Bedrohte Versammlungsfreiheit

Elke Steven

[sopos.org] Die
herausragende Bedeutung des Versammlungsrechts steht scheinbar außer
Frage. Noch die letzte Allgemeinverfügung, mit der
Demonstrationen verboten werden, stellt vorab die außergewöhnliche
Bedeutung dieses Grundrechts heraus, in das nur nach gründlichem
Abwägen eingegriffen werden dürfe. Dies sei, behaupten die
zuständigen Ordnungsbehörden dann, skrupulös
geschehen, und zitieren gern noch den Brokdorf-Beschluß des
Bundesverfassungsgerichts, um zu beweisen, daß sie ihn kennen.

Schon ein solches Verhalten
läßt ahnen, wie schlecht es um das Grundrecht stehen muß.
Das Mißtrauen der Regierenden und Administrierenden gegen den
aufrührerischen Geschmack, auf den wir in Versammlungen kommen
könnten, ist offenkundig. Nicht nur der Obrigkeitsstaat von
einst fürchtete Versammlungen als Hort der Unbotmäßigkeit
und des Aufruhrs. Die politische Klasse der Bundesrepublik
Deutschland ist kaum weniger furchtsam.

Das Grundgesetz stellte das
Recht, sich ungehindert zu versammeln, zwar in die Reihe der
unveräußerlichen Grundrechte, sah für Versammlungen
unter freiem Himmel allerdings schon ein einschränkendes Gesetz
vor. Das 1953 erlassene Versammlungsgesetz trägt noch den Atem
des Obrigkeitsstaates in sich.

Erst 1985 hat das
Bundesverfassungsgericht mit dem Brokdorf-Beschluß eine
Schneise geschlagen, um dem Recht auf Versammlungsfreiheit in der
Praxis Geltung zu verschaffen. Allerdings entstand diese rechtliche
Würdigung nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext einer
gesellschaftlichen Praxis von Demonstrationen. Im Laufe der 60er und
70er Jahre hatte sich ein souveränes Selbstbewußtsein für
dieses Grundrecht entwickelt, das vor allem durch seine
Inanspruchnahme gewahrt wird.

Die
Schneise wurde aber in der Praxis schnell wieder verstellt. Die
Exekutive erfindet immer neu und listig Möglichkeiten, die
grundrechtlichen Maßstäbe zu verdrehen: Berichte über
Geschehnisse werden verfälscht, die Gefahren ins Unermeßliche
überzeichnet, herrschaftlich werden Fakten geschaffen, deren
gerichtliche Überprüfung sich im Irgendwann verliert.

Versammlungen
dürfen nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter
strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit aufgelöst
und verboten werden, stellte das Bundesverfassungsgericht damals und
noch mehrmals fest. Eine den Verboten nachlaufende Rechtsprechung
hilft den Demonstrierenden jedoch nur begrenzt. Das Verbot der
Brokdorf-Demonstration lag zum Zeitpunkt des höchst-richterlichen
Beschlusses, durch den es aufgehoben wurde, bereits vier Jahre
zurück. Der Rechtsschutz durch Eilentscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts ist viel schwächer. Die Exekutive
versucht oft mit Erfolg, ihre von eigenen Interessen geprägte
Gefahrenprognose zur Grundlage der Rechtsprechung zu machen.
Rechtsschutz wird ausgehebelt, wenn das Gericht vagen
Gewaltvermutungen oder auch verfälschten Berichten der Polizei
folgt, ohne diese überprüfen zu können.
Demonstrierende gegen Castor-Transporte haben dies oft leidvoll
erfahren. Bei den Demonstrationen gegen die Politik der G8-Staaten
steigerte es sich bis zur Unerträglichkeit. Der auf Verbote und
den potentiellen Einsatz aller polizeilichen Gewaltmittel abzielenden
Public-Relations-Arbeit der Polizei, der Hochrechnung drohender
Gewalttaten, der verdrehenden und sogar Fakten fälschenden
Berichterstattung der Polizei über Vorfälle während
der Demonstrationen scheint das Gericht in einer Eilentscheidung
nichts entgegensetzen zu können. Wenn auch kein anderer den
vermummten und mit Gewalt drohenden » schwarzen
Block« gesehen hat, so wird doch dem Bericht der Polizei über
diese Hunderte von Unsichtbaren geglaubt.

