Sicherheitskonzepte bei Gipfelprotesten
Dieser Text ist der Versuch, Erfahrungen mit staatlichen Repressionsapparaten und polizeilichen Sicherheitskonzepten während ausgewählter europäischer Gipfelproteste systematisch auszuwerten und auf den G8 in Heiligendamm zu spiegeln. Dabei ziehen wir sicherlich keine endgültigen Schlussfolgerungen, können aber Tendenzen aufzeigen, die eine Rolle für zukünftige autonome Interventionen spielen.
Einige Ansätze sind uns bei der vergleichenden Analyse besonders wichtig. Wir fokussieren auf Massenproteste seit dem unbestrittenen Höhepunkt der europäischen globalisierungskritischen Bewegungen in Prag, Göteborg und Genua.
Zwar unterliegt jeder Polizeieinsatz nationalen Rahmenbedingungen. Dennoch versuchen wir, international praktizierte Muster von Repression herauszufiltern. Wir zeigen auf, dass der erfolgreiche, teils militante Widerstand weitreichende Veränderungen und eine Standardisierung europäischer Polizeiarbeit bei “polizeilichen Großlagen” zur Folge hatte. “Polizeiliche Großlagen” bezeichnen Einsätze in den Bereichen Politik oder Sport und sind in ihrem Aufbau sehr ähnlich. Weil uns radikaler Widerstand mehr am Herzen liegt als Fußball, beschränken wir uns hier auf Gipfelproteste. Wir zeigen die verschobenen Koordinaten, in denen autonome Interventionen sich zukünftig bewegen: Die Rolle von Räumen bei sicherheitspolitischen Erwägungen, neue Formen internationaler Polizeizusammenarbeit, Techniken zur Informationsgewinnung, die Rolle von Propaganda bei medialen Großereignissen, den Einbezug von Militär in Sicherheitskonzepte, Einsatztechnik und schließlich die sicherheitspolitische Nachbereitung von Gipfelprotesten.
Eine weitere einleitende Überlegung liegt uns besonders am Herzen: Über Repression zu schreiben hatte schon immer etwas Ungemütliches, gibt es doch kein ermutigendes Bild von Aktionsmöglichkeiten linksradikaler Bewegung. In einer sich globalisierenden “Sicherheitsarchitektur”, in der der Unterschied zwischen innerer und äußerer Sicherheit stets undeutlicher wird, halten wir aber die Auseinandersetzung mit politischer Repression von Protestereignissen für unerlässlich. Dieser Text kann ein Einstieg sein, unser Gegenüber besser abzuschätzen und dadurch leichter überwinden zu können. Genauso wenig wie unsere Gesellschaften auf ein Reißbrett passen, passen auch nicht alle AktivistInnen in ein Sicherheitskonzept. Mit den Worten von “Block G8” schlagen wir darum vor: “Wir interessieren uns nicht für die Polizei, sondern für die Lücken zwischen der Polizei”.
Geographie und Choreographie
Schon bei der Wahl der Austragungsorte für Gipfeltreffen werden sicherheitspolitische Erwägungen miteinbezogen. Ihre Verschiebung von Metropolen in abgelegene ländliche Gebiete ist Teil des räumlichen Aspekts der Sicherheitsplanung. Nach militanten Protesten gegen die G8 in Genua 2001 und die EU in Thessaloniki 2003 wurde kein Gipfel mehr in einer größeren Stadt abgehalten. Orte wie Kananaskis in den kanadischen Rocky Mountains, die Insel Sea Island in den USA, das schottische Gleneagles am Rande der Highlands und Heiligendamm liegen in strukturschwachen Regionen ohne linke oder linksradikale Basis (1). Protestbewegungen beantworteten den Rückzug der Gipfeltreffen mit einer weiträumigen Blockadepolitik. Beim G8 in Evian und in Gleneagles wurden erfolgreich Zufahrtsstraßen blockiert, in Heiligendamm war zeitweise eine nahezu vollständige Blockade aller Landwege umsetzbar.
Am deutlichsten wird der räumliche Aspekt durch die Errichtung hermetisch abgeriegelter “roter Zonen”, eine Taktik die in Europa zum ersten Mal bei den Protesten gegen die G8 in Genua und gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos angewandt wurde und in Heiligendamm mit einem 12 km langen, in Betonfundamente eingelassenen Zaun mit Bewegungsmeldern und Kameras perfektioniert wurde.
Die Verräumlichung der Sicherheitskonzepte sieht neben “roten Zonen” sogenannte “gelbe Zonen” vor. Diese “Pufferzonen” dienen der besseren Kontrolle von Infrastruktur und Verkehrswegen. Nach dem G8-Gipfel in Genua wies die französische Präfektur Haute-Savoie für einen abgegrenzten Bereich um Evian protestfreie Zonen aus. In Heiligendamm wurde dies mit der sogenannten “Allgemeinverfügung” übernommen. In bis zu fünf Kilometern Abstand rund um die eigentliche “rote Zone” bzw. den Flughafen Rostock-Laage sollte nicht demonstriert werden (2).
Wenn der Ort einmal gewählt ist, geht es vor allem um zwei räumliche Strategien: einerseits werden sensible Objekte identifiziert und Schutzmassnahmen entwickelt (in Heiligendamm z.B. für den Flughafen in Laage über die Autobahnen bis zur Einkaufsstraße in Rostock), zudem muss der Raum um den Tagungsort in einen funktionellen Einsatzraum umgewandelt werden . Die eigens errichtete Sonderpolizeibehörde “Kavala” unterteilte die Region um Heiligendamm in Dutzende Einsatzabschnitte, welche unterschiedlichen Polizeieinheiten unterstanden (3). In allen Zonen war das Militär mit Ausrüstung und Soldaten zur Stelle. Darüber hinaus wurden auch der Meeres- und der Luftraum in Verbots- und Schutzzonen aufgeteilt und von verschiedenen Einheiten, inklusive der Bundeswehr, überwacht.
Auch wenn Gipfel und Proteste beginnen, zielen zahlreiche Maßnahmen auf die Herrschaft über den Raum ab. Diese richten sich meist auf die Kontrolle von AktivistInnen, darunter Ein- und Ausreisesperren, Platzverweise, Verbot von Demonstrationen etc. Eine sich wiederholende Strategie in den letzten Jahren ist der Angriff der Polizei auf alternative Infrastruktur, um die räumliche Organisation von Protesten zu stören. Camps und Convergence Center werden teilweise tagelang blockiert oder durchsucht (Prag, Göteborg, Genua, Genf, Lausanne, Gleneagles, Bukarest). AktivistInnen in der Hvitfeldska Schule in Göteborg wurden beim EU-Gipfel 2001 mit Schiffscontainern eingezäunt und zu Hunderten verhaftet, ein Ausbruchsversuch mit Gewalt beantwortet.
