[Tagesspiegel] Das Schiff ist blau und groß und schwer. Der mächtige, sich
nach oben verjüngende Rumpf glänzt in der Sonne, und wer die Augen
zusammenkneift, glaubt die Wellen zu sehen, die das blaue Schiff auf
seinem Weg nach Afrika schlagen wird. Auf der Kommandobrücke stehen die
Offiziere der EU-Grenzschutzagentur Frontex und fahnden nach Cayucos:
unscheinbaren Holzschiffchen mit mal 50, mal 150 Passagieren, die
wochenlang über das Meer treiben. Wenn sie Glück haben, weht sie der
Wind nach Lampedusa, Malta oder Gran Canaria, zu den Vorposten der
westlichen Wohlstandsgesellschaft. Allein auf den Kanarischen Inseln
sind in den ersten neun Monaten dieses Jahres 27 000 Flüchtlinge
gestrandet.Aber man wird keine Cayucos zu Gesicht bekommen an
diesem Oktobertag auf dem blauen Schiff, das eigentlich gar kein Schiff
ist, sondern ein Bürohaus im Warschauer Ortsteil Praga. Die Offiziere
schauen nicht aufs Meer, sie sitzen vor Landkarten und Computern. In
Praga gibt es nicht viel außer einem Fußballstadion, das nie fertig
geworden ist. Und dem Bürohaus, das so aussieht wie ein Schiff. Hier
sitzt Frontex, knapp 4000 Kilometer entfernt vom Einsatzgebiet vor den
Küsten Afrikas. Geht’s nicht noch ein bisschen weiter weg?
Frontex ist Europas Schild gegen die Armut. Eine europäische
Gemeinschaftsagentur, die die Außengrenzen der EU (daher der Name:
„frontières extérieures“) abschottet gegen illegale Einwanderer aus
Mauretanien und Senegal, Marokko und von den Kapverdischen Inseln. Im
Warschauer Hauptquartier werden die multinationalen Einsätze der
europäischen Grenzschützer koordiniert, italienische Hubschrauber mit
spanischen Schiffen und deutschen Helikoptern kombiniert.
Ilkka
Laitinen steht Frontex seit der Gründung vor einem Jahr als
Geschäftsführer vor. „Warschau passt ganz gut“, sagt der Finne, „wir
kümmern uns ja auch um die Ostgrenze der EU, den Balkan und die
internationalen Flughäfen.“ Der Einsatz an der Südgrenze der EU sei nur
eine von 25 Operationen. Warum fragen alle immer danach, warum fragt
nicht mal jemand nach der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland oder
den Olympischen Spielen von Turin, zwei Großveranstaltungen, bei denen
Frontex mit großartigem Erfolg die Ein- und Ausreise Hunderttausender
kontrolliert habe?
Also gut, Afrika: „Geografisch gesehen sind
wir recht weit weg“, sagt Laitinen. „Aber glauben Sie mir, das Problem
dort ist für uns allgegenwärtig.“ Er bekam es Tag für Tag zu hören und
zu lesen. Eine schlechtere Presse hatten in den Sommermonaten nur
George Bush und Osama bin Laden. Politiker suchten Schuldige für die
verheerenden Zustände und wurden in Warschau fündig. „Langsam und
uneffektiv“ nannte die spanische Regierung die Frontex-Leute,
Bundeskanzlerin Merkel forderte „mehr Praxisnähe“ ein. Als schon Tag
für Tag Hunderte von Afrikanern auf den Kanaren strandeten, suchten die
Frontex-Leute in der EU noch nach Schiffen und Hubschraubern.
Oberst Laitinen ist ein freundlicher Mensch mit streichholzkurzem Haar,
er spricht langsam und bedächtig. Wenn er die Brille von der Nase nimmt
und damit gestikuliert, ist das schon ein Gefühlsausbruch. Haben ihn
die Kränkungen des Sommers verletzt? Nein, sagt Laitinen, aber er habe
sich schon öfter gefragt, ob die Öffentlichkeit nicht ein wenig viel
erwarte von der kleinen Behörde.
