Der sicherheitsindustrielle Komplex der EU

Matthias Monroy


Ben Hayes von Statewatch über die Schaffung neuer "Bedrohungen", um
neue Befugnisse und Mittel der Sicherheitsagenturen einzuführen

[heise.de] Im Rahmen der gegenwärtigen schwedischen EU-Präsidentschaft findet am 29. und 30. September in Stockholm die Fourth European Security Research Conference
statt. Dieser "bedeutende Bestandteil der Entwicklung ziviler
europäischer Sicherheitsforschung" wird von der Europäischen Kommission
in Zusammenarbeit mit der schwedischen "Governmental Agency for
Innovation Systems" organisiert und findet innerhalb des "European
Security Research Programme" (ESRP) des 7. Forschungsrahmenprogramms
(FP7) statt.

Pünktlich zur Konferenz, die "Stakeholder" und "Entscheidungsträger aus
Politik und Wirtschaft" zusammenbringen will, erhellt eine kritische
Studie die Verbindungen europäischer Sicherheitspolitik und der
Industrie. NeoConOpticon – Der sicherheits-industrielle Komplex der EU, geschrieben von Ben Hayes und veröffentlicht vom Transnational Institute (TNI) in Zusammenarbeit mit Statewatch,
gibt einen umfassenden Überblick über neue Anwendungen und Apparaturen,
die vorgeblich "Sicherheit" für europäische Bürger produzieren sollen.
Vor allem aber identifiziert der Bericht die Akteure von "Angebot und
Nachfrage" einer "Sicherheit", die zur hochprofitablen Ware geworden
ist.

Ben Hayes ist seit 1996 Mitglied der Bürgerrechtsorganisation Statewatch in London. Er arbeitet auch für das European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin und das Transnational Institute (TNI) in Amsterdam.

Neue Sicherheit und neue Bedrohungen

 

In "NeoConOpticon" folgst du der Theorie, dass sich die Europäische
Union zu einem "sicherheitsindustriellen Komplex" entwickelt, wie du
ihn bereits in einer deiner letzten Studien "Armed Big Brother"
beschrieben hast. Sicherheitspolitik wird hinter verschlossenen Türen
entschieden, beeinflusst von "think tanks", Lobby-Gruppen und natürlich
Sicherheits- und Verteidigungskonzernen. Auch in den
Forschungsprogrammen der EU werden informelle Gruppen ins Leben
gerufen, die wiederum andere wenig greifbare informelle Strukturen
einrichten und über ihr eigenes Millionenbudget entscheiden. Wer sind
die Akteure?

Ben Hayes:
Die Europäische Kommission hat ein eigenes
Generaldirektorat für Forschung, das für die meisten
Forschungsprogramme der EU zuständig ist. Allerdings werden die
Bereiche, in denen "Sicherheitsforschung" betroffen ist, dem
"Generaldirektorat Unternehmen und Industrie" übergeben. Eine Maßnahme,
die vor allem den Wunsch der EU entspricht, die "industrielle
Wettbewerbsfähigkeit" im Sektor von "Homeland Security" zu verbessern
und auf einem extrem lukrativen Markt in Konkurrenz zur USA zu treten.

Die Kommission hat zudem schrittweise "Beratungsgremien" etabliert (die
Group of Personalities, das European Security Research Advisory Board
und das European Security Research and Innovation Forum), um
übergreifende Vorhaben und strategische Prioritäten der EU im Bereich
Forschung und Entwicklung zu entwerfen. Diese informellen Gremien, die
außerhalb der normalen Entscheidungsstrukturen der EU eingerichtet
wurden, werden von privaten Interessen bestimmt. Eine kleine Gruppe
bekannter multinationaler Konzerne aus dem Verteidigungssektor wurde
besonders gut repräsentiert – Thales, EADS, Finmeccanica und Sagem
Défénsé Sécurité. Ebenso wurden israelische Agenturen und
Gesellschaften einbezogen, um die EU zur Sicherheitsforschung zu
beraten.

Gibst du uns einen Überblick technischer und sozialer Mittel von
Überwachung und Kontrolle, die wir in den nächsten Jahren erwarten
können?

Ben Hayes:
Die EU hat bereits eine Reihe von
überwachungsfreundlichen Gesetzen eingeführt, mehr sogar als die USA.
Diese Maßnahmen beinhalten die verpflichtende Überwachung von
Telekommunikation; die Einführung von Fingerabdrücken in
EU-Reisepässen, Visa und Aufenthaltserlaubnissen sowie die Einführung
biometrischer Identifikationssysteme; Auswertung und Austausch von
Flugdaten; Überwachung finanzieller Transaktionen. Im Rahmen des
europäischen Sicherheitsforschungsprogramms hat die EU Aufträge für
Forschung und Entwicklung erteilt, z.B. Satellitenaufklärung und
–verfolgung, die Nutzung unbemannter Luftfahrzeuge (UAV oder Drohnen)
für Polizei und Grenzüberwachung, automatisierte Fahndungssysteme,
Anwendungen zum Datamining und die sogenannte intelligente
Videoüberwachung, die an Systeme zur Verhaltenserkennung gekoppelt ist.
Dieses gesamte Programm dient in Wirklichkeit dazu, Europas
Polizeibehörden, Sicherheitsdienste, Grenztruppen, Agenturen zum
Krisenmanagement und paramilitärische Einheiten mit den neuesten
Überwachungstechniken auszurüsten.

Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 beschloss die EU, einen "Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" zu installieren. Zur
Staatswerdung mit eigenen Gewalten hat die EU diverse Verträge,
Richtlinien, Aktionspläne und Direktiven verabschiedet, die behaupten
"Sicherheit" würde mehr "Freiheit" für ihre Bürger schaffen. Um welche
"Bedrohungen" handelt es sich?

A>: Schon immer hat die EU fokussiert (manche würden sagen
übertrieben) auf die "Bedrohungen" des organisierten Verbrechens, der
illegalen Migration, des Terrorismus und der sogenannten
"Schurkenstaaten". Was wir in den letzten Jahren gesehen haben – sowohl
auf nationaler wie auf EU-Ebene – ist eine rasante Ausweitung der
Auffassung von "Sicherheit" mit einer Reihe neuer "Bedrohungen". Die
Sicherheitsstrategien Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands
reichen heutzutage von Protest und Demonstrationen über Pandemien bis
zum Klimawechsel. Einhergehend mit der Schaffung neuer "Bedrohungen"
gibt es selbstredend ein Verlangen nach neuen Befugnissen und Mitteln
der Sicherheitsagenturen, um im Namen der Risikominimierung
vorausschauend zu intervenieren.

Franco Frattini, früherer EU-Kommissar für Sicherheit und Recht (heute
Außenminister unter Berlusconi) erklärt "Sicherheit" zum "Gemeinwohl",
für das "Verantwortung und Umsetzung unter öffentlichen und privaten
Trägern geteilt werden muss". Was meint er?

Ben Hayes:
Das Prinzip, Sicherheit sei heutzutage ein unter
dem öffentlichem Sektor und Privatwirtschaft geteiltes "Gemeinwohl",
ist gefährlich. Nicht weil private Sicherheit notwendigerweise etwas
Schlechtes sein muss, aber weil die profitorientierte, technikgläubige
Vision der Privatwirtschaft – in ihrer Gesamtheit betrachtet –
nachweislich im Widerspruch steht mit den demokratischen Traditionen
einer "freien Welt" und ihrem Anspruch auf soziale Gerechtigkeit. Es
ist auch eine Gefahr, dass diese unternehmensgesteuerte Agenda Überhand
über eine traditionelle Sozial- und Wirtschaftspolitik gewinnt, die
entworfen wurde, um die "Hauptursachen" komplexer sozialer Phänomene
wie Migration, Terrorismus und Unterentwicklung anzugehen.

Innere und äußere Sicherheit werden eins, zivile und militärische
Forschung verschmelzen. Europäische Polizeitruppen operieren unter
militärischem Kommando in "Drittstaaten", das Militär hilft
währenddessen Gipfelproteste oder Sportereignisse zu kontrollieren. Ein
von NATO-Strategen 2007 herausgegebenes Papier sieht einen "westlichen
Lebensstil" in Gefahr und schlussfolgert, "Risiken auf Distanz [zu]
halten und gleichzeitig ihre Heimat zu beschützen". Woher kommt diese
Doktrin?