Mit der Choreographie der Sicherheitsarchitektur als zeitlichem Faktor verhält es sich ähnlich wie mit räumlichen Planungen. Die Kontrolle von Zeitabläufen soll Proteststrategien entgegenwirken, muss aber auch Faktoren wie der Kollision mit einer touristischen Hauptsaison Rechnung tragen. Gipfeltreffen finden nicht mehr an Wochenenden statt, um zeitgleiche Massendemonstrationen unter Beteiligung breiter Schichten der Bevölkerung zu vermeiden. Der Gipfel in Heiligendamm fand gleichzeitig mit dem Evangelischen Kirchentag statt, wo ein Publikum absorbiert wurde das andernfalls auch für eine Mobilisierung nach Heiligendamm offen gewesen wäre. Protestenergie wird versucht durch Kulturveranstaltungen zu binden, wie etwa die LiveAid Konzerte von Bob Geldof und Bono beim G8 2005 oder das Konzert von Herbert Grönemeyer zur gleichen Uhrzeit des vor Heiligendamm geplanten Sternmarsches. Eine potentielle massenhafte Unzufriedenheit mit globalen Verhältnissen wird damit in ein Popkonzert kanalisiert; in eine Veranstaltung die wegen des Hungers in Afrika an die G8 appelliert, die räumlich und zeitlich für Sicherheitsorgane gut zu überwachen und einzuschätzen ist. Weder Geldof, Bono oder Grönemeyer haben Absprachen mit den Trägern der jeweiligen Proteste gesucht und werden so zu Trittbrettfahrern einer globalisierungskritischen Bewegung.
Internationale Kooperation
Um die Sicherheit bei polizeilichen Großlagen in Europa besser kontrollieren zu können wurden neue Vereinbarungen geschlossen, Institutionen und Programme ins Leben gerufen. Europäische Polizeieinheiten führen gemeinsame Trainings zur Kontrolle von Demonstrationen durch. Vor dem G8 in Heiligendamm fand in dem wegen Kohle-Tagebau aufgegebenen Dorf Alt-Spenrath in Nordrhein-Westfalen eine Übung der deutschen, britischen und holländischen Polizei statt (4). Wasserwerfer aus den beteiligten Ländern wurden aufgefahren, um Barrikaden zu löschen und als DemonstrantInnen verkleidete PolizistInnen zu vertreiben. Ein ähnliches Training organisierte die Polizei in Baden-Württemberg mit der schweizer Polizei, um den gemeinsamen Einsatz bei der Fußballeuropameisterschaft 2008 vorzubereiten. In den Trainings reagiert die Polizei auf neue Protestformen: In einer Großübung ein Jahr nach dem G8 wurden 1.500 Polizisten mit 15 Statisten, die als Clowns verkleidet waren, konfrontiert. Bewaffnet mit Klobürste und Deutschlandfahnen sollten sie die Polizei verunsichern. Die Clowns wurden eingekreist und “friedlich abgedrängt”, um Militante verhaften zu können. In Polizei-Universitäten wie der “Europäischen Polizeiakademie” (CEPOL) in Hampshire, Großbritannien, werden Taktiken und Zusammenarbeit ausgewertet. Mitgliedsstaaten der EU sind angehalten, am Programm “Anleitung, Training und Ausübung” (ITE) teilzunehmen. Feldstudien und Seminare qualifizieren “Beamte, Teams, Organisationen und Länder” für die Kontrolle polizeilicher Großlagen.
Grundlage für die grenzüberschreitende Polizeikooperation war innerhalb einiger EU-Staaten der “Prümer Vertrag” von 2005, zuerst geschlossen von Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Niederlande, Luxemburg, Österreich. Ziel war die “Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit”. Der multilaterale Vertrag war ein Testlauf und wurde “in den Rechtsrahmen der EU überführt”. Mit Nicht-EU-Staaten wie der Schweiz werden bilaterale Übereinkommen geschlossen. Die operative Polizeikooperation über Grenzen hinweg ist bisher erst zwischen wenigen Ländern in Gang gekommen. Die deutsche Polizeihilfe gegenüber der Schweiz und Österreich dürfte dabei eine Vorreiterrolle spielen.
Nach dem Angriff deutscher Hooligans während der Fußballweltmeisterschaft 1998 auf den französischen Polizisten Daniel Nivel, der seitdem querschnittsgelähmt ist, wurde auf europäischer Ebene mehr Kommunikation der Sicherheitsbehörden und ein gemeinsames Vorgehen verabredet. Innerhalb der EU wird in der Regel einige Tage vor Beginn eines Gipfeltreffens der Schengen-Vertrag außer Kraft gesetzt und Personenkontrollen an den Grenzen wieder eingeführt. Nach Austausch von Daten wurden bereits mehreren Tausend AktivistInnen die Teilnahme an größeren Gipfelprotesten verweigert (5).
Weniger bekannt ist, dass DemonstrantInnen auch von Behörden des eigenen Landes an der Ausreise gehindert werden. Im Bereich von Gipfelprotesten kam es, soweit bekannt, anläßlich des G8 in Genua 2001 das erste Mal zu Reisesperren für polizeibekannte AktivistInnen. Vermeintliche deutsche “Störenfriede” (“Troublemakers”) mußten sich täglich bei der Polizei ihres Wohnsitzes melden.
Nach den Gipfelprotesten in Genua und Göteborg 2001 (und sicherlich inspiriert von Seattle 1999 und Prag 2000) wurden Arbeitsgruppen innerhalb der EU mit der Erarbeitung von Sicherheitsstandards beauftragt. Ab 2004 nahm das Forschungsprogramm EU-SEC seine Arbeit auf (“Sicherheit bei Großereignissen in Europa”). EU-SEC koordiniert Polizeibehörden von EU-Staaten und Europol, und gibt ein Handbuch zur Sicherheit bei “Ereignissen großer öffentlicher Bedeutung” (“high profile events”) heraus. Nur wenige der Empfehlungen von EU-SEC sind öffentlich: Polizeien wird empfohlen, Protestbewegungen zu überwachen, Daten auszutauschen, Reisesperren zu verhängen und eine offensive Medienstrategie zu betreiben. Mittels Fragebögen werden Informationen über europäische Gruppen und Personen gesammelt: Aktionsformen, Webseiten, Mailadressen, internationale Kontakte, bevorzugte Reisewege, Transportmittel und Unterkünfte (6).
