Eins der von der italienischen Regierung im Zuge der Einwanderungsströme aus Tunesien eingerichteten, angeblich temporären Identifikations- und Abschiebezentren, wurde gestern auf Anordnung der Staatsanwaltschaft Caserta geräumt und unter Beschlagnahme gestellt. In der Nacht zuvor war die auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne bei Caserta, unweit von Neapel eingerichtete Zeltstadt, in der 98 tunesische Migranten festgehalten wurden, in Brand geraten. Ursache des Brandes waren nach Zeugenaussagen CS-Gas Patronen.
Die erste große Zwangsunterbringung von Menschenmengen unter polizeilicher und militärischer Aufsicht erprobte Italien an den Opfern des Erdbebens in L’Aquila in den Abruzzen vor und nach dem ebendort abgehaltenen G8 Gipfel im Jahr 2009. Dass es sich dabei um ein Modell handelte, dem eine überaus vielseitige Zukunft angedacht war, zeigt sich spätestens jetzt in aller Deutlichkeit. 2009 in L’Aquila erkannten nur die Betroffenen und sehr kritische Beobachter die Tragweite des Unternehmens – der Status „freier Bürger“ schützte die Erdbebenopfer nicht vor mitunter sehr einschneidende Einschränkungen der persönlichen Freiheit, dem Verlust persönlicher Würde und Intimität und weiter Teile eines selbstbestimmten Lebens, Übergriffe und repressives Handeln erfolgten aufgrund der Brisanz eines „Katastrophenschutzmanövers“ mit extrem starkem Zwangscharakter jedoch ausgesprochen „kontrolliert“. Die Erinnerung zahlreicher damaliger Betroffener bleibt dessen ungeachtet bis heute dramatisch.
Das Geschehen der vorvergangenen Nacht im temporären Abschiebezentrum betrifft Menschen, denen durch die zwangsweise Auferlegung eines „Nicht-Status“ noch weit mehr zugemutet wird. Berichte von Übergriffen, Misshandlungen, unwürdiger Versorgung und Verpflegung, Missachtung von Rechten und Nachrichten über größere und kleinere Revolten sowie Ausbrüche und Ausbruchsversuche, die sich in Folge besagter Umstände ereignen, erreichen schon seit mehreren Jahren – oft im Wochen oder gar im Tagesrhythmus – die Außenwelt, wenn auch nicht die breite Gesellschaft. Auch die Selbstverstümmelung ist, als extreme Protestform, in beängstigendem Rhythmus Teil dessen, was unter Mühen nach Außen dringt. Auf Lampedusa verletzten sich vor wenigen Tagen fünf Tunesier, die dort ihrer „Rückführung“ nach Tunesien entgegen sehen anlässlich des Besuchs eines Kardinals, der anschließend auf die Visite des Abschiebelagers verzichtete, mit Rasierklingen. Einer der fünf schnitt sich in die Beinschlagader. In Bari kam es zu Auseinandersetzungen, als zwei Marokkaner die Übertragung des Fußballspiels Marokko-Algerien sehen wollten. Neun Tunesier unterstützten ihre Forderung und protestierten mit, alle versuchten kurz darauf einen Ausbruch, woraufhin sie verhaftet wurden. Als nächstes blüht ihnen nun die Strafverfolgung wegen Widerstand, Nötigung, Körperverletzung und schwerer Sachbeschädigung.
Die Ereignisse in Santa Maria Capua Vetere sind lediglich ein besonders eklatantes Beispiel für eine von vielen antirassistischen und demokratischen Organisationen seit langem vehement angeprangerte Situation. Untenstehend folgt eine Übersetzung in deutscher Sprache der gestrigen Mitteilung des Antirassistischen Netzwerks Kampaniens zu den Vorgängen, die wenige Stunden später zur staatsanwaltlichen Anordnung der sofortigen Räumung des Lagers samt Beschlagnahme der Anlage führten. Die Beschlagnahme erfolgte offenbar aus zwei Gründen: zum Einen wurde die bereits seit Wochen von zahlreichen Organisationen kritisierte Gefährlichkeit der Anlage plötzlich als gegeben anerkannt. Zum Anderen behält sich die Staatsanwaltschaft offenbar vor, die Entstehung des Brandes genauer zu untersuchen. Die Behauptung der Polizei, dieser sei nicht von CS-Gas Patronen, sondern durch Migranten verursacht worden, genügte den ermittelnden Staatsanwälten offenbar nicht. Für die 98 Lagerinsassen fordert der Migrationsbereich der Gewerkschaft CGIL nun politisches Asyl.
Mitteilung des Antirassistischen Netzwerks Kampaniens zu den Ereignissen in Santa Maria Capua Vetere
Polizeistürme und Brand im Abschiebe- und Identifikationszentrum in Santa Maria Capua Vetere
08. Juni 2011
Am Ende ist es passiert! Heute Nacht hat ein Brand die Zelte des Lagers in Santa Maria Capua Vetere verwüstet, während die Polizei die eingeschlossenen Flüchtlinge mit CS-Gas überzog! Eine inzwischen in Gänze inakzeptable und unmenschliche Situation, die Unmut, Wut und Verzweiflung der tunesischen Flüchtlinge provoziert, die ohne jede Schuld seit fast zwei Monaten weiter in dieser der Sonne und dem Regen ausgesetzten Zeltstadt in Gefangenschaft leben, die jedweder noch so kleinen Voraussetzung für Lebbarkeit und Würde ledig ist, oder viel mehr jenseits der Schwelle der seelischen und körperlichen Tortur ist!
