Gegengipfel zur EU-Migrationspolitik in Paris und Montreuil am 17./18. Oktober

Wichtige Signale gegen die „Festung Europa“

[labournet.de] Ibrahima
hat das Abschiebezentrum von Mesnil-Amelot, in der Nähe des Flughafens
von Paris-Roissy (Charles de Gaulle), die mit Abstand größte
Abschiebehaftanstalt im Raum Paris, von innen gesehen. Er erzählt: „Man
kann sich das Leben dort nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst von
innen erlebt hat. Denn jenseits der technischen Dimensionen und der
Tatsache, dass man zwecks Durchführung der Abschiebung – und ohne dass
man irgendein Verbrechen begangen hätte – gefangen gehalten wird, gibt
es einen starken psychologischen Faktor. Le Mesnil-Amelot hat etwas
Einmaliges: Da es direkt in der Einflugschneise des Großflughafens
liegt, sieht und hört man den ganzen Tag Flugzeuge abheben. Das hat
eine ungeheuer zerstörende, zermürbende Auswirkung auf die Stimmung:
Die individuelle Moral wird untergraben, man fühlt sich ganz so, als
sei man bereits abgeschoben und sitze schon in seinem Herkunftsland. Es
ist ganz so, als man ob man ein Krankenhaus direkt neben einem Friedhof
errichten würde!“

Obwohl zwei Drittel der in
der Abschiebehaftanstalt nicht real ausgeflogen werden, sondern nach
Ablauf der zulässigen Höchstdauer des Abschiebegewahrsams freigelassen
werden müssen. Diese Höchstdauer beträgt derzeit in Frankreich 32 Tage,
in Deutschland sind es bis zu 18 Monate. Zudem wird in vielen deutschen
Bundesländern der Abschiebegewahrsam zwingend in einem „richtigen“
Gefängnis verbracht, während in Frankreich die ‚Centres de rétention
administrative‘ („Zentrum der Verwaltung zum Zurückhalten“ bestimmter
Personen) von Haftanstalten juristisch unterschieden werden. Daraus
resultieren auch gewisse Unterschiede im Umgang mit den
„Zurückzuhaltenden“: Abschiebehäftlinge in Frankreich dürfen etwa in
der Anstalt Besuch empfangen und ihre Telefone behalten. Außer, wenn
man damit fotographieren kann, denn Bilder aus dem Inneren dürfen, so
der Staat, denn doch nicht nach draußen dringen.

Dramatische
Verschlechterungen und Zuspitzungen kündigen sich unterdessen an: Eine
EU-Richtlinie, die am 18. Juni 2008 verabschiedet wurde, erlaubt den
Mitgliedsstaaten, „Abschiebekandidaten“ bis zu 18 Monate zwangsweise
festzuhalten – im Sinne der bislang in Deutschland zulässigen
Höchstdauer. Und zwar ist die Abschiebehaftanstalt von Vincennes, bei
Paris, am 22. Juni dieses Jahres infolge einer Revolte der Insassen bis
auf die Grundmauern niedergebrannt. Aber neue Anstalten sind derzeit im
Bau, so soll der Abschiebeknast von Le Mesnil-Amelot um 17.000
Quadratmeter vergrößert werden. Frankreichweit existierten im Jahr 2003
insgesamt knapp 700 Plätze in den Abschiebeknästen, heute sind es 1.700
Quadratmeter – auf gleich bleibendem Raum. Entsprechend
zusammengedrängt leben die Insassen im Moment. Sechs neue
Abschiebezentren, zusätzlich zu den 24 bestehenden, sind unterdessen im
Bau.

Diese Zustände sind nur die objektive
Konsequenz aus einer allgemeinen Tendenz, die derzeit überall in der
Europäischen Union sichtbar wird: dem Ausbau zur „Festung Europa“.
Ähnlich wie das offizielle Frankreich, möchten die meisten
Mitgliedsländer der EU zunehmend unerwünschte Zuwanderung verhindern
und die Betreffenden „loswerden“, und gleichzeitig die ökonomisch
„nützlichen“ Einwanderer stärker sortieren und Hochqualifizierte
anziehen. Am besten soll die Auswahl, also die Sortierung in
„Nützliche“ und „Überflüssige“, schon in den Herkunftsländern
vorgenommen werden. Oder in Transitländern wie Marokko, Mauretanien
oder Libyen, deren Regime sich in wachsendem Ausmaß in die EU-Politik
der militarisierten Flüchtlings- und Migranten-Abwehr einbinden lassen.
Oft unter krassester Missachtung elementarer Menschenrechte. Praktisch,
dass in solchen Ländern unabhängige Beobachter kaum oder nur schwer
über die Einhaltung fundamentaler Grundrechte wachen können. In Libyen
beispielsweise existiert nur eine einzige Menschenrechtsorganisation,
die unter dem Vorsitz eines der Söhne von Staats- und
„Revolutions“führer Muammar Kaddafi steht. Nichtsdestotrotz ist Libyen
etwa für Italien, den nördlichen Nachbarn und früheren Kolonialherrn,
inzwischen zu einem der wichtigsten „Partner“länder bei der Abwehr
unerwünschter Migration geworden. Der Trend ist unterdessen in allen
führenden EU-Staaten derselbe.