EU-SEC regelt auch den regelmäßigen Austausch von nationalen “Verbindungsbeamten” (“Liaison Officers”) der EU-Mitgliedsländer. Im Alltagsbetrieb sind sie etwa bei Europol und anderen gemeinsamen Verfolgungsbehörden vertreten. Bei anstehenden internationalen Großereignissen werden sie mit hohen Kompetenzen ausgestattet in die jeweiligen Führungsstäbe entsandt. Sie verfügen über “alle nützlichen Informationsquellen, inklusive Informationen über Extremismus und andere relevante Gruppierungen sowohl aus polizeilichen als auch anderen relevanten Quellen”. Offiziell haben “Verbindungsbeamte” nur eine “assistierende” Funktion, verfügen aber in der Realität über beträchtliche Kompetenzen und Aufgaben. Sie verfassen nationale Berichte für europäische Risiko-Analysen und legen die Gefährdungsstufe z.B. für “Staatsgäste” fest. In der Praxis informieren sie die nationalen Polizeibehörden über “Personen die in terroristische Organisationen und Aktionen oder andere schwere Straftaten involviert sind” und die “indirekt mit Terrorismus zu tun haben können”. Neben Personendaten sollen Informationen zum “Hintergrund einer Straftat” weitergegeben werden. Die Informationsübermittlung zur Polizei des austragenden Landes soll unaufgefordert erfolgen. Jedes Mitgliedsland unterhält eine “Kontaktstelle” für Verbindungsbeamte. Regelmäßige Evaluationen sollen zur Qualitätssicherung beitragen. Umgekehrt sollen “Verbindungsbeamte” bei Großereignissen Informationen sammeln, die dem “Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung” bei einem etwaigen Gipfeltreffen im eigenen Land dienen können.
Arbeitsgruppen der EU wurden nach dem G8 in Heiligendamm erneut beauftragt, die Einrichtung einer gemeinsamen Datei “Troublemakers” im Rahmen von Gipfelprotesten zu prüfen. Bisher werden die Daten bilateral über die “Verbindungsbeamten” getauscht. Die Anweisung nimmt Bezug auf Beschlüsse des Europäischen Rates, die 2001 nach den Protesten in Göteborg und Genua getroffen wurden. Diese neue EU-Datenbank könne beim Schengen Informationssystem (SIS) angesiedelt werden (7).
Die polizeiliche Zusammenarbeit bei G8-Gipfeln überwindet jedoch seit geraumer Zeit EU-Grenzen. Auch auf interkontinentaler Ebene wird die Sicherheitsarchitektur bei polizeilichen Großlagen standardisiert. So versprach BKA-Präsident Ziercke den japanischen Behörden, dass für den G8 2008 “im Rahmen der datenrechtlichen Möglichkeiten jede Information übermittelt wird, die für die Einschätzung der Gefahrenlage in Japan erforderlich erscheint” (8).
2006 wurde mit dem “Internationalen dauerhaften Beobachtungszentrum zur Sicherheit bei Großlagen” (“International Permanent Observatory on Security during Major Events”, IPO) eine Arbeitsgruppe innerhalb der Vereinten Nationen (UNO) mit Sitz im italienischen Turin gegründet. Das IPO berät Regierungen in allen relevanten Sicherheitsfragen und stellt nationaler Polizei eigene Mitarbeiter zur Seite. Die Inanspruchnahme ist für die anfragende Behörde kostenlos (9). Ein stark gekürzter Auszug des Profils: Ziel- und Problemidentifizierung, Notfallplanung, Strafverfolgungsplanung, Verkehrsmanagement, IT-Infrastruktur, Videoüberwachung, Gegenangriffe für Cyber-Attacken, Kommandozentralen, Finanzmanagement, Zäune, Absperrungen, Handhabung von Menschenmassen, Medienstrategien, Geschäftsinteressenten, Management von Roten Zonen, Evakuierungsplanung, Gatten-/ Partnerprogramme, Luftraumunterstützung, Logistik, Unterkunft und Ausrüstung etc.
Über eine internationale Vernetzung von Geheimdiensten ist, wie in dieser Branche üblich, wenig bekannt. Zumindest der Jahresbericht des niederländischen Geheimdienstes AIVD dokumentiert, dass es vor G8-Gipfeln zu internationaler Abstimmung von Geheimdiensten kommt, und der niederländische Dienst an Planungstreffen deutscher Geheimdienste teilgenommen hat.
Informationsgewinnung
Behörden wie Polizei und Geheimdienste sind angehalten, ständige “Risikoanalysen” zu erstellen aufgrund derer die weitere Einsatzplanung bestimmt wird. Um die Kompetenzen beträchtlich erweitern zu können, wird nach nationalen “Terrorismusparagraphen” ermittelt. Hierfür werden Einzelpersonen, von denen eine hohe Einbindung in die Proteste angenommen wird, als “RädelsführerInnen” identifiziert, um ihre Kommunikation überwachen zu können. Für Ermittlungen nach §129a (“Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung”) im Rahmen des G8-Gipfels in Heiligendamm wurden allein für das Ermittlungsverfahren, das in den Razzien 4 Wochen vor dem Gipfel mündete, 60.000 Mails mitgelesen, Zehntausende Telefonate mitgehört, Peilsender, Wanzen und Videokameras eingesetzt. Zwei Treffen des linksradikalen dissent-Netzwerks wurden tagelang überwacht, die 250 TeilnehmerInnen gefilmt, eingebuchte Handies der lokalen Funkzelle protokolliert (10).
Nach dem gleichen Muster ermittelte die italienische Polizei bereits beim G8 2001. Der Zugriff der Polizei erfolgte allerdings erst ein Jahr nach dem G8, als sich italienische linksradikale Bewegungen, gestärkt durch den Massenprotest, mit Aktionen gegen Prekarisierung und Migrationskontrolle kurz vor dem Europäischen Sozialforum in Florenz 2002 auf einem Höhepunkt befanden. Die Ermittlungen wurden begründet mit der Gründung einer “politischen Verschwörung mit dem Ziel die Amtsausübung der Regierung zu stören, subversive Propaganda zu betreiben, die wirtschaftliche Ordnung des Staates gewaltsam umzustürzen”. Ihre “politische Verschwörung” soll 20.000 Mitglieder gehabt haben. Gemeint ist die Großdemonstration der Disobbedienti beim G8 in Genua, die mit Helmen, Schildern und Polstern zur “roten Zone” ziehen wollte und von der Polizei brutal zurückgeschlagen wurde (11). Nach dem G8 holte die italienische Polizei zu einem weiteren Schlag gegen anarchistische Strukturen aus und fingierte Zusammenhänge mit Bombenfunden, um die Ermittlungen nach wegen “Terrorismus” zu begründen (12).
