Die britische Polizei sammelt seit Jahren systematisch Daten über "inländische Extremisten" – Tausende Ökoaktivisten und Kriegsgegner sind dabei von ihr erfasst worden. VON OLIVER POHLISCH
[taz.de] Trainspotting, das Beobachten und Fotografieren von Eisenbahnen, gilt als liebenswerte, britische Skurilität. Weniger erfreulich ist es, dass die Polizei des Königreichs seit längerem extensives Protester-Spotting betreibt. Damit wolle sie "domestic extremism", also "inländischen Extremismus" bekämpfen. Deshalb hat sie, wie die Tageszeitung The Guardian in ihrer Montagsausgabe öffentlich machte, ein landesweites Netzwerk an geheimen Datenbanken angelegt, in denen detaillierte Informationen über die politischen Aktivitäten mehrerer tausend Menschen gespeichert sind.
Der Terminus "domestic extremism" beruht auf keiner rechtlichen Definition. Stattdessen beschreiben höherrangige Polizeibeamte gegenüber dem Guardian eher vage, wen sie als inländischen Extremisten bezeichnen. Dies seien Individuen oder auch Gruppen die Straftaten in Form von direkter Aktion zur Förderung politischer Kampagnen begingen. Diese Personen oder Aktivitäten würden in der Regel versuchen, etwas zu verhindern oder einen Wandel in der Gesetzgebung und der Innenpolitik herbeizuführen – allerdings außerhalb des normalen demokratischen Prozesses.
Schon vor den Attentaten des 11. Septembers 2001 hatten Verschärfungen in den britischen Sicherheitsgesetzen bei Bürgerrechtsgruppen die Befürchtung ausgelöst, dass künftig jegliche Aktion des zivilen Ungehorsams als "Terrortat" gebrandmarkt und entsprechend verfolgt werden könne.
Jetzt zeigt sich, dass die Ansicht, selbst bis dahin akzeptierte Protestformen der Anti-Kriegsbewegung und der Umweltbewegung würden die öffentliche Ordnung destabilisieren, zumindest in eine Sammelwut mündete. Sie erfasst Menschen, die sich noch nie irgendeiner Straftat schuldig gemacht haben. Diese Praxis erinnert auch an die Zeit des Kalten Kriegs, als die britischen Geheimdienste die Friedens- und Anti-Apartheidsbewegung bespitzelten, weil sie deren Teilnehmer kommunistischer Umtriebe verdächtigten.
Für die Bekämpfung des "inländischen Extremismus" sind Polizeieinheiten zuständig, die der Anti-Terror-Abteilung der Association of Chief Police Officers (Acpo), einem Zusammenschluss von Führungskräften der lokalen und regionalen Polizeiapparate in England, Wales und Nordirland, unterstehen. Jährlich fließen neun Millionen Pfund an öffentlichen Geldern an die Acpo – über das Innenministerium und die Polizeidirektionen. Insgesamt 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dort beschäftigt.
Die Infrastruktur der Acpo wurde Anfang dieses Jahrzehnts installiert, um Straftaten militanter Tierschützer abzuwehren. Dies geschah mit Rückendeckung durch das Innenministerium. Inzwischen gibt auch die Polizei zu, dass die kriminelle Aktivität, die mit den Tierschützern assoziiert wird, in den letzten Jahren stetig zurückgegangen sei.
Doch die zuständigen Acpo-Abteilungen haben längst ihren Aufgabenbereich auf außerparlamentarische Kampagnen des gesamten politischen Spektrums ausgeweitet. Kritiker werfen ihr vor, dies nur zu machen, um Budget und Existenz zu rechtfertigen.
Die Acpo sammelt dabei nicht nur Daten im Milieu des britischen Rechtsextremismus, wo sich Gruppen wie die English Defence League tummeln. Sie überwachen auch Mitglieder des britischen Klimacamps oder von Plane Stupid, einer Organisation, die sich im Widerstand gegen den Ausbau von Flughäfen engagiert.
Herzstück der Spitzeleien gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten ist laut Guardian die National Public Order Intelligence Unit (NPOIU). Sie verfügt über eine zentrale Datenbank, die Informationen filtert, die von polizeilichen Überwachungseinheiten, den "Forward Intelligence Teams" (FIT) und "Evidence Gatherers", bei Protesten, Demonstrationen und öffentlichen Veranstaltungen routinemäßig gesammelt werden. Dazu gehören insbesondere Filmaufnahmen und Fotos von Aktivisten. Anton Setchell, der innerhalb der Acpo den Bereich "einheimischer Extremismus" koordiniert, bestätigte gegenüber dem Guardian, dass die NPOIU quasi Zugang zu allem von Polizeikräften gesammelten Material hat und diese wiederum mit "kohärenten" Einschätzungen versorge.
