 2008, Freie Universität Berlin,
www.sfb-governance.de
[3] Allgemeine Informationen zum SFB 700;
www.sfb-governance.de. Harald Neuber: Staat im Rückzug; Telepolis
06.04.2008
[4] Alfried Krupp von Bohlen und Halbach (1907-1967),
seit 1931 förderndes Mitglied der SS, 1936 Vorstandsmitglied des
Krupp-Konzerns, 1937 Wehrwirtschaftsführer, 1938 Leiter der
Rüstungsabteilung des Krupp-Direktoriums, Eintritt in die NSDAP,
1943 Alleininhaber des Konzerns, 1948 vom US-Militärtribunal in
Nürnberg wegen der Ausbeutung von Zwangsarbeitern und der Plünderung
von Wirtschaftsgütern in den von Deutschland während des Zweiten
Weltkriegs besetzten Gebieten zu zwölf Jahren Haft verurteilt, 1951
amnestiert, 1953 wieder Konzernchef; Hermann Weiß (Hg.):
Biographisches Lexikon zum Dritten Reich. Frankfurt/Main 1998, S.
284; Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich.
Frankfurt/Main 2005, S. 345f.
[5] Georg Boomgaarden: Governance in
Räumen begrenzter Staatlichkeit aus außenpolitischer Perspektive.
Rede zum Auftakt der Eröffnungskonferenz des
Sonderforschungsbereiches (SFB) 700 "Governance in Räumen
begrenzter Staatlichkeit". SFB-Governance Lecture Series Nr. 2,
Berlin, März 2007
[6] Rahmenantrag der FU Berlin auf Einrichtung
und Förderung des Sonderforschungsbereichs 700 bei der Deutschen
Forschungsgemeinschaft für die Jahre 2006-2009
[7] Projektbereich
A4: Völkerrechtliche Standards für Governance in schwachen und
zerfallenden Staaten, Leiterin: Prof. Dr. Beate Rudolf,
www.sfb-governance.de
[8] Projektbereich A5: Normative Standards
guten Regierens unter Bedingungen zerfallen(d)er Staatlichkeit,
Leiter: Prof. Dr. Bernd Ladwig, www.sfb-governance.de
[9]
Projektbereich B2: "Gutes Regieren" ohne den Schatten der
Hierarchie? Korruptionsbekämpfung im südlichen Kaukasus im Rahmen
der EU-Nachbarschaftspolitik, Leiterin: Prof. Dr. Tanja Anita Börzel,
www.sfb-governance.de
[10] Projektbereich C1: Transnationale
Kooperationspartnerschaften und die Gewährleistung von Sicherheit in
Räumen begrenzter Staatlichkeit, Leiter: Prof. Dr. Christoph Zürcher
und Dr. Ulrich Schneckener, www.sfb-governance.de
[11]
Projektbereich C2: Privatisierung und Kommerzialisierung von
Sicherheit in zerfallen(d)en Staaten, Leiter Prof. Dr. Sven
Chojnacki, www.sfb-governance.de
[12] s. dazu
Schwerpunktpartner
[13]
Projektbereich: C4 – Krieg und (Un-)Sicherheit in Räumen begrenzter
Staatlichkeit, Leiter Prof. Dr. Sven Chojnacki, www.sfb-governance.de
Source: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57325