Joachim Hirsch: Vom Sicherheitsstaat zum totalitären Überwachungsstaat

[links-netz] Schäuble & Co. haben es mit der permanenten
Inszenierung von Kriminalitäts- und
Terrorbedrohungen so weit gebracht, dass inzwischen
praktisch alle rechtsstaatlichen und
demokratischen Barrieren beiseite geräumt
sind. Es fällt immer schwerer, die permanent
anschwellende Flut von einschlägigen Gesetzen
und Maßnahmen überhaupt noch zu
überblicken. Der Innenminister mag, wie übrigens
auch sein Vorgänger in der rot-grünen
Regierung, ein krankhafter Paranoiker sein.
In seinem Falle gäbe es angesichts des nur
knapp überstandenen Attentats dafür sogar
eine Erklärung. Dies mindert jedoch nicht sein
politisches Geschick, durch die Präsentation
immer neuer Bedrohungsszenarien,
systematisch inszenierter Terroristenjagden
und fast jeden Tag neu
aufgelegter Pläne für Überwachungsmanöver
die Demontage des Rechtsstaats
immer weiter voranzutreiben.
Die Methode ist simpel: ein offenkundig
aberwitziger Vorschlag wird
öffentlich kritisiert, löst beim Koalitionspartner
pflichtschuldiges Stirnrunzeln
hervor, wird zurückgezogen
oder verharmlost und schon ist der
Boden bereitet für die Durchsetzung
neuer, im Vergleich dazu etwas weniger
radikaler Verschärfungen. Bis zum
nächsten Coup. Salamitaktik eben.
Und weil er damit so erfolgreich ist,
mag ihm schließlich auch der Verteidigungsminister
Jung (das ist der, der
einst an prominenter Stelle in den
hessischen CDU-Parteispendenskandal
verwickelt war) nicht nachstehen.
Medienaufmerksamkeit sichert das
auf jeden Fall, und was will ein Politiker
mehr?

Totalitäre Regime zeichnen sich
dadurch aus, dass der Schutz der
Privatsphäre aufgehoben ist und
rechtsstaatliche Normen nicht gelten.
Dieser Zustand ist hierzulande
inzwischen weitgehend erreicht.
Überwachungskameras allerorten,
Onlinedurchsuchungen, Telefonabhörung,
Handyortung und vieles
andere mehr sorgen dafür, dass
praktisch keine Bewegung, keine
Handlung und keine Äußerung mehr
unbeachtet bleibt. Für Emails gilt das Briefgeheimnis
ohnehin nicht. Telefonabhörungen
werden von Richtern – soweit sie ihnen überhaupt
vorgelegt werden – im Fließbandverfahren
genehmigt. Der Rechtsstaat bleibt nicht
zuletzt auf der Strecke, wenn einschränkende
Urteile des Bundesverfassungsgerichts einfach
nicht mehr beachtet werden, wie es inzwischen
üblich geworden ist.

Vom Grundgesetz her sind beispielsweise
Onlinedurchsuchungen enge Grenzen gesetzt
und das Verfassungsgericht verhandelt
demnächst über ihre Zulässigkeit. Dies hindert
jedoch Schäuble (und neuerdings auch
den Stoiber-Nachfolger) nicht daran, sie jetzt
schon munter zu praktizieren, Gericht hin, Gericht
her. Der Verteidigungsminister bereitet
den Abschuss von Zivilflugzeugen vor, obwohl
das Gericht dieses als verfassungswidrig bezeichnet
hat. Wