Scheidender Chef der europäischen Polizeibehörde zieht Bilanz
Max-Peter Ratzel im Gespräch mit Silvia Engels
[dradio.de] Max-Peter Ratzel, scheidender Direktor der europäischen Polizeibehörde Europol, ist zufrieden mit deren Entwicklung. Man habe konkrete Unterstützungsmaßnahmen in Mitgliedsländern durchführen können. Sorge bereitet Ratzel, dass im Euroraum nach wie vor Anschlagsplanungen im Gange sind.
Silvia Engels: Vier Jahre lang war Max-Peter Ratzel Direktor der europäischen Polizeibehörde Europol. Mit dem heutigen Tag übergibt er die Geschäfte an den Briten an Rob Wainwright. In Zeiten der wachsenden Terrorismusbedrohung und der zunehmenden grenzüberschreitenden Kriminalität hat er sich für eine bessere Vernetzung und mehr Kompetenzen für Europol stark gemacht. Nun ist er am Telefon. Guten Morgen, Herr Ratzel!
Max-Peter Ratzel: Guten Morgen, Frau Engels!
Engels: Welche Bilanz ziehen Sie nach vier Jahren? War Europol erfolgreich?
Ratzel: Nach vier Jahren kann ich die Bilanz ziehen, dass der Ausbau von Europol weiter vorangeschritten ist, dass die Behörde, die im Sommer diesen Jahres ihren zehnjährigen Geburtstag feiern wird, sich konstituiert hat und eine gewisse Reife erreicht hat und als Partner in der internationalen Verbrechensbekämpfung nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern darüber hinaus auch mit sogenannten Drittpartnern sehr gut anerkannt worden ist.
Engels: Machen wir es konkret: Können Sie Fälle benennen, in denen Europol geholfen hat und ist das alte Misstrauen, das es ja in den EU-Mitgliedsländern gab, langsam überwunden?
Ratzel: Wir haben eine ganze Reihe von sehr konkreten operativen Unterstützungsmaßnahmen in den Mitgliedsstaaten durchführen können, die immer auf zwei Faktoren basiert haben: Zum einen haben uns die Mitgliedsstaaten ausdrücklich dazu eingeladen, fortzukommen, das drückt sehr ausdrücklich und sehr eindrücklich das Vertrauen aus, das uns entgegengebracht worden ist. Und die zweite wesentliche Einschränkung war, dass Europol-Mitarbeiter keinerlei Exekutivkompetenzen haben, das heißt, Festnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmungen sind immer von Ortskräften durchgeführt worden, nicht von Europol-Mitarbeitern. Und dieses bilaterale System der Unterstützung durch Europol für die örtlichen Kräfte hat sich sehr gut in vielen Fallkonstellationen bewährt.
Engels: Welches ist der spektakulärste Fall, an den Sie sich erinnern, über den Sie auch sprechen können, wo Europol geholfen hat?
Ratzel: Einer der spektakulärsten Fälle war die Bekämpfung international tätiger Verteilerringe von Kinderpornografie, ein Fall, der in Australien begonnen hat, starke Bezüge nach Europa gezeigt hat, wo wir über Interpol die europäische Komponente aufdecken konnten. Und nachdem Interpol uns die nach Europa gezeigt hat, haben wir innerhalb Europas die Koordination wahrgenommen und haben dann anschließend koordinieren können, Maßnahmen innerhalb Europas, in Australien, in den Vereinigten Staaten, die zu mehreren Hundert Festnahmen von Herstellern, von derartigen Schweinereien geführt haben, die aber auch dazu geführt haben, dass Abnehmer davon festgenommen worden sind. Und das Allerwichtigste: Wir konnten unterbinden den andauernden Missbrauch von Kindern.
Engels: Herr Ratzel, Sie haben es angesprochen: Die Aufgabe von Europol besteht vor allen Dingen darin, zu koordinieren, Informationen auszutauschen. Haben Sie da auch schlechte Erfahrungen gemacht, sträuben sich einige Mitgliedsstaaten, einige Behörden, Kompetenzen und Informationen abzugeben?
Ratzel: Ich würde nicht von schlechten Erfahrungen sprechen, sondern wir haben sehr gute Erfahrungen gemacht. Und manche Staaten und manche Mitarbeiter in manchen Staaten sind noch nicht hinreichend sensibilisiert. Sie kennen die Produkte und die Serviceleistungen von Europol noch nicht in dem Maße, sodass sie die abrufen konnten. Insoweit würde ich die guten Erfahrungen als gutes Beispiel nehmen und den anderen die Ermunterung geben, sich an diesen guten Beispielen zu orientieren.
Engels: Ein Bereich ist die grenzüberschreitende Kriminalität, Sie haben es angesprochen. Ein anderer Bereich, den Europol bearbeitet, ist der islamistische Terror. 2007 haben Sie mit Blick auf diese Bedrohung gesagt, es sei nicht die Frage, ob es Anschlagsversuche geben werde, es sei nur die Frage, wann und wo. Gilt dieser Satz heute noch genauso?
Ratzel: Dieser Satz gilt heute leider uneingeschränkt weiter. Wir haben nach wie vor eine Reihe von Indikatoren für andauernde Anschlagsplanungen, sind aber gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten sehr wohl gewappnet, diesen Indikatoren früh genug nachzugehen. Und in einer Reihe von Fällen waren wir erfolgreich, insbesondere in den Mitgliedsstaaten, Anschlagsplanungen bereits sehr frühzeitig zu unterbinden.
Engels: Haben Sie da ein Beispiel?
Ratzel: Darüber möchte ich im Moment nicht sprechen, weil da sind viele Dinge, die noch in operativen Phasen sind.
