Eine Frage der Zeit
ISLAMABAD/KABUL/BERLIN Angesichts der Ausweitung der afghanischen Aufstände auf den Nordwesten Pakistans kündigt die Bundesregierung neue Polizeiprojekte in dem scharf umkämpften Grenzgebiet zwischen den beiden Ländern an. Hintergrund sind Bemühungen, die Unruhen einzudämmen, sowie Befürchtungen, sie könnten auch Islamabad erfassen und die prowestliche Regierung stürzen. Dies käme einer beschleunigten westlichen Kriegsniederlage gleich. Die Berliner Polizeiprojekte sind Teil einer umfassenden G8-Initiative, die die Bundesregierung im vergangenen Jahr während ihrer G8-Präsidentschaft vorangetrieben hat. Sie beinhaltet zahlreiche Vorhaben zur Kontrolle des Grenzgebiets, darunter auch die Auflösung von Flüchtlingslagern in Pakistan sowie die Abschiebung der Flüchtlinge in die afghanischen Kriegszonen. Mit den neuen Polizeiprojekten entsendet die Bundesregierung weitere deutsche Kräfte in eine Region, in der die bewaffneten Auseinandersetzungen gerade zum offenen Krieg eskalieren: Am vergangenen Mittwoch nahmen Milizen zum ersten Mal einen pakistanischen Militärstützpunkt ein.
Kämpfe
Das noch aus britischer Kolonialzeit stammende Armeefort in der bergigen Grenzregion Süd-Waziristan war bereits am späten Dienstag Abend von rund 200 Aufständischen angegriffen worden und konnte zunächst vom Militär noch verteidigt werden. Am Mittwoch wurde es mit Raketen sturmreif geschossen und eingenommen. Zahlreiche Menschen kamen dabei zu Tode. Mit der Eroberung des Militärstützpunkts erreichen die Unruhen im Nordwesten Pakistans einen erneuten Höhepunkt. Bereits seit Jahren verschärfen sich die dortigen Spannungen kontinuierlich: Aufständische aus Afghanistan ziehen sich über die Grenze in den Nachbarstaat zurück, aber auch unter den Einwohnern des Gebiets brechen in zunehmendem Maße Unruhen aus und führen immer öfter zu kriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Das pakistanische Militär ist schon lange im Einsatz. Seit dem letzten Jahr nehmen auch illegale Angriffe westlicher Truppen zu, darunter NATO-Operationen.[1] Die Vereinigten Staaten ziehen jetzt auch offiziell verdeckte Interventionen auf pakistanischem Territorium in Betracht.
"Ost-Afghanistan"
Die Region entlang der Grenze zu Afghanistan gilt seit je als kaum von außen kontrollierbares Gebiet. In Teilen der pakistanischen North-West Frontier Province (NWFP) sowie vor allem in den "Stammesgebieten" (Federally Administered Tribal Areas, FATA) existiert die Herrschaft Islamabads nur auf dem Papier. De facto üben lokale Clanchefs die Kontrolle aus. Zudem ist die Region Gegenstand heftiger Streitigkeiten zwischen Pakistan und Afghanistan: Kabul erkennt die völkerrechtlich gültige Grenzziehung aus dem Jahr 1893 nicht an. Die NWFP sowie die "Stammesgebiete" werden in der afghanischen Hauptstadt gelegentlich auch "Ost-Afghanistan" genannt. Bereits in den 1950er Jahren standen Pakistan und Afghanistan wegen des Kabuler Grenzrevisionismus kurz vor einem Krieg. Die diesbezüglichen Spannungen halten bis heute an.
Niedrigschwellig
Berlin bemüht sich schon seit Jahren, in der höchst sensiblen Grenzregion zu Afghanistan Fuß zu fassen. Dies geschieht bislang vor allem mit niedrigschwelligen Projekten sogenannter Entwicklungshilfe: durch Ausbildungsprogramme und Unterstützung in der medizinischen Grundversorgung. "Nach den Ereignissen des 11. September 2001 ist Pakistan als Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit eingestuft worden", schreibt die bundeseigene Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ).[2] Die Kooperation konzentriert sich auf die NWFP und unmittelbar angrenzende Gebiete. Auch nach dem schweren Erdbeben des Jahres 2005 hatte Berlin ein Auge auf die Region; die GTZ unterstützte dort den Wiederaufbau zerstörter Dörfer. Die parteinahen Stiftungen – in Pakistan eine wichtige Stütze der deutschen Außenpolitik – sind ebenfalls nahe der Grenze zu Afghanistan aktiv. Die Hanns-Seidel-Stiftung (CSU) hat partnerschaftliche Kontakte zur Universität der NWFP-Hauptstadt Peshawar. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) knüpft seit dem Sommer 2004 an einem Netzwerk in die NWFP. Die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung unterhält ein Projekt, das auf Netzwerkbildung in den "Stammesgebieten" (FATA) zielt.