Ich will an sechs
symptomatischen Beispielen zeigen, wie das Grundrecht auf
Versammlungs- und Meinungsfreiheit alltäglich mit Füßen
getreten wird.

(1)
In Darstellungen der Polizei und der Medien werden die von
Demonstrationen ausgehenden Gefahren im Vorhinein oft bergehoch
aufgetürmt. Immer droht die Teilnahme des »schwarzen
Blockes«, der längst zu einem polizeiwillkommenen Mythos
geworden ist. Allüberall ist mit Gewalttaten zu rechnen, seit
Jahren steht der Terrorismus bereit. Notfalls helfen Ermittlungen
nach § 129a StGB, die
Bedrohung zu konstruieren. Zur Einschränkung eines Grundrechts
bedürfte es zumindest konkreter Hinweise auf solche Bedrohungen.
Daran mangelt es fast immer, und geheime »Informationen«
der Verfassungsschützer lassen sich kaum überprüfen.
Heiligendamm ist hierfür ein Beispiel, und beim Protest gegen
das NATO-Gipfeltreffen nächstes Jahr im April wird es nicht
anders sein.

(2) Wenn die Behörden
in weitaus höherem Maße als durch potentielle Gefährdungen
gerechtfertigt den Veranstaltern Auflagen erteilen, läuft das
ebenfalls auf demokratiefeindliche Behinderung von Demonstrationen
hinaus. Im Mai 2006 erließ die Versammlungsbehörde für
eine Demonstration in Mittenwald 25 Auflagen. In der nachträglichen
Überprüfung urteilte der Bayerische Gerichtshof München,
daß 21 dieser 25 Auflagen rechtswidrig seien. Doch im August
2008 wurden vor einer Friedensdemonstration in Büchel, die sich
gegen die dort lagernden Atomwaffen richtete, sogar 30 überflüssige
Auflagen erteilt.

(3) Bei großen
Demonstrationen kann schwerlich ein Einzelner für all die
vielfältigen Ausdrucksformen und die vielen aufrufenden Gruppen
eine Gesamtverantwortung tragen. Dennoch wird zunehmend der
Versammlungsleiter für alles und jedes verantwortlich gemacht
und zur Rechenschaft gezogen. Offenbar sollen Vorstellungen von
straff geleiteten Aufmärschen durchgesetzt werden. Den
Versammlungsleitern werden quasi polizeiliche Ordnungsaufgaben
zugemutet, die sie nicht erfüllen können.

Im
Jahr 2008 standen Versammlungsleiter in München, Karlsruhe,
Rostock und Friedrichshafen vor Gericht. Nichts Gravierendes war
vorgefallen. Die Fülle der Auflagen macht jedoch viele
Rechtsverstöße möglich. Verantwortlich ist allemal
der Versammlungsleiter. In Karlsruhe wurde dies schon zum Bestandteil
der Auflagen gemacht: »Sie müssen mit Ihren Weisungen
alle Teilnehmer jederzeit erreichen können und sind
verpflichtet, die Veranstaltung für beendet zu erklären,
wenn Sie sich nicht durchsetzen können.«
Dabei reicht schon, daß eine Stange an einem Transparent
etwas länger ist, als die Auflage zuläßt, ein
Transparent größer, als die Polizei wünscht, ein
Schal nach polizeilicher Meinung der Vermummung dient und die
Kleidung von Teilnehmenden als zu ähnlich, folglich uniform
erscheint.

Noch ist zu hoffen, daß
die Gerichte, zumindest in den höheren Instanzen, diesem
Vorgehen Einhalt gebieten und die angeklagten Versammlungsleiter
freisprechen. Das neue bayerische Versammlungsgesetz sieht diese
Haftung des Versammlungsleiters aber bereits abschreckend vor.

Aus
dem Urteil des Amtsgerichts Karlsruhe sei zur Illustration kurz
zitiert: »Es kann aus Sicht
des Gerichtes nicht anerkannt oder auch nur hingenommen werden, daß
beliebig und vor allem auch folgenlos eine Demonstration so
durchgeführt wird, wie es sich die Teilnehmer vorstellen und
wünschen, vor allem dann nicht, wenn das exzessive Beiwerk ein
nicht wegzudenkender Bestandteil der Demonstration sein soll.«
Der Angeklagte wurde mit der Begründung, er habe »sich nur
halbherzig und pro forma um die Auflagen gekümmert, was
natürlich bei weitem nicht ausreicht«, als Straftäter
verurteilt.