Mit den weitgehenden Ermittlungen verfügt die Polizei über einen immensen Datenbestand politischer AktivistInnen, der immer mehr um biometrische Daten erweitert wird (als biometrische Daten gelten beispielsweise Fingerabdruck, Handabdruck, Hand- und Fingergeometrie, Gesicht, Iris, Körpergeruch,Stimme, typische Körperbewegungen, Unterschrift, GPS-Daten oder Tastaturbetätigung am Computer). Polizei und Geheimdienste setzen Computerprogramme ein, die diese Daten miteinander in Beziehung setzt und beispielsweise als “Mapping” graphisch anzeigen kann. Allein in den USA werden vom “Heimatschutzministerium” drei dieser Systeme betrieben (13). So kann visualisiert werden, wer wie oft mit wem telefoniert, die gleichen Treffen und Demonstrationen besucht, oder zusammen in welcher Gruppe organisiert ist. Texte und Webseiten können automatisiert nach übereinstimmenden Schlüsselwörtern, semantischen Gewohnheiten oder Rechtschreibfehlern durchsucht werden. Die Sicherheitsindustrie bietet Software an, die auch GPS-Daten, Audio- und Video-Dateien in diese Analyse einbeziehen kann.
Propagandamaschine
Sicherheitskonzepte beschränken sich nicht nur auf klassische polizeiliche Betätigungsfelder, sondern zielen auf das Manipulieren der öffentlichen Meinung. Neben der Rechtfertigung sicherheitspolitischer Maßnahmen soll das Dämonisieren und Kriminalisieren von Teilen der Protestbewegung Spaltungen befördern, und die Legitimität von Widerstand untergraben. Die frühe Stimmungsmache gegen radikale AktivistInnen hilft der Polizei, deren späteren Proteste mit Rückendeckung einer breiten Öffentlichkeit zu unterbinden. Dafür fahren Repressionsbehörden Risikoanalysen auf, die “Terrorismus” beschwören. Schon lange vor dem G8 in Heiligendamm gab etwa die Sonderbehörde der Polizei “Kavala” Presseberichte heraus und kommentierte gipfelbezogene Vorbereitungen durch Pressesprecher. Bei einem Besuch in Deutschland lobte der ehemalige Polizeichef der G8-Sicherheitsplanung in Gleneagles ausdrücklich die gute Pressearbeit der Kavala (George Powrie arbeitet seit 2005 für das UN-Institut IPO) (14). In Gleneagles machte die britische Tayside Police ausgiebig Gebrauch von der Sensationslust der Boulevardpresse. Zeitungen wie die “Sun” halfen gern, eine allgemeine Angst vor “Chaoten” zu verbreiten. Ein Bombenfund wenige Tage vor dem G8 in Genua wurde AnarchistInnen zugeschrieben, die angeblich planen würden, beim Gipfel brennende Reifen die Berge hinunterzurollen. Die Sonderbehörde “Kavala” warnte vor dem G8 in Heiligendamm in selbst einberufenen “Bürgerversammlungen” AnwohnerInnen vor “Chaoten”, die die Polizei aber gut unter Kontrolle haben würde. Beim G8 in Genua sowie dem dem Gipfel der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds in Prag 2000 wurde BewohnerInnen geraten, die Stadt zu verlassen. Über die Auswirkungen von Falschmeldungen, die die “Kavala”-Presseabteilung lancierte, ist genug berichtet worden. Zu unterstreichen wäre, dass dies nicht nur ein regelmäßiges Phänomen ist, sondern selbst die Falschmeldungen sich wiederholen. Schon in Göteborg wurde behauptet, AktivistInnen hätten Kartoffeln mit Nägeln präpariert (was nie verifiziert werden konnte).
Die polizeiliche Propaganda flankiert die Vereinnahmung der Proteste durch nationale Regierungen, die G8 und Popstars. Einem bürgerlichen Spektrum wird suggeriert, die Politik stünde eigentlich hinter den politischen Forderungen der Bewegung und lädt sie ein, “Weltpolitik” mit zu gestalten. Beim G8 in Schottland demonstrierten 300.000 Menschen in Edinburgh, um die G8 willkommen zu heißen und aufzufordern, den Vorschlägen von Blair und Brown zu folgen und endlich die Armut zu beenden. Auch die “Spin-Doctors” (Medien- oder politische Berater, Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit) von Merkel halfen durch “Runde Tische” mit NGOs und Gewerkschaften und einem “Junior G8-Treffen”, den Anschein demokratischer Kontrolle der G8 zu erwecken (15). Eigens errichtete Pressezentren, nahe bei der Konferenz, und möglichst fernab von AktivistInnen, sollen die G8 in der Weltöffentlichkeit repräsentieren helfen. Ein “Handbuch” des Forschungsprogramms EU-SEC rät Polizeibehörden, eine offensive Pressearbeit zu betreiben. Beim G8 in Heiligendamm wurde allerdings JournalistInnen, die zuvor durch kritische Berichterstattung auffielen, die Teilhabe am “embedded journalism” verwehrt, indem das zuständige Bundeskriminalamt schlicht die Akkreditierung verweigerte. Die anderen 4.000 JournalistInnen wurden in mehrere Kategorien unterteilt. Während die meisten zumindest einmal mit der Bahn oder dem Polizeiboot ins zusätzliche Pressezentrum innerhalb der “roten Zone” fahren konnten, durften nur wenige an einer persönlichen Führung zum Hotel teilnehmen.
Demgegenüber wird die Arbeit unabhängiger Presse massiv behindert. JournalistInnen werden auf Demonstrationen abgedrängt, angegriffen oder ihr Material beschlagnahmt. In Genua und Evian wurden unabhängige Medienzentren gestürmt, und Video- und Fotomaterial konfisziert.