Ein Zustand, der nach der erstinstanzlichen Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz durch die Kommission in Caserta eine zusätzliche Verschärfung erfahren hat (Schutz, der hingegen per Dekret jenen zugestanden wurde, die gerade wenige Tage zuvor Italien erreicht hatten. Was änderte sich denn binnen weniger Tage in Nordafrika?).
Das Identifikations- und Abschiebezentrum in Andolfato ist mittlerweile ein Höllenpfuhl:
In den letzten Tagen kam es zuvor zu einigen schweren Verzweiflungs- und Selbstverstümmelungsakten. Ein Flüchtling wurde ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er Bleichwasser getrunken hatte. Ein weiterer fügte sich mit Glasscherben aus den Waschräumen ausgedehnte Verletzungen zu, um nicht von den erniedrigenden und gesundheitsgefährdenden Lebensumständen zu sprechen: Nach dem Regen vor einigen Tagen waten die Matratzen erneut vollständig durchnässt (wir erinnern daran, dass sie keine Betten mehr haben und praktisch alle auf dem Boden schlafen), sie waren so nass, dass einige Migranten aus Protest auf ihre Matratzen urinierten, um die Erniedrigung deutlich zu machen, die sie ertragen müssen! Schließlich, die Isolation: die Untersagung des Zutritts für jedwede unabhängige Organisation, mit Ausnahme von Anwälten, hat ihre Früchte getragen! Ein Dolmetscher des Roten Kreuzes wurde entfernt, offenbar wird nach einer Anzeige zweier Migranten gegen ihn ermittelt: Im Gegenzug für eine – vorgetäuschte – Aufnahme in eine Warteliste für die Aufenthaltsgenehmigung soll er Geld (400 Euro und ein Gegenstand aus Gold) genommen haben!
Und dann, letzte Nacht! Der Rekonstruktion diverser Flüchtlinge nach, (wir fügen die Aufnahme eines genau während des Geschehens durchgeführten Telefonats an) entstand die Spannung, als einer der Eingesperrten vom Tod seines Bruders in Tunesien erfuhr und daraufhin zusammenbrach. Weitere Landsleute brachten ihn zum Ausgang des Käfigs, der die Zeltstadt umgibt, sie forderten, dass er außerhalb des Andolfato-Lagers behandelt werde. Als sie dann aber sahen, wie die Polizei ihn an den Armen ziehend davon schleifte und ihn malträtierte, stieg die Spannung verständlicherweise an. Daraufhin hat die Polizei begonnen, zu stürmen, und insbesondere, in Hülle und Fülle Tränengas zu schießen, um die protestierenden Migranten auseinander zu treiben. Einige dieser Tränengaspatronen haben die Zelte in Brand gesetzt! Eine Gefahr, auf die wir mehrfach hingewiesen haben, da es nicht das erste Mal ist, dass sich eine solche Szene ereignet. Zahlreiche Migranten wurden dann in die Rettungsstelle eingeliefert, und dort auch von den Anwälten angetroffen: einige befanden sich in absolut katatonischem Zustand, den Ärzten zufolge, wegen dem Schock und dem Psychischen und körperlichen Stress!
Um vier Uhr Morgens kam sogar der Polizeipräsident von Caserta in die Kaserne…
Sogar jenseits der einschlägigen Dynamik ist es immer offensichtlicher, dass es sich beim Andolfato-Lager um eine entwürdigende und gefährliche Anlage handelt, die Menschen erniedrigt, die ganz einfach auf der Suche nach Freiheit sind, nach einer Zuflucht, nach einem besseren Leben!
Am 20. Juni werden die Richter über die weitere Festsetzung dieser Menschen entscheiden müssen, nach dem bei den ersten Bestätigungen im Namen eines selbstverkündeten „Notstands“ jede gewöhnliche verfassungsrechtliche Gewährleistung gesprengt wurde. Wir wollen nicht glauben, dass man den Wahnsinn begehen wird, sie im Juli und August bei 40 Grad in den Zelten halten wird, bis sie ersticken! Und wir wollen nicht so weit kommen zu denken, dass diese hundert Flüchtlinge allein zur Rechtfertigung von Ausgaben in Höhe von etlichen Millionen Euro, die das Ministerium für den Betrieb des Zentrums soeben ausgeschrieben hat, zu Sündenböcken gemacht werden (die Ausschreibung ist gerade wenige Tage alt).
Wie die Mobilisierungen der antirassistischen Bewegung deutlich machen, ist es dringend nötig, aus diesem Tunnel herauzukommen, in den sich jedes noch so geringe Gefühl für Menschlichkeit verrant hat!
Rete Antirazzista Campana
Originaltext u.a. hier: http://www.inventati.org/radiodimassa/2011/06/08/cariche-e-incendio-al-c…
Telefonische Live-Situationsschilderung der Migranten
http://www.youtube.com/watch?v=jfpygV59m-c&feature=player_embedded