So werden FIT-Beamte mit "spotter cards" ausgestattet, auf denen Aktivistinnen und Aktivisten abgebildet sind, die regelmäßig an politischen Protesten und Kampagnen teilnehmen. Und die laut Polizei verdächtigt werden, womöglich Straftaten im Bereich des "inländischen Extremismus" zu begehen. Mit Hilfe der "spotter cards" sollen die Beamten ihre Gesichter unter den Teilnehmern von Demonstrationen, Straßenblockaden oder Bauplatzbesetzungen wieder erkennen. Aufgrund der breiten Auslegung des Extremismusbegriffs ist zum Beispiel auch der durchs Fernsehen bekannt gewordene Komödiant Mark Thomas 2005 auf eine "spotter card" geraten. Sein Konterfei wurde an Beamte verteilt, die den Protest gegen die Internationale Waffenmesse in London überwachen sollten.
Auch die Autos politischer Aktivisten und Aktivistinnen sind buchstäblich ins Visier der im Verborgenen arbeitenden Datensammler geraten: Sie werden über ein landesweites System von automatischen Kraftfahrzeugerkennungskameras (ANPR) geortet. So geriet ein Mann, der über keinerlei Einträge ins Strafregister verfügt, in knapp drei Jahren insgesamt mehr als 25 mal in polizeiliche Fahrzeugkontrollen. Und das nur, weil sein Auto unter dem Label "Protest" geführt wurde, nachdem er an einer kleinen Aktion gegen die Enten- und Fasanenjagd teilgenommen hatte. Die Abfangteams werden zur Überwachung des Personenverkehrs auf Zufahrtswegen zu Demonstrationen und Protesten eingesetzt.
Schließlich arbeitet die NPOIU auch Hand in Hand mit einer weiteren Acpo-Abteilung, der National Extremism Tactical Coordination Unit (Netcu). Diese berät Tausende von Privatunternehmen im Umgang mit politischen Kampagnen.
Anton Setchell weigerte sich gegenüber dem Guardian die genaue Zahl der in der Datenbank von NPOIU Gespeicherten zu nennen. Diese seien "nicht so einfach" zu zählen. Dass Tausende allein wegen ihres friedfertigen, politischen Engagements in den Polizeispeicher geraten sind, rechtfertigte er mit der lakonischen Bemerkung, nur weil jemand noch nicht in der Kriminalstatistik aufgetaucht sei, hieße das nicht, dass er nicht von Interesse für die Polizei sei. "Jeder der im Strafregister steht, tat dies irgendwann mal nicht."
Emily Apple, politische Aktivistin von Fitwatch, einer Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die polizeiliche Überwachungstätigkeit genau zu beobachten und zu problematisieren, ist darüber erbost. Gegenüber taz.de berichtet sie, dass die Personen, die auf den "spotter cards" zu sehen sind, oft massiven Drangsalierungen durch Polizisten ausgesetzt seien. Inklusive wären unrechtmäßiger Gewahrsam, Beschimpfungen und Verfolgung bis vor die Haustür.
"Eher als ihre Aktivitäten bloß zu überwachen, ist das Vorgehen der Polizei dazu gedacht, die Betroffenen von der Teilnahme an Protesten abzuhalten. Diese werden dabei einer enormen psychischen Belastung ausgesetzt." Fitwatch sei noch dabei, herauszufinden, in welchem Ausmaß die Beamten Daten über Aktivisten gesammelt haben. "Aber ihre Tätigkeit ist weitreichend und beunruhigend und muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln angefochten werden."
Im November will Denis O’Connor, Chef der Polizeiaufsicht, die Ergebnisse des Reports zum polizeilichen Umgang mit politischem Protest veröffentlichen. Dieser wurde im Zuge der kontroversen Debatte um den Einsatz der Londoner Polizei beim G20-Gipfel im April in Auftrag gegeben. Schon jetzt hat O’Connor laut dem Guardian signalisiert, dass er einen umfassenden Wandel in der Handhabung von Protesten erwartet. So empfehlen seine Inspektoren eine komplette Überholung der Acpo-Abteilungen, denen ein Mangel an gesetzlich festgelegter Rechenschaftspflicht bescheinigt wird.
Als "Extremist" auf Seite 1
Am Montag hatte der Guardian übrigens die "spotter card", auf der Mark Thomas abgebildet ist, als Teil seiner Berichterstattung über die Spitzelaktivitäten der Polizei, auf seiner Titelseite veröffentlicht. Laut der Zeitung wurde sie von Beamten während der Protestaktionen, die sie zu überwachen hatten, verloren.
Die Veröffentlichung geschah entgegen der Zusage, dafür das Einverständnis aller der auf der "spotter card" Abgebildeten einzuholen oder gegebenenfalls einzelne Gesichter darauf unkenntlich zu machen, wie ein weiterer Betroffener gegenüber taz.de sagte. In einem Brief an ihn, hätten die zuständigen Guardian-Redakteure geschrieben, die auf der Karte gezeigten Personen würden dazu beitragen, die Stigmatisierung von Demonstranten durch die Polizei zu skandalisieren. Zudem hätten sie sich mit ihrer Teilnahme am Protest sowieso schon freiwillig sichtbar in die öffentliche Sphäre begeben. Kein starkes Argument dafür, dass neben dem eigenen Gesicht auf Seite 1 fett das Wort "inländischer Extremist" prangt.
Source: http://www.taz.de/1/politik/schwerpunkt-ueberwachung/artikel/1/big-brother-im-klimacamp/