Um ihn zu
kritisieren und öffentlich Zeugnis von den Konsequenzen und
Auswirkungen dieser Politik abzulegen, waren am Freitag und Samstag
mehrere hundert RepräsentantInnen der Zivilgesellschaften und von
Nicht-Regierungs-Organisationen(NGOs) aus Europa und Afrika in Paris
zusammengekommen. In Montreuil, einem Pariser Vorort, der gleichzeitig
eine der Hochburgen der Immigration aus dem westafrikanischen Staat
Mali ist, trafen die Delegierten von insgesamt 300 unterstützenden
Initiativen und NGOs sowie zahlreiche Einzelpersonen am Freitag zu
einem „alternativen Gipfel“ zusammen. Am Samstag war der
„Euro-afrikanische Bürgerrechtsgipfel zu Migration“, so lautete der
offizielle Titel, von einer internationalen Demonstration und einem
Konzert auf der Pariser Place de la République gefolgt. An ihnen nahmen
rund 3.000 Menschen teil.

Konzipiert war die
Veranstaltung ursprünglich als „Gegengipfel“ zur für Anfang vergangener
Woche geplanten EU-Ministerkonferenz zum Thema Migrationspolitik in
Paris. Aufgrund der anhaltenden Finanzkrise, und weil die
Regierungsspitzen mit dem Auflegen von Rettungsplänen für das jeweilige
Bankensystem beschäftigt waren, wurde der Ministergipfel jedoch auf den
15. und 16. November verschoben.

Jedoch wurde
bereits am vergangenen Donnerstag in Brüssel die Vorlage für einen
gemeinsamen „Europäischen Pakt zu Migration und Asyl“, den der
französische Minister „für Einwanderung und nationale Identität“ Brice
Hortefeux im Frühsommer präsentiert hatte, durch die zuständigen
Minister angenommen. Die Konferenz im November soll nur noch die Hand
heben, um ihn offiziell zu verabschieden. Der neue „Pakt“ sieht u.a.
vor, dass EU-Mitgliedsstaaten auf eine „kollektive Legalisierung“
bislang „illegal“ auf ihrem Boden lebender Einwanderer – wie Italien
und Spanien sie in diesem Jahrzehnten praktiziert haben – verzichten
sollen. Frankreich opponierte schon vor drei Jahren gegen die damalige
spanische Regelung zur „Legalisierung“ von rund 700.000 Menschen.
Während die spanischen Behörden sich darüber freuten, dass diese
Lohnabhängigen künftig mit Lohnsteuerkarte – statt „schwarz“ – arbeiten
und dadurch die Not leidenden Sozialversicherungskassen auffüllen
werden. Paris, aber auch Berlin möchten hingegen nur noch
„Legalisierungen“ nach Einzelfallprüfungen durchgehen lassen, und haben
sich damit im Prinzip auch durchsetzen könne obwohl zu diesem Thema ein
etwas vager Formelkompromiss beschlossen wurde. Näheres wird die
konkrete Ausführung des „Pakts“ zeigen.

Noch
vor dem nunmehr verschobenen Ministergipfel zur Einwanderungspolitik,
nämlich am 3. und 4. November, soll eine europäische
Justizministerkonferenz stattfinden. Frankreich, das im Augenblick die
EU-Ratspräsidentschaft innehat, bewies mit der Ortswahl dafür einen
Sinn für geschmackvolle Symbolik: Die Ministertagung wird nämlich in
Vichy zusammentreten. Dort soll es dann u.a. um Richtlinien zur
künftigen Abschiebepraxis gehen. Nach der Verabschiedung der neuen
EU-Richtlinie zum Thema vom 18. Juni dieses Jahres (s.o.), die in
Frankreich durch die Solidaritätsinitiativen und NGOs nur als
‚Directive de la honte‘ (Richtlinie der Schande) bezeichnet wird,
dürfte jedoch klar sein, wohin der Hase läuft. Repressivere
Bestimmungen, längere Verweildauer in Abschiebegewahrsam, und nunmehr
sollen auch Kinder und Jugendliche „mit klarer Rechtsgrundlage“ ganz
offiziell in Abschiebehaft gehalten werden können.