Ben Hayes:
In diesem Fall ist es, glaube ich, eine aus der
Mode gekommene militärische Allianz, die nach neuen Sicherheits- und
Verteidigungsaufgaben sucht, um ihre weitere Existenz zu rechtfertigen.
Aber diese Arten von Strategien des "Heimatschutzes" und der
"Heimatverteidigung" ["Homeland Security" und "Homeland Defence"] sind
explizit eingebettet in die neokonservative Ideologie, die in den
letzten zehn Jahren auf die westliche Politikgestaltung übergegriffen
hat. Es ist eine Ideologie, die meint, der Westen müsse eine
weltpolitische Rolle spielen und in "zerfallende Staaten"
intervenieren, um sowohl "Sicherheitsbedrohungen" zuvorzukommen, als
auch freien Welthandel und Demokratie nach westlichem Vorbild
voranzutreiben.


Die endlose Fügsamkeit gegenüber den Forderungen des Sicherheitsstaates

Der Titel "NeoConOpticon" spielt auf das "Panopticon"-Design von
Gefängnissen an, das Foucault als eine "völlig neuartige Gesellschaft"
beschreibt. Foucault analysierte diese im 18. Jahrhundert aufkommende
Architektur gegen abweichendes Verhalten als ein Muster, das die
Gesellschaft in ihrem Übergang zu Überwachung und Kontrolle abbilde.
Diese permanente Beobachtung betreffe den "gesamten sozialen Körper".
Dein Statewatch-Kollege Tony Bunyan sieht die EU auf dem Weg in eine
"Datenbankgesellschaft". Zu welchem Schluss gesellschaftlicher
Transformation kommst du?

Ben Hayes:
Was ich mit dem Titel der Studie versucht habe zu
zeigen, ist, dass Menschen an zwei Dinge denken. Zuerst, wie du sagst,
die Art und Weise, wie die EU eine "Überwachungsgesellschaft" wird und
wie Überwachung die Beziehung zwischen Individuuen und Staat verändert.
Foucault war mehr interessiert an der bloßen Existenz von Überwachung,
die Menschen zu bestimmtem Verhalten konditioniert – zu Hause, am
Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum und so weiter. Es ist wichtig zu
erkennen, dass nicht jede Überwachung von Zwang oder Staatsgewalt
handelt, sondern eher, dass Überwachung zusehends zum dominanten Faktor
der Organisierung gegenwärtiger westlicher Gesellschaften wird.
Nichtsdestotrotz will ich mit NeoConOpticon versuchen zu betonen, dass
die "Überwachungsgesellschaft" nicht vom Himmel gefallen ist. Sie wird
sowohl von multinationalen Konzernen, die riesige Profite vor Augen
haben, als auch von Politikern, die nach den beschriebenen Spielarten
der Macht suchen, enthusiastisch gefeiert. Das Recht zur schrankenlosen
Profitmaximierung ist das Herz der neokonservativen Ideologie und übt
gegenwärtig enormen Druck auf die Sicherheitspolitik der EU aus.

Gemäß der Polizei wie auch den Sicherheits- und Verteidigungskonzernen
ist Information der Schlüssel zu mehr "Sicherheit". "Wissen",
"Vorahnung", "Beobachtung", "integrierte Sicherheit", "Einsatz- und
Entscheidungshoheit" sind Begriffe, die wir aus dem militärischen
Vokabular kennen. Die Sicherheitsindustrie bietet Software, die
Verbrechen und abweichendes Verhalten "vorhersehen" will, darunter
"Herumlungern", aber auch langsam fahrende Flüchtlingsboote auf dem
Mittelmeer lokalisieren soll. Welches Überwachungsmodell verbirgt sich
hier?