Nach den Gipfeln wird weiter versucht, die Proteste zu entpolitisieren. Der schwedische Ministerpräsident Persson bezeichnete DemonstratInnen beim EU-Gipfel in Göteborg 2001 als Faschisten, Joschka Fischer attestierte der globalisierungskritischen Bewegung einen “überholten Antikapitalismus”. Tony Blair ärgerte sich nach dem Gipfel in Gleneagles dass sich die G8 wegen ein “paar Hundert Anarchisten” hinter einem Zaun verstecken müssen, obwohl sie doch gern abends ein Bier mit der Dorfbevölkerung trinken würden (16). Die Statements unterstützen eine nachträgliche Kriminalisierung; so können die Schüsse in Göteborg und Genua auf DemonstrantInnen als Notwehr dargestellt werden (17).
Die Pressearbeit zu späteren Gerichtsverfahren will schließlich die Umschreibung der Geschichte vollenden: eine systemkritische, antikapitalistische Opposition wird zu einem „Problem der öffentlichen Ordnung“ gemacht.
Militärische Begleitmusik
Sicherheitskonzepte für Gipfeltreffen werden gemeinsam mit dem Militär vorbereitet. Die Armee stellt meist Tarnsportkapazitäten, Luft- und Seeaufklärung, Logistik und militärische Verteidigung für den “Krisenfall” bereit. Schon vor dem 11. September 2001, etwa beim G8 in Genua, wurde militärische Aufklärung und Raketenabwehr bei Treffen von “Staatschefs” eingesetzt. Jedoch haben die Anschläge in den USA, Spanien und Großbritannien für eine grundsätzliche Neuorganisation der internationalen “Sicherheitsarchitektur” gesorgt (deren Eckpfeiler übrigens bei G8-Gipfeln festgezurrt werden). In Ländern wie Italien oder den Niederlanden, die paramilitärische Polizeien unterhalten, ist die Grenze zwischen Polizei und Militär weniger sichtbar und damit weniger Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen. Ihre fortschreitende Verzahnung ist bei allen “polizeilichen Großlagen” der letzten Jahre zu beobachten, etwa beim jährlichen Weltwirtschaftsforum in Davos/ Schweiz, den G8-Gipfeln 2003 oder 2005 in Gleneagles.
In Deutschland stieß der Einsatz von Transporthubschraubern, Panzern, Kriegsschiffen, Aufklärungsflugzeugen beim G8-Gipfel auf breite öffentliche Skepsis. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern ist durch Artikel 35 des Grundgesetzes geregelt; dort allerdings auf Katastrophen oder “nationale Unglücksfälle” beschränkt. Vor dem G8 in Heiligendamm wurde der Einsatz der Bundeswehr nicht etwa mit den Vorbereitungen des Protestspektrums begründet, sondern mit der Sorge “islamistischer Einzeltäter”, deren Bedrohung “nicht nur gefühlt” sei (18). Soweit bekannt richtete sich die militärische Infrastruktur in der Praxis allerdings gegen DemonstrantInnen, ihre Camps, Depots für Barrikaden oder geplante Blockaden. Im Nachhinein gab die Bundesregierung in der Antwort einer Kleinen Anfrage zu, dass “zu keiner Zeit” Anzeichen für bevorstehende Anschläge bestanden (19). “Polizeiliche Großlagen” unter Mithilfe des Militärs helfen also, ihre Zusammenarbeit zu verzahnen und nicht zuletzt auch in nie dagewesener Größe zu trainieren (20). In Deutschland wird damit die sogenannte “zivil-militärische Zusammenarbeit” um eine weitere Dimension erweitert.
“Kommando, Kontrolle und Kommunikation”: Einsatztechnik und “Crowd Control”
“Polizeiliche Großlagen” erfordern eine komplexe Organisation und Kommunikation beteiligter Leitstellen und Kommando-Ebenen. Einsatzrelevante Informationen fallen in unübersichtlicher Menge an: Aufnahmen von Video- und Infrarotkameras, akustische Melder, Satelliten- und GPS-Daten, Radar, Bewegungsmelder. Neben diesen technischen “Sensoren” übermitteln Polizeiführer regelmäßig Lageveränderungen. Darüber hinaus müssen Informationen der ebenso in den Gesamteinsatz integrierten “Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben” verarbeitet werden. Hierzu gehören z.B. Feuerwehr, Rettungsdienste und Katastrophenschutz. Militärische Erkenntnisse und Lagebilder werden für die polizeilichen Einsatzstäbe aufgearbeitet und vereinfacht und müssen in das Gesamtlagebild integriert werden. Dazu kommen sogenannte reguläre “Stäbe” bzw. “Krisenstäbe”, etwa dem Auswärtigen Amt oder Innenministerien.
Jede der beteiligten Institutionen unterhält eigene Lagezentren mit Leitstellen bzw. Kontrollräumen (21). Damit die Polizei stets über “Entscheidungshoheit” verfügen kann, werden Bereiche wie Frühwarnung, Entscheidungsunterstützung und Kommandoführung mit dem Einsatz von Software schrittweise automatisiert. Weil Computerprogramme nur dann “Entscheidungshilfen” geben können, wenn sie über eine Datenbasis verfügen, aufgrund derer sie Berechnungen vornehmen können, werden Einsätze im Vorfeld simuliert. Dabei wird auch auf Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung zurückgegriffen, z.B. wohin sich eine “Masse” nach einem Gas- oder Schlagstockeinsatz zerstreut (entlang von Häuserwänden).
Die gegen den Protest eingesetzten Polizeikräfte werden mit neuer Technik ausgestattet. Für einen Großeinsatz werden Digitalfunk-Netze mit Dutzenden stationären Masten sowie mobilen Antennen montiert. Um sie gegen Angriffe oder technisches Versagen zu schützen, werden parallel alternative Systeme für den Notfall aufgebaut. Digitalfunk bietet mehrere Vorteile: Gespräche sind nicht abhörbar und können auch von weit entfernten Leitstellen mitgehört werden (22).
Zu neuen Trends im Bereich der “Handhabung von Menschenmassen” (“Crowd Control”) gehören der Einsatz von Elektroschockpistolen (“Taser”) (23) und “Fliegenden Kameras” (“Drohnen”). Beim G8-Gipfel 2003 in Evian und der Fußballeuropameisterschaft 2008 hat das schweizer Militär die Polizei mittels “Drohnen” mit Lagebildern versorgt (24). In Lagezentren werden auch Bilder von polizeilichen “Dokumentationstrupps” (in Uniform oder zivil) ausgewertet, die live (Polizeijargon: “Echtzeit”) übermittelt werden. Diese Bilder können binnen kurzer Zeit an Festnahmeeinheiten weitergegeben werden.