Alassane,
einer der Sprecher der „Association des Maliens expulsés“ (AME,
„Vereinigung der abgeschobenen Malier“) in Bamako, schildert in
Montreuil – und am Vorabend auf Infoveranstaltung in Paris – über die
Auswirkungen der verschärften Ausweisungspolitik in seinem Land. „Mali
ist lange Jahre als <Müllkippe> von Staaten wie Frankreich,
Italien und Spanien für ihre unerwünschten Zuwanderer behandelt worden.
Da die malischen Konsularbehörden im Ausland oft komplizenhaft so
genannte Passierscheine (Laissez-passer) ausstellen – die eine Person,
die über keinen Reisepass verfügt, zur Grenzübertretung benötigt -,
kommen Staatsbürger aus allen möglichen Ländern bei uns an. Angeblich
sind sie Malier, aber in Wirklichkeit hat man sie nur in dieses Land
abgeschoben, weil es so leicht war. Wir haben am Flughafen von Bamako
sogar einen Nepalesen, aus Südasien, als Abschübling ankommen sehen.
Das alles ist kein Wunder: Das malische Konsulat in Paris erhält vom
französischen Staat Geld für jedes <Laissez-passer>, das es
ausstellt. Der Konsul erhält 320 Euro pro Abschiebekandidaten…“

Die
AME betreut die aus den europäischen Ländern, aber auch aus anderen
afrikanischen Staaten wie etwa Libyen oder Gabun Hinausgeworfenen, die
am Flughafen ankommen. „Viele kommen ohne einen Cent Geld in der Tasche
an, und oft haben sie auch keine Familie in der Hauptstadt Bamako
selbst. Wir kümmern und darum, ihnen für einige Tage eine Unterkunft zu
besorgen. Aber wir schlagen ihnen auch eine psychologische und
psycho-soziale Betreuung vor und bieten ihnen an, dass eine Person sie
zurück in ihre Familie begleitet. Das ist ungeheuer wichtig, denn wer
mit leeren Händen und unfreiwillig nach Hause kommt, während andere
Personen aus seinem Dorf oder seinem Stadtteil noch in Europa leben,
wird durch die Gesellschaft oft als ‚Versager‘ behandelt. In Afrika
werden sie oft Exorzismus zum Austreiben böser Geister unterworfen…
Insgesamt sind die Abgeschobenen oft traumatisiert und demoralisiert.“

Die
AME kümmert sich zusammen wie französischen Solidaritätsinitiativen,
wie „Droits devant!“ und „Survie“, aber auch um mögliche juristischen
Antworten auf den staatlichen Umgang mit „unerwünschten“ Einwanderern.
So wird geprüft, Musterprozesse gegen den „Diebstahl“ von entgangenen
bzw. „verlorenen“ Bankguthaben oder Sozialleistungen zu führen. Es geht
um Einwanderer, die lange Jahre in Frankreich in die Sozialkassen
einbezahlt haben und die all ihr Hab und Gut zurücklassen mussten.

Diese
Zusammenarbeit ist quasi ein Musterbeispiel für die Kooperation der
„Zivilgesellschaften in Nord und Süd“, die auch auf dem Gegengipfel am
Freitag und Sonnabend beschworen wurde. Allerdings mit etwas mehr
bürokratischen Schwerfälligkeiten, etwa bei der Einschreibung – die
sich u.U. als nicht so leicht erwies – und bei der Verabschiedung eines
Resolutionstexts, der in weiten Strecken durch die „mächtigsten“ NGOs
im Vorfeld bereits ausformuliert worden war. Ein Grundkonflikt zwischen
Solidaritätsinitiativen, die eine radikalere Kritik an der europäischen
Politik üben, und stärker institutionalisierten NGOs sowie eher
karitativen Organisationen (wie der christlichen Emmaüs-Community oder
ATD-Quart Monde) ließ sich im Verlauf der Konferenz durchaus ablesen.

Dennoch
ging von dem Gegengipfel ein wichtiges Signal aus. Die
Abschlusserklärung fordert eine verstärke Einmischung „der
Zivilgesellschaften in Nord und Süd“ in die Praxis der Staaten. Er
fordert eine Neudefinition von Zuwanderungs- und Entwicklungspolitik,
die solidarisch ausgerichtet sein müssten, und warnt vor der Gefahr
einer zunehmend Abschottung „im Zuge der Finanzkrise, die die Armut
auch im Norden noch zu verschärfen droht“. Zudem wurde ein
Forderungskatalog in den insgesamt sechs Workshops ausgearbeitet. Er
beinhaltet beispielsweise im Bereich des Asylrechts die freie Wahl des
Aufnahmelands, die Ablehnung jeglicher Externalisierung der
Migrationspolitik (von der EU hin zu „peripheren“ Staaten) sowie den
Zugang zu Arbeit und Sozialleistungen. Huamnistische Forderungen, die
im diametralen Gegensatz zur aktuellen Grundtendenz der Politik in fast
allen EU-Ländern stehen.

Artikel von Bernard Schmid vom 20.10.2008

Source: http://labournet.de/diskussion/grundrechte/asyl/migragipfel.html