Ben Hayes:
Ich benutze das Konzept der "Überlegenheit auf
allen Ebenen" ("Full Spectrum Dominance"), um die Besessenheit von
Hightech-Sicherheits- und Überwachungstechnologien zu erläutern. Der
Begriff wurde in den USA eingeführt, um die militärische Macht der USA
zu beschreiben und ihre Befähigung, die Überlegenheit über alle Teile
des "Kampfgebietes" zu erlangen – Land, Luft, See, Weltall und
Cyberspace. Die Art und Weise, wie die EU jetzt versucht, die
Überwachung an Land, auf See und im Weltall zu nutzen, einhergehend mit
der umfassenden Überwachung unserer Kommunikation und Internetnutzung,
kommt mir vor wie eine innenpolitische "Überlegenheit" auf allen Ebenen
über die Zivilbevölkerung.

Widerstand angesichts dieses "umfassenden Ansatzes" eines
"sicherheitsindustriellen Komplexes" gibt es kaum auf europäischer
Ebene. Wie kann man agieren gegenüber Satelliten, die das Verhalten von
Menschenmassen auf Demonstrationen verfolgen, gegenüber Software, die
nach "Risiken" in unseren Datensätzen sucht, oder gegenüber fliegenden
Kameras, die in "Problemstadtteilen" operieren? Sollten wir nicht eine
generelle Kritik dieses "allumfassenden Sicherheitskonzepts" forcieren,
die nicht vom hegemonialen Diskurs aufgesogen werden kann, welcher
vorgibt, eine "Balance" von Freiheit und Sicherheit finden zu wollen?

Ben Hayes:
Ich sehe das Hauptproblem darin, dass so wenig
Menschen eine Ahnung haben, was die EU unter der Rhetorik der Schaffung
eines "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" gegenwärtig
unternimmt, dass es keine ernsthafte Debatte über Nutzen und Gefahren
ihrer Politik gibt. Die Entscheidungsstruktur der EU ist von
"Securokraten" dominiert (Beamte beauftragt mit der Erhöhung der
Sicherheit). Medien berichten kaum darüber, auch weil das so
kompliziert und verschachtelt geworden ist. Sofern sich dies nicht
ändert, wird blinder Glaube in die EU sie auf dem jetzigen Kurs halten.

In der Studie rufen wir zu einer gesamtheitlichen Prüfung der
Entwicklung und Implementierung des europäischen
Sicherheitsforschungsprogramms auf und zu einer Neudefinition der
Prioritäten, um Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit wieder
Vorrang vor den Forderungen von Sicherheits- und Vollzugsbehörden zu
verschaffen. Wir rufen auch dazu auf, die europäische
Überwachungsgesetzgebung zu stoppen und ein Maßnahmenpaket zu
etablieren, das die Verfolgungstechnologie und damit verbundene
polizeiliche Kompetenzen wieder unter demokratische und juristische
Kontrolle stellt.

Vielleicht brauchen wir ein eigenes, alternatives
Sicherheitsforschungsprogramm. Können wir den Spieß umdrehen? Kann uns
Informationstechnologie mit all ihren Geräten und Anwendungen in
unseren Kämpfen für Freiheit helfen? Sollten wir mehr Energie darauf
verwenden, fliegende Kameras zu basteln oder satellitengestützt der
Polizei nachzuspüren?

Ben Hayes:
Da bin ich nicht sicher! Es gibt die Idee, dass Gegenüberwachung oder sous-surveillance
irgendwie eine Balance zur Ansammlung neuer staatlicher
Überwachungsmacht darstellen könnte. Überwachungstechnologie kann
Bürger mehr rechenschaftspflichtig gegenüber dem Staat machen, aber –
diese Auffassung gibt es – den Staat auch rechenschaftspflichtig
gegenüber seinen Bürgern. Das ist alles sehr schön in der Theorie, aber
ich beobachte, dass politische Entscheidungsträger und staatliche
Agenturen eher weniger rechenschaftspflichtig werden anstatt mehr.

Natürlich müssen Menschen, denen bürgerliche Freiheiten wichtig sind,
die Aktivitäten von Regierungen und ihren Polizeien hinterfragen, aber
das allein genügt nicht. Was wir vor allem brauchen, ist ein radikaler
Politikwechsel, der die Hauptursachen von Unsicherheit adressiert
anstatt dieser endlosen Fügsamkeit gegenüber den Forderungen des
Sicherheitsstaates oder denen seiner transnationalen Konzerne.

Source: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31196/1.html