Grenzabschottung
In Reaktion auf die zunehmenden Unruhen in dem Gebiet baut die Bundesregierung ihre dortigen Aktivitäten systematisch aus. Im Zentrum steht die Abschottung der afghanisch-pakistanischen Grenze; auf diese Weise sollen der Spielraum der Aufständischen eingeschränkt und eine grenzübergreifende Kooperation verhindert werden. Im Dezember 2006 verlangte die EU von Islamabad, die mehrere Tausend Kilometer lange Grenze nach Afghanistan zuverlässig zu kontrollieren. Wenig später bot die deutsche EU-Ratspräsidentschaft Pakistan "Unterstützung" für die Repression im Grenzgebiet an.[3] Ende Mai 2007 suchte Außenminister Frank-Walter Steinmeier die NWFP-Hauptstadt Peshawar auf und verhandelte mit dem dortigen Gouverneur. Nur wenige Tage später, am 30. Mai 2007, unterzeichnete er gemeinsam mit den Außenministern der übrigen G8-Staaten sowie Afghanistans und Pakistans eine "G8-Afghanistan-Pakistan-Initiative".[4] Darin kündigten die G8-Staaten "zielgerichtete Hilfeleistung" für afghanisch-pakistanische Kooperationen an. An erster Stelle rangieren ausdrücklich "Sicherheit" und "Flüchtlingsfragen". Die "Initiative" wurde beim G8-Gipfel in Heiligendamm bekräftigt und anschließend von der deutschen G8-Präsidentschaft konkretisiert.
Training Facility
Die Ergebnisse hat das Auswärtige Amt vor wenigen Tagen bekannt gegeben. Demnach sind rund 70 Projekte in Vorbereitung, die vor allem "in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet fließen". "Die Unterstützung der lokalen Sicherheitsbehörden und die Grenzsicherung erfahren besondere Aufmerksamkeit" [5], teilt das Außenministerium mit. Berlin wird demnach die hochsensible Grenze mit Grenzposten befestigen und Geräte zur Dokumentenüberprüfung liefern. Außerdem sollen deutsche Organisationen eine "Training Facility" für die Grenzpolizei errichten und die Ausbildung des Personals übernehmen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der afghanischen Seite, da die Vereinigten Staaten sich den Zugang zum pakistanischen Repressionssektor weitgehend selbst vorbehalten. Allerdings beteiligt Washington die Bundesrepublik schon seit zwei Jahren an seinen Einflussmaßnahmen: Seit dem Frühjahr 2006 werden Offiziere aus Afghanistan und aus Pakistan in "Grenzsicherung" geschult – im "George C. Marshall Center" im süddeutschen Garmisch-Partenkirchen, einem gemeinsam betriebenen deutsch-amerikanischen Projekt.[6]
In der Wüste
Ergänzend sieht die unter Berliner Vorsitz erarbeitete G8-Initiative die Auflösung von pakistanischen Flüchtlingslagern und die Deportation der Flüchtlinge in das afghanische Kriegsgebiet vor. Wie es in der Außenminister-Erklärung vom 30. Mai 2007 heißt, werden alle G8-Staaten die "Regierungen Afghanistans und Pakistans bei der Rückführung afghanischer Flüchtlinge aus Pakistan" unterstützen.[7] Außenminister Steinmeier hatte kurz vor der Unterzeichnung des Papiers ein "Rückkehr"-Büro des UN-Flüchtlingshilfwerks nahe der Grenze zu Afghanistan in Augenschein genommen. Hintergrund der Abschiebepläne ist die Auskunft Islamabads, dass die Aufständischen unter den mehr als zwei Millionen afghanischen Flüchtlingen starken Rückhalt genießen.[8] Bereits im vergangenen Jahr wurden Hunderttausende Afghanen aus Pakistan und dem Iran in ihr Herkunftsland deportiert [9] – in katastrophale Verhältnisse. "Kein Baum und kein Strauch – die Flüchtlinge leben in der Wüste", heißt es in einem Bericht über die Camps der nach Südostafghanistan Abgeschobenen: "Arbeit gibt es nicht, Schulen und Krankenhäuser auch nicht." Das UN-Flüchtlingshilfswerk darf laut Mandat nur den "am meisten Verletzlichen" unter ihnen helfen – Alten, Kranken und Kindern.[10]
Neue Opfer
Mit den neuen Polizeiprojekten erweitert die Bundesregierung ihre Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung in der afghanisch-pakistanischen Grenzregion, die sich bisher weitgehend auf die Spionage der Bundeswehr-Tornados beschränken. Damit wird Deutschland ein weiteres Stück in den eskalierenden Krieg gezogen: Das vor Ort mit der Grenzabschottung befasste deutsche oder in deutschem Auftrag tätige – auch zivile – Personal gerät unweigerlich ins Visier der Aufständischen. Neue Opfer nicht nur unter deutschen Soldaten und Polizisten, sondern auch unter den Mitarbeitern sogenannter Entwicklungsorganisationen, die für die Zuarbeit zur Berliner Repressionspolitik genutzt werden, sind damit nur eine Frage der Zeit.
[1] s. dazu Rückzugsgefechte
[2] Die GTZ in Pakistan; gtz.de/de/aktuell/1176.htm
[3] EU-Troika vereinbart weitere Vertiefung der Beziehungen zu Pakistan; Pressemitteilung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 08.02.2007. S. dazu Den Rückzug abschneiden
[4] Gemeinsame Erklärung der Außenminister der G8 und der Außenminister Afghanistans und Pakistans zur "G8-Afghanistan-Pakistan-Initiative"; Potsdam, 30. Mai 2007
[5] 70 Projekte zur Verbesserung der afghanisch-pakistanischen Zusammenarbeit; Pressemitteilung des Auswärtigen Amts 26.12.2007
[6] s. dazu Den Rückzug abschneiden
[7] Gemeinsame Erklärung der Außenminister der G8 und der Außenminister Afghanistans und Pakistans zur "G8-Afghanistan-Pakistan-Initiative"; Potsdam, 30. Mai 2007
[8] Abschiebung ins Nichts; taz 10.01.2008
[9] s. dazu Todesurteil
[10] Abschiebung ins Nichts; taz 10.01.2008
Source: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57131