68 Beamte aus 22 EU-Staaten
arbeiten in den drei obersten Stockwerken des blauen Hochhauses. Der
Etat für 2006 lag bei 12,4 Millionen Euro, und erst als die Cayucos
kamen und mit ihnen die Fernsehkameras und ganz Europa die Tragödie
Abend für Abend im Fernsehen vor Augen geführt wurde, legte die EU noch
mal 3,5 Millionen Euro drauf. „Peanuts“, knurrt Laitinen, „wenn ich mir
vorstelle, was die EU für einen Gesamtetat hat und wie viel jeder Staat
für sich in seine Grenzüberwachung investiert.“ Der französische
Innenminister Sarkozy hat darüber laut und öffentlich mit dem
spanischen Regierungschef Zapatero gestritten.
Laitinen lacht.
Ja, es habe auch innerhalb der EU durchaus Kritik gegeben an den
südlichen Mitgliedsstaaten, die sollten doch erst einmal selbst auf
ihre Grenzen aufpassen, bevor sie von der EU mehr Geld verlangen und
namentlich Laitinens Behörde für alle Unzulänglichkeiten verantwortlich
machten.
Es war ja nicht so, dass Frontex im Sommer seine
Hubschrauber über dem Plattensee patroullieren ließ und seine Schiffe
in den norwegischen Fjorden. Wie auch: Frontex hat keinen einzigen
Hubschrauber und exakt genauso wenige Schiffe. In Warschau wird nur
koordiniert. Und bezahlt. Laitinen muss mit dem auskommen, was ihm die
EU-Mitgliedsstaaten zur Verfügung stellen. Jeder Grenzpolizist, der für
einen nationenübergreifenden Einsatz auf Streife geht, wird Frontex in
Rechnung gestellt, jedes Flugzeug, jeder Helikopter, jedes Boot. Mit
dem Rest des schmalen Budgets finanziert Frontex die Analysten und
Planer im Warschauer Hauptquartier.
Wie funktioniert so eine
Operation? Wie lässt sich von Warschau aus ermitteln, wie viele
Flugzeuge und Boote für die Überwachung der 2300 Kilometer langen Küste
benötigt werden? Wie kooperieren die Einsatzkräfte mit ihren Kollegen
in den afrikanischen Staaten? Auf solche Fragen mag Laitinen nicht
antworten. Es hat schon genug Aufmerksamkeit gegeben auf den Kanaren,
zu viele Fernsehkameras. Er verstehe ja, dass es ein
Informationsbedürfnis gebe, aber „wir dürfen den kriminellen Schleusern
nicht zu viele Karten in die Hand geben“. Und: „Die beste Operation ist
die, von der keiner etwas merkt.“ Hat er die Grenzschützer schon mal
auf einer Fahrt übers Meer begleitet? „Das ist nicht mein Job, dafür
müssen wir kein Geld und keine Zeit verschwenden.“
Auf dem
Fenstersims hoch über Warschau liegen, bunt verstreut, Souvenirs, wie
sie nur ein Grenzschützer sammelt. Ehrenschilder und Orden aus ganz
Europa, eine Muskete von der Guardia Civil. Auch Laitinen ist
Grenzoffizier. Als zu Beginn der 90er Jahre die Sowjetunion
zusammenbrach, machte Finnland sich bereit für einen Ansturm von
Flüchtlingen aus dem Osten. Als junger Grenzoffizier hat Laitinen
damals im Krisenstab mögliche Szenarien entwickelt: Wie viele Russen
kommen über die Grenzen? Welche Konsequenzen hat das für Finnland? Wie
können wir uns schützen? „Und was ist passiert?“ Laitinen nimmt die
Brille ab. „Gar nichts ist passiert. Die russische Regierung überwacht
die Grenze genauso effektiv wie früher die Sowjetunion. Aus der Sicht
eines Grenzschützers gibt es zwischen den beiden Regimes keinen
Unterschied. Interessant, finden Sie nicht?“
Die Anekdote steht
für Laitinens Grundsatz: Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen.