Die Polizeitaktik bei großen Menschenansammlungen verändert sich. Polizeien in Griechenland oder der Schweiz, die bisher auf ihre Erfahrungen mit Distanzwaffen wie Gummigeschossen, Gasgranaten oder Blendschockgranaten vertraut hatten, interessieren sich für deutsche Taktiken der “Handhabung von Menschenmassen”. Wegen ihrer Taktik von polizeilichen Spalieren, Kesseln, Greiftrupps und dem Einsatz von Pferden, Hunden und Schlagstöcken ist die deutsche Polizei gefragter Berater europäischer Polizeien.
Jetzt geht’s los: Der Einsatz
Bei “Großlagen” versucht die Polizei auf allen Ebenen die Proteste kontrollieren zu können (25). Wie beim Sicherheits- und Polizeigesetz Mecklenburg-Vorpommern werden vor den Gipfeln Gesetze geändert, um noch mehr Kompetenzen und Spielraum bei Überwachung und Verfolgung von politisch unliebsamen AktivistInnen zu erlangen. Schon bei der Anmeldung von Versammlungen versucht die Polizei, AnmelderInnen bei Demonstrationsrouten unter Druck zu setzen und zu einem Verlauf zu zwingen, der bessere Übersicht und einen schnellen Zugriff erlaubt (breite Straßen, Raum für Nachschub, abgelegene Gegend, keine Bevölkerung).
Regelmäßig gerät der Einsatz von Zivilpolizei und “Agents Provocateurs” in die öffentliche Kritik. Am Zaun bei Heiligendamm hatten AktivistInnen zivil gekleidete Polizisten aus Bremen wiedererkannt, die Umstehende zum Angriff auf Polizeiketten animieren wollten. Beim G8 in Genua 2001 dokumentierten Tageszeitungen den massenhaften Einsatz von Polizisten in “szeneüblicher Kleidung”. Mit Halstüchern vor dem Gesicht, Zivilkleidung und Motorradhelmen bekleidet, stürmte die schweizer Polizei beim G8 2003 das alternative Medienzentrum “Usine” in Genf.
Unter dem Aspekt von “Crowd Control” versucht die Polizei mit kalkulierten Angriffen, die Proteste zu blockieren und Energien zu binden. Hunderte präventive Festnahmen bezeugen die Entscheidungshoheit bei der Polizei, entlasten andere Einheiten und führen dazu, dass AktivistInnen sich um ihre gefangenen GenossInnen kümmern müssen. “Schnellverfahren” mit beschnittenem Rechtsschutz wie in Heiligendamm verunsichern neben den Angeklagten alle TeilnehmerInnen an den Protesten und sollen Spaltungen erleichtern. Manche Massenfestnahmen stehen im Kontext von Verfolgungsdruck nach gelungenem Widerstand (26). Nach Ende des IWF– und Weltbank-Gipfels in Prag 2000 reagierte die Polizei und trieb die Festnahmestatistik in die Höhe. In Genua wurde versucht, mittels in der Diaz-Schule von der Polizei platzierten Molotov-Cocktails, Verantwortliche für militante Aktionen vorweisen zu können. Sogar in den Tagen nach dem Gipfel werden internationale AktivistInnen auf der Heimreise verhaftet, weil sie Zeltstangen und Hammer im Auto mitführen. “Streben Sie eine größere Zahl von Strafverfahren an”, rät ein Arbeitspapier von EU-SEC den Polizeien in der EU bei Großereignissen.
Nach dem Gipfel…
Einer der Kritikpunkte an Massenmobilisierungen ist die These, dass keine tragfähigen politischen Strukturen übrig bleiben. Lokale Gruppen müssen im Falle militanter Proteste nicht nur einen beträchtlichen Teil der Antirepressionsarbeit übernehmen, sondern auch einer politischen Auseinandersetzung standhalten. Viele AktivistInnen verschwinden in ihrer alltäglichen politischen Arbeit, die Aufarbeitung bleibt an Einzelnen hängen – im Falle von Solidaritätsstrukturen meist FreundInnen Betroffener.
Die Ausschreitungen in Göteborg 2001 führten z.B. zu einer gesellschaftlichen Polarisierung, deren Risse sich tief in die Gesellschaft, aber auch in die linke Szene eingruben. In Prag wurde wenige Tage nach dem Treffen des IWF und der Weltbank im November 2000 das besetzte Haus Ladronka geräumt, das als “Zentrale” des militanten Protests ausgemacht wurde. Drohungen waren auch nach dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 gegen das Soziale Zentrum Camas Iasi zu vernehmen. Andererseits lässt sich beobachten dass gerade jener Druck, auf Repression zu reagieren, Strukturen befördert, die auch Jahre später noch politische Antirepressionsarbeit betreiben. Unter dem Motto “Die Geschichte sind wir!” arbeiten bis heute ein Dutzend AktivistInnen in der genuesischen Solidaritätsgruppe “Segretaria Legale” an juristischer, politischer und medialer Aufarbeitung der Proteste und Übergriffe beim G8 2001. Teile der italienischen radikalen Linken gingen gestärkt aus dem Protest hervor. Auch der Prager Gipfel führte letztlich dazu, dass zwei Jahre später eine beinahe ausschließlich von tschechischen Gruppen getragene Mobilisierung gegen die NATO-Tagung 2002 auf die Beine gestellt wurde.
Wie der Polizeieinsatz rund um den Gipfel ist auch die juristische Verfolgung von innen- und außenpolitischen Koordinaten abhängig. Ohnehin überlastete Gerichte sind schwer imstande, alle eingereichten Verfahren abzuarbeiten. Ob überhaupt massenhaft Anklagen erhoben werden, dürfte kaum allein Polizei und Justiz überlassen bleiben. Wie in der Vorbereitungsphase und während des Gipfels wird vermutlich die jeweilige Regierung auch in Entscheidungen zur juristischen Aufarbeitung miteinbezogen. Immerhin wird mit jahrelangen Gerichtsverfahren riskiert, dass Demonstrationsverbote oder Polizeiübergriffe konstant öffentlich thematisiert werden.
Während Ermittlungen und Verfahren in manchen Ländern innerhalb von ein bis zwei Jahren abgeschlossen werden (z.B. wegen Göteborg, Gleneagles, Heiligendamm), wurden AktivistInnen in Italien und Griechenland erst mehrere Jahre später in erster Instanz zu hohen Haftstrafen verurteilt (27).