Engels: Haben Sie denn mittlerweile als Europol-Behörde mehr Möglichkeiten, das Wann und das Wo solcher Anschlagspläne besser einzugrenzen?
Ratzel: Die konkrete Eingrenzung des Wann und des Wo obliegt weiterhin in den Mitgliedsstaaten. Unsere Aufgabe ist es, die Vernetzung der Informationen herbeizuführen, und da waren wir sehr erfolgreich. Wir haben beispielsweise in einem Fall einer Bombenbriefkette, die versandt worden ist, allerdings nicht im Bereich des islamistischen Terrorismus, Mitgliedsstaaten sehr früh zu unterstützen. In diesem konkreten Fall konnten sie die Versendung weiterer Bomben und auch die Herstellung weiterer Briefbomben unterbinden.
Engels: Steht denn Deutschland tatsächlich so sehr im Mittelpunkt der islamistischen Bedrohungen, wie es die Drohungen aus Islamistenkreisen der vergangenen Monate vermuten lassen?
Ratzel: Innerhalb Europas haben wir eine sehr heterogene Situation, wobei die großen Staaten, die insbesondere auch in den entsprechenden Problemzonen wie Irak und Afghanistan engagiert sind, die zudem große entsprechende Communities beherbergen, besonders im Fokus des islamistischen Terrorismus stehen.
Engels: In Deutschland wird ja im Zusammenhang auch mit dem islamistischen Terrorismus schon länger über neue Fahndungsmethoden gestritten – von Onlinedurchsuchungen bis hin zur Vorratsdatenspeicherung. Gegner argumentieren da mit Datenschutzbestimmungen. Wie beurteilen Sie aus europäischer Sicht diese Debatte, wird das in anderen Ländern ähnlich behandelt? Wie sehen Sie es?
Ratzel: Aus europäischer Sicht ist die Speicherung bestimmter Verbindungsdaten sehr hilfreich und ein sehr nützliches Werkzeug, um früh genug Verbindungen zwischen Täterstrukturen aufzudecken, weil gerade die Verbindungsdaten uns klar die Beziehungsgeflechte zwischen verschiedenen Tätern aufzeigen. Deshalb haben wir das sehr stark unterstützt auch seitens Europol. Die Lösung, die gefunden worden ist europaweit, ist sicher ein richtiger Einstieg, dass die Verbindungsdaten für sechs Monate gespeichert werden können. Und wir sind der Meinung, dass die reine Speicherung der Verbindungsdaten keine gravierenden datenschutzrechtlichen Probleme aufwirft.
Engels: Fordern Sie denn weitergehende Instrumente in diesem Bereich?
Ratzel: Man muss sich das Thema Onlinedurchsuchung genau ansehen. Hier gibt es einige Mitgliedsstaaten, die bereits Vorreiterrolle eingenommen haben. Die konkreten Erfahrungen dieser Vorreiterrollenfunktionen müssen überprüft werden, müssen evaluiert werden. Und wenn sich so positiv herausstellt, wie wir uns das vorstellen, sollte man daraus lernen und das auch in anderen Staaten versuchen einzuführen, soweit dies rechtlich nötig/möglich? ist.
Engels: Herr Ratzel, Sie haben eben die Erfolge bei Aufklärung von kinderpornografischen Fällen angesprochen. Die grenzüberschreitende Kriminalität umfasst viele Bereiche, die Mafia ist tätig bei Drogen, bei Prostitution, bei Geldwäsche. Welche Bilanz ziehen Sie in diesem Bereich?
Ratzel: Im Bereich der organisierten Kriminalität haben wir ebenfalls sehr starke Entwicklungen im Bereich des Informationsaustausches erzielt. Die Schwerpunkte von Europol waren im Bereich der Drogenkriminalität, der Menschenhandel, die Schleusungskriminalität, die Fälschung des Euros, aber auch das weite Feld der Wirtschaftskriminalität einschließlich der Geldwäsche. Und in all diesen Bereichen sind wir sehr erfolgreich gewesen, weil die Mitgliedsstaaten gemerkt haben, dass nur eine Informationsteilhabe einen Ermittlungserfolg unterstützen kann.
Engels: Herr Ratzel, man merkt, Sie noch mitten in der Aufgabe – fällt es Ihnen schwer, aufzuhören?
Ratzel: Es fällt mir schwer und leicht zugleich, weil es absehbar, dass diese Aufgabe nach vier Jahren zu Ende kommt. Es fällt schwer, weil es eine außerordentlich interessante, herausfordernde Tätigkeit war und ich das Privileg hatte, in einer Behörde zu arbeiten, bei deren Abschluss 33 verschiedene Nationalitäten vertreten waren, 23 Muttersprachler ihr Arbeitsfeld gefunden haben und wir gemeinsam die Bekämpfung der Kriminalität voranbringen konnten.
Engels: Gibt es daneben auch ein weinendes Auge dahingehend, dass die Kriminalität und möglicherweise auch die terroristische Bedrohung immer vielleicht einen Schritt voraus sein wird, dass man letztendlich doch ein Fass ohne Boden vor sich hat?
Ratzel: Es ist weniger ein weinenden Auge, sondern ein realistischer Blick nach 25 Jahren beziehungsweise 30 Jahren im Bereich der Bekämpfung von Kriminalität, dass die Kriminalität naturgemäß nur sehr, sehr schwer zu bekämpfen ist. Wir haben es allerdings in den letzten Jahren stärker geschafft, aus der Repression in die Prävention zu kommen, und das sehe ich als einen gravierenden Erfolg an.
Engels: Max-Peter Ratzel, scheidender Direktor der europäischen Polizeibehörde Europol. Ich bedanke mich für das Gespräch!
Ratzel: Bitte schön!
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