(4)
Der »Hamburger Kessel«
1986 hat bundesweites Aufsehen erregt. Er war von Anfang an
rechtswidrig. Doch dieses Vorgehen der Polizei hat sich seitdem
ungezählte Male wiederholt. Im Wendland wurden ganze Dörfer
eingekesselt. Immer wieder werden anläßlich der
rassistischen, ausländerfeindlichen und nationalistischen
Demonstrationen von rechtsaußen die Gegendemonstranten
eingekesselt. So geschehen kürzlich in Köln im Kontext des
stadtweiten Protests gegen die Versammlungen von »Pro
Köln« gegen den
Moscheebau. In dem breiten und bunten, karnevalesk inszenierten
Protest wurden 500 Demonstrierende eingekesselt und in die
Gefangenensammelstelle verbracht. Kinder und Jugendliche blieben bis
weit nach Mitternacht dort, Rechtsbeistand wurde verwehrt. Der
Richterin, die entschied, daß die ihr vorgeführten
Gefangenen sofort zu entlassen seien, führte die Polizei
daraufhin keine mehr vor.

(5) Aber auch dann, wenn
ausnahmsweise Auflagen im Vorhinein gerichtlich überprüft
werden können, ist in der Praxis häufig noch nichts
gewonnen. Im August 2008 fand in Hamburg das AntiRa- und Klimacamp
statt. Die Versammlungsbehörde wollte eine Schlußkundgebung
nicht über die geplante Zeit von sechs Stunden zulassen
(übrigens auch nicht am geplanten Ort). Das Verwaltungsgericht
befand, daß die Demonstrierenden über die zeitliche Länge
ihres Protestes entscheiden können. Die Polizei hielt sich nicht
daran. Sie setzte ihre Auffassung unmittelbar und ohne
Rechtsschutzmöglichkeiten durch. Der Gesamteinsatzleiter
erteilte, ohne selbst am Ort zu sein, kurzerhand vom Polizeipräsidium
aus die Anweisung zur Auflösung der Demonstration zu dem
Zeitpunkt, zu dem die Versammlungsbehörde das Ende der
Demonstration gewollt hatte.

(6) Auch rechtswidrige
Gewaltausübung einzelner Beamter gegen unliebsame
Demonstrierende steckt im System. Beispiele lieferte das Vorgehen
gegen das Hamburger Camp. Die Identifizierung gewalttätiger
Beamter ist kaum möglich, der Schutz des Corps funktioniert.
Sehr selten wurden Polizeibeamten verurteilt – jeweils nur
aufgrund besonderer Konstellationen. Die extensiven Auflagen, die im
Vorhinein aufgetürmten Gefahrenprognosen und öffentliche
Vorverurteilungen der Demonstrierenden lassen polizeiliche Gewalt in
aller Regel gerechtfertigt erscheinen.

Andere Behinderungen und
Formen der Abschreckung von Demonstrationen seien hier wenigstens
noch stichwortartig genannt: Zugangskontrollen, Videoüberwachung,
Teilnahmeverbote mit Meldeauflagen, Reiseverbote, Platzverweise,
unsinnige Vermummungsverbote …

Gegenwärtig werden im
Zuge der Föderalismusreform all die Scheußlichkeiten,
gegen die es jetzt noch manchmal Rechtsschutz gibt, in den
Ländergesetzen abgesichert. Bayern ist vorangegangen,
Baden-Württemberg folgt. Auch Gesetze, die so dargestellt und
begründet werden, als richte sich die Einschränkung der
Versammlungsfreiheit nur gegen rechtsaußen, heben die
Versammlungsfreiheit auf, die es nur ungeteilt geben kann.

Ein Hoffnungsschimmer
bleibt allerdings und liegt einzig in der selbstbewußten Art,
in der Bürger und Bürgerinnen als Souverän dieses
Recht in Anspruch nehmen. Die wechselvolle Geschichte des
Versammlungsrechts zeigt allemal, wie wichtig dies ist. Wie schon das
Hambacher Fest 1832 trotz Verbot stattfand, muß auch heute das
Recht immer wieder neu gegen staatliche Macht und Kontrolle
erstritten werden.

 

Source: http://www.sopos.org/aufsaetze/494bbfd01ecbf/1.phtml