Die Gerichtsverfahren nach dem EU-Gipfel in Göteborg 2001 bildeten ein Novum in der europäischen Zusammenarbeit von Ermittlungs- und Justizbehörden. Die schwedischen Autoritäten hatten damals die deutsche Polizei um Amtshilfe bei ihren Ermittlungen angefragt. Bereitwillig durchsuchten Berliner Beamte ein Jahr später mehrere Wohnungen von AktivistInnen auf der Suche nach Basecaps, Gürteln oder Schuhen, die in Schweden mit Videoaufnahmen abgeglichen wurden. Ein niederländischer Aktivist wurde von der Polizei in Amsterdam nach Schweden ausgeliefert, um ihm den Prozess zu machen. Zwar fielen die Urteile für AusländerInnen gegenüber den Strafen für schwedische AktivistInnen vergleichsweise milde aus (Bewährungsstrafen und Arbeitsstunden), jedoch wurde hier eine neue Form grenzüberschreitender Zusammenarbeit exerziert.
Erfolgreicher Widerstand führt auch zu nachträglichen Gesetzesänderungen und der Einrichtung von Arbeitsgruppen, die Vorschläge für weitere internationale Kooperation von Polizeien entwickeln sollen. Militante Proteste dienen Polizeistrategen und -gewerkschaftern als willkommene Gelegenheit, die Einführung neuer Polizeitechnik einzufordern. Hier zeigt sich ein Dilemma in der Geschichte radikaler Opposition, das keineswegs in Richtung Verzicht auf militante Proteste aufgelöst werden sollte.
Ein paar Schlussfolgerungen auf dem Weg zu neuen Perspektiven
Jetzt mal ehrlich: einige der hier beschriebenen Aspekte polizeilicher “Handhabung” von Gipfelprotesten beweist schlichtweg den Erfolg autonomer Interventionen auf der Straße. Dezentral organisierte direkte Aktionen im Kontext von Massenprotesten bereiten den Autoritäten Kopfzerbrechen und zwingen sie, neue Sicherheitskonzepte zu erdenken. Dies will nicht sagen, dass autonome Interventionen nicht ebenso auf neue taktische Perspektiven für die militante Organisierung von Protest angewiesen wären. Wie Repressionsbehörden finden auch AktivistInnen immer wieder neue Aktionsformen, um sich gegen fortschreitende Überwachung, Kontrolle, Strategie und Technik zu wehren. Alle Sicherheitskonzepte sind nutzlos, wenn genügend AktivistInnen solidarisch zusammenkommen.
Dennoch haben sich ein paar wichtige Tendenzen herauskristallisiert, auf die Antworten gefunden werden müssen, um auch in der Zukunft die Stelldicheins einer globalen Elite erfolgreich zu stören. Hierzu gehört der präventive und vorauseilende Charakter sicherheitspolitischer Maßnahmen, der sich z.B. in der geographischen Kontrolle des Raums und der zunehmenden Bedeutung von Informationsgewinnung ausdrückt (28).
Repression im Vorfeld von Gipfelprotesten wird immer zentraler. Auf “Risikoanalysen”, also Spekulationen, Szenarien, Vorfeldeinschätzungen nebst ihrer kalkulierten Manipulation, wird eine “Sicherheitsarchitektur” unter Einbeziehung aller Repressionsbehörden gezimmert.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der wachsende internationale Charakter von Polizeizusammenarbeit, der bei beinahe allen beschriebenen Strategien deutlich wird. Internationale Polizeizusammenarbeit ist nicht neu und läuft bei weitem nicht so reibungslos, wie die Webseiten der Institutionen suggerieren. Doch stellt sie die globalisierungkritische Bewegung in Zeiten zunehmender Verschränkung von “innerer und äußerer Sicherheit” vor eine konkrete Herausforderung: Wie können die sich herauskristallisierenden Tendenzen eines internationalen Repressionsapparates und Sicherheitsraumes zurückgedrängt werden, ohne sich als Einpunktbewegung an Repression abzuarbeiten und die Initiative bei anderen sozialen Kämpfen gegen globale Herrschaftsverhältnisse zu verlieren?
Gipfelsoli
(1) Darüber hinaus werden geographische Beschaffenheiten ausgenutzt, etwa wie bei den Gipfeln in Genua, Evian und Heiligendamm, die seeseitig durch Wasser abgeschirmt waren.
(2) Nur wenige Kundgebungen wurden am Zaun in Heiligendamm mit absurden Auflagen überhaupt genehmigt. Eine für den 6. Juni angemeldete Mahnwache der “Jüdischen Stimme” sollte höchstens 15 TeilnehmerInnen haben, deren Namen vorher der Polizei bekannt gegeben werden sollten.
(3) Innerhalb der “roten Zone” lag die Zuständigkeit beim Bundeskriminalamt (BKA) und der Bundespolizei, außerhalb bei der Länderpolizei.
(4) Die Übung 5 Wochen vor dem Gipfel diente vermutlich dem Aufbau einer “redundanten Struktur” für den Fall einer “polizeilichen Notlage”.
(5) Zur Arbeit der Bundespolizei an den Grenzen und der Staatsangehörigkeit der Zurückgewiesenen siehe http://www.ulla-jelpke.de/uploads2/Antwort_KA_16_5697.pdf.
(6) Siehe hierzu ausführlicher http://www.gipfelsoli.org/Home/4818.html; der Fragebogen zu Protestgruppen unter http://euro-police.noblogs.org/gallery/3874/eu-sec-handbook-draft-1-07.pdf.
(7) http://www.statewatch.org/news/2008/apr/04eu-troublemakers.htm und http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29880/1.html
(8) “Das Bundeskriminalamt [hat] Informationen zu globalisierungskritischen Organisationen mitgeteilt, wobei ausdrücklich eine Differenzierung zwischen extremistisch und nicht extremistisch eingeschätzten Gruppierungen/ Organisationen vorgenommen wurde”; siehe Antwort auf Kleine Anfrage vom 18.4.2008 unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/088/1608844.pdf.
(9) Offizielle Einsatzgebiete seit der Gründung 2006 waren laut Selbstauskunft bisher die G8-Gipfel in St. Petersburg, Heiligendamm und Hokkaido, der Weltbank-/ IWF-Gipfel in Singapur und das APEC-Treffen in Vietnam. Auch die Olympiade 2008 in Peking wurden vom IPO “betreut”. Mehr zum “Unterstützungsangebot” des IPO auf seiner Webseite http://www.unicri-ipo.org.