Im August strandeten 4500 Afrikaner an den Kanarischen Inseln, im
September 7000. Im Oktober waren es nur noch 600. „Unsere Maßnahmen
haben gegriffen, die Situation ist unter Kontrolle“, sagt Laitinen.
„Das nenne ich eine Erfolgsgeschichte.“
In solchen Momenten,
wenn er von Gefahr- und Risikoanalyse spricht, von operativen Maßnahmen
und strategischen Planungen, wirkt der freundliche Oberst, als gehe es
um dieVerteidigung gegen einen bewaffneten Aggressor. Ilkka Laitinen
hatte das Glück, auf der richtigen Seite geboren zu werden, in der
Provinz Karelien, ein paar Kilometer von der russischen Grenze
entfernt. Auch er kennt die Bilder von den ausgemergelten Flüchtlingen,
von den weinenden Kindern und Frauen, die den Durst mit Meerwasser
bekämpft haben. Die Geschichten von den Verdursteten und Ertrunkenen,
die unterwegs über Bord geworfen werden. Sind die Frontex-Leute nicht
die Bösen im Spiel? Die Handlanger der Politik, die den Ärmsten der
Armen die Reise ins Schlaraffenland verweigern? Der Oberst senkt den
Blick.
„Frontex kann nicht die Probleme lösen, die zur
Verletzung von Grenzen führen“, sagt er und macht eine andere Rechnung
auf: „In August und September haben wir 2300 Menschen rechtzeitig in
ihren Booten aufgespürt und zurückbegleitet.“ Wer weiß, was aus denen
geworden wäre, ob sie ihre 1000 Kilometer lange Reise überlebt hätten.
„Wir haben deren Leben gerettet, verstehen Sie? In zwei Monaten haben
wir 2300 Menschenleben gerettet.“
Die Frontex-Mission „Hera II“
vor den Kanaren wäre in diesen Tagen ausgelaufen, aber die EU hat sie
bis Ende des Jahres verlängert. Für Frontex ist das ein Erfolg mit
Perspektive. Das Flüchtlingsdrama im Sommer hat Europa vor Augen
geführt, wie sehr sein Wohlstand an einer Abschottung der Grenzen
hängt. Schon haben die Schlepper neben Spanien, Malta und Italien die
griechischen Häfen als neue Anlaufpunkte entdeckt. Tausende Afrikaner
werden später weitergeschleust nach Italien und Deutschland, Frankreich
und Österreich, Alltag im Europa der offenen Grenzen. Spätestens seit
diesem Sommer weiß die EU, dass sie ein gesamteuropäisches Problem hat.
So gesehen ist Frontex ein Krisengewinnler. Ilkka Laitinen
erzählt von einer Initiative des Europäischen Parlaments, „die wollen
uns 14 Millionen Euro zusätzlich geben“. Der Vorschlag muss noch durch
die bürokratischen Instanzen gehen, doch es wird wohl auf einen
Haushalt von 30 Millionen Euro hinauslaufen. Damit hätte Frontex das
Budget von 2006 annähernd verdoppelt.
Was fängt man an mit so
viel Geld? Gern würde Frontex die besten Experten aus ganz Europa
holen, aber es ist nicht so einfach, gutes Personal für einen Umzug
nach Warschau zu gewinnen. „Es gibt immer noch keinen Vertrag mit der
polnischen Regierung über unseren Status“, sagt Laitinen. „Kommunale
Registrierung, Besteuerung, die Einschulung der Kinder, das alles ist
für unsere Angestellten nicht geklärt.“ Dann gebe es da noch ein
finanzielles Problem, den vertraglich vereinbartenen Zuschuss der
polnischen Regierung. Zurzeit werden Frontex-Beamte schlechter bezahlt
als die Kollegen in Brüssel oder Straßburg.
Bis zum Ende dieses
Jahres finanziert die polnische Regierung die Räumlichkeiten in dem
Warschauer Bürohaus, das so ähnlich aussieht wie ein Kriegsschiff. Im
Januar zieht Frontex um in einen Neubau im Stadtzentrum, fünf Kilometer
weiter westlich. Immerhin: Afrika wird ein Stückchen näherrücken.
Source: http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Dritte-Seite;art705,2277672