[heise.de] Nach welchen Kriterien klassifiziert man Verbrecher in einer Datei? Die Frage beschäftigt im Augenblick die
französischen Medien. Seit der Affäre Edvige ist man sensibilisiert.
Das Dekret zur Datenbank dieses Namens war im Sommer zunächst unbemerkt
in Kraft getreten und hatte plötzlich nach dem französischen Ferienende
– "la Rentrée" – zu einer immer lauteren Protesten in der
Öffentlichkeit geführt bis hinein in Ministerränge. Der Präsident
selbst griff schließlich ein und ordnete eine Revision der heiklen
Punkte an. In der öffentlichen Kritik stand insbesondere, dass die
Datenbank, die von Geheimdiensten und bestimmten Polizeidienststellen
angelegt und benutzt wird, Informationen erfasst, die als intim gelten
– etwa sexuelle Vorlieben – oder brisant sind – so etwa politische
Aktivitäten. Resultat der vielen Diskussion in Gefolge von Edvige: Die
Öffentlichkeit ist jetzt sehr wach, wenn es um das Thema der
polizeilichen Datenerfassung geht.
Deshalb war die AFP-Vorabveröffentlichung
eines internen Papiers, angefertigt von einer von der französischen
Regierung eingesetzten Gruppe, die über die künftige Konzeption einer
Datenbank berät, nicht mehr die harmlose Geschichte, die sie vielleicht
vor dem Sommer noch gewesen wäre, sondern ein Politikum in der
vergangenen Woche. Und das musste der Leiter der "Groupe de contrôle
des fichiers de police et de gendarmerie", der Kriminologe Alain Bauer
aus der Welt schaffen. AFP hatte von einem Gruppen-Papier berichtet,
das man der Agentur zukommen hatte lassen. In diesem Papier wurde der
Vorschlag gemacht, die Kartei "Canonge" zu ändern.
Die Kartei, die unter anderem dazu verwendet wird, Opfern Bilder möglicher Verdächtiger zu zeigen, geht
auf einen Polizeiinspektor aus Marseille namens Canonge zurück. Er
legte in den fünziger Jahren eine Kartei von Gesetzesübertretern an,
die nach vier Kriterien geordnet waren: "Schwarz, weiß, gelb und
arabisch". 1992 wurde Canonge in Computer übertragen und die Kategorien auf zwölf ausgeweitet, "ethno-rassische" Kriterien, wie das in französischen Medien genannt wird:
"blanc (Caucasien), Méditerranéen, Gitan, Moyen-Oriental, Nord
Africain, Asiatique Eurasien, Amérindien, Indien (Inde), Métis-Mulâtre,
Noir, Polynésien, Mélanésien-Canaque"
Eine derartige Kategorisierung verursacht nicht erst seit Kurzem
unangenehme Gefühle, insbesondere in einem Land mit kolonialer
Vergangenheit. Als besonders anstößig und schockierend wurde die
Kategorie "Gitan" empfunden. Schon in den vergangenen Jahren wollte
eine Überarbeitungsgruppe, eine "groupe fichiers" die "Zigeuner" aus
der Kartei nehmen und neue, neutralere Einteilungen finden. Das Projekt
verlief sich aber im Sande, berichtet der Figaro.
Dasa "Gitan" jetzt gestrichen wird, steht fest und sei das einzig
berichtenswerte Ergebnis der Debatte innerhalb der aktuellen "Groupe
fichers", teilte
nun deren Vorsitzender Alain Bauer mit. Das andere, das oben erwähnte
Papier, wonach man die Gesetzesübertreter künftig nach einer
Kombination aus ethnischer Herkunft und Hautfarbe versuchsweise
kategorisieren wolle, sei dagegen keine Nachricht, sondern unwahr, dementierte Bauer den oben erwähnten AFP-Bericht, der aus dem Bericht Entsprechendes zitiert hatte.
Und doch ist es eine Nachricht, sie steckt im Problem, dem sich die Gruppe laut Bauer gegenübersieht:
"Die Frage, die von der Gruppe debattiert wird, betrifft die Art,
wie man eine Person charakterisiert: Soll man die wahre oder
angenommene Zugehörigkeit zu einer ‚ethno-rassischen‘ Herkunft
verwenden oder sich vielmehr einer "Farbpalette" bedienen? Es handelt
sich um zwei Vorschläge der Verknüpfung, die allerdings von der
Mehrheit der Gruppe zurückgewiesen wurde, namentlich von den Vertretern
des Staates und den Polizeigewerkschaften."
Die Anworten auf diese Fragen dürften nicht leicht fallen, denn das
Problem der korrekten, unanstößigen, vorurteilsfreien
Identitäts-Bezeichnung sitzt mitten drin in einem ungelösten Bündel von
gesellschaftlichen Fragen. Verbunden mit einem gigantischen System der
Datenerfassung und -speicherung werden solche kategorischen
Überlegungen zu wichtigen Machtfragen. Die Sensibilität dafür ist jetzt
in Frankreich offensichtlich anders als vor der Debatte über Edvige.
Übrigens berichtet
der konservative Figaro, dass die Vorschläge der Vertreter der
"Antirassismus-Organisationen" in der "Groupe fichiers" in Richtung der
Beschreibung der Hautfarbe zielen, anstelle "rassischer Kriterien". Im
Auge hat man dabei ein Skalenprinzip, das für die Anfertigung von
Phantombildern verwendet wird.
Thomas Pany05.12.2008