(10) Offensichtlich findet ein reger Austausch von geheimdienstlichen und polizeilichen Erkenntnissen über “Störenfriede” auf bundesdeutscher Ebene statt, wie aus den Ermittlungsakten der G8-Durchsuchungen des BKA vom 9. Mai 2007 hervorgeht. Zum Einfluss des Verfassungsschutzes beim G8 ausführlich Martin Beck, “Das Dickicht der Dienste. Der Einfluss des Verfassungsschutzes in § 129a-Verfahren” in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 89 (1/2008) und Hauke Benner (einer der Beschuldigten) “Die enge Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und BKA beim 129a – Verfahren” in analyse & kritik Nr. 523 vom 14. Dez. 2007.
(11) Gegen 42 Beschuldigte wurden zunächst Untersuchungsverfahren eingeleitet, 13 von ihnen letztlich nach Anti-Terror-Paragraphen wie dem 270 und 289 angeklagt; siehe http://www.gipfelsoli.org/Genua_2001/4836.html.
(12) Siehe "Anarchists to be targeted as “terrorists” alongside Al Qaeda" in http://www.statewatch.org/news/2002/feb/10anarch.htm.
(13) Zu Data-Mining, Mapping und Vorhersage von Straftaten siehe http://www.heise.de/newsticker/meldung/104666/from/atom10, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31436/1.html, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31425/1.html. Laut Anbietern der Sicherheitsindustrie wird ähnliche Software z.B. auch in Deutschland eingesetzt: http://gipfelsoli.org/Home/4223.html.
(14) “Darüber hinaus ähneln sich die Protestszenen in GB und in Deutschland sehr. [..] Besonders hervorhebenswert finde ich, dass KAVALA bereits im Vorfeld des Gipfels intensive Öffentlichkeitsarbeit betreibt und eine sehr offene Beziehung zur Bevölkerung pflegt”; siehe http://gipfelsoli.org/static/Media/Repression/kavala_report_2.pdf.
(15) SAT 1 unterstützte die Bundesregierung in diesem Kurs mit einer Neuverfilmung von “The Girl in the Café” mit Julia Jentsch in der Rolle einer naiven jungen Frau, die sich in einen G8-Delegierten verliebt.
(16) “The problem is you get these small groups of international anarchists who just wreck the place and therefore you have to have the security”; siehe http://www.gipfelsoli.org/Home/Gleneagles_2005/134.html.
(17) In der 1. Ausgabe des “Kavala-Reports”, der vor dem Gipfel an alle beteiligten Polizeieinheiten verteilt wird, erklärt der “Einsatzabschnitt Aufklärung”, der “Schusswaffengebrauch der Einsatzkräfte” in Göteborg und Genua sei eine Folge der “Eskalation” gewesen.
(18) Mit Formeln wie “Die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit ist von gestern” bereiteten Kanzlerin, Bundesinnenminister und BKA-Chef die Bevölkerung seit 2006 auf eine zunehmende “zivil-militärische Zusammenarbeit” vor.
(19) Siehe http://dip.bundestag.de/btd/16/060/1606039.pdf. Die Antwort der Bundesregierung gibt ausführlich Auskunft über die Zusammenarbeit der Bundesbehörden, Lagezentren etc.
(20) Zum G8-Gipfel in Japan rief der geplante Einsatz des Militärs beinahe automatisch die Anti-Kriegs-Bewegung auf den Plan. Artikel 9 der Verfassung lehnt Krieg als souveränes Recht ab, militärische Gewalt ist verboten. Japan darf kein Militär unterhalten und behilft sich mit “Selbstverteidigungsstreitkräften”. Der G8-Gipfel stärkte die Legitimation des Militärs und unterfüttert Bemühungen zur Änderung des Artikel 9.
(21) Teilweise mit militärischer Unterstützung werden Informationssysteme eingerichtet, die den höchsten Kommandoebenen sämtliche Lagebilder in Echtzeit zur Verfügung stellen. Einige Polizeien Europas verfügen bereits selbst über IT-Infrastruktur, die eine Bandbreite von 4 Terrabyte übertragen kann. “Die größte Herausforderung in Zeiten des Information Overkill liegt nicht mehr in der Informationsgewinnung, sondern in der Informationsauswertung”, erklärt hierzu der damalige Vorstandsvorsitzende des Rüstungskonzerns EADS.
(22) Die Sicherheitsindustrie profitiert von den Großeinsätzen, ihre Geräte werden getestet, Anbieter gewinnen Vertrauen für anstehende Vergabe-Verfahren. Für den G8 2005 hat z.B. Motorola die schottische Polizei mit den benötigten Geräten versorgt.
(23) Die schweizer Polizei war zur Fußball-Europameisterschaft 2008 mit Tasern ausgestattet. Diese pistolenähnliche Waffe versetzt Betroffene sekundenlange Elektroschocks bis zu 50.000 Volt und zwingt sie in Embryohaltung. Ihr Einsatz hat bereits zu Todesfällen geführt. Siehe z.B. ausführlich arte-Reportage “Taser: Wunderwaffe gegen Polizeipannen?” vom 28.6.2008
(24) Mittlerweile verfügen auch Polizeien selbst über kleinere Geräte mit Batteriebetrieb. Sie können Kameras transportieren und Informationen in Echtzeit übertragen. Wegen der niedrigen Flughöhe können ihre scharfen Bilder auch zur Strafverfolgung genutzt werden. “Fliegende Kameras” werden von mehreren Polizeien Europas getestet, darunter Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland, Schweiz. Anwendungsgebiete sind bisher die Überwachung von “Problemstadtteilen”, “grünen Grenzen” oder Fußballstadien. Siehe ausführlich http://euro-police.noblogs.org/category/drohnen.
(25) Bei Gipfelprotesten eingesetzte Polizeien werden in Fortbildungen, Handbüchern und Trainings angehalten stets über ein größtmögliches Maß an Entscheidungshoheit zu verfügen. “Friedlichen Protesten” soll mit hoher Toleranz begegnet werden, um militante Proteste leichter isolieren zu können.
(26) Razzien der Polizei dienen auch der “Beweissicherung” bzw. Vernichtung von Beweisen. Beschlagnahmte Festplatten, Videos und Fotos helfen der Polizei bei eigenen Ermittlungen und erschweren gleichzeitig Strafanzeigen wegen Polizeiübergriffen.
(27) In Genua wurden 6 Jahre nach dem G8-Gipfel 24 Angeklagte zu Haftstrafen bis zu 15 Jahren verurteilt, in Thessaloniki 4 Aktivisten 5 Jahre später zu 8, 7 und 5 Jahren Gefängnis.
(28) In der akademischen Sicherheitsforschung wird für diese “vorauseilende präventive Repression” gegenwärtig der Begriff “pre-emptive repression” verwendet.
Source: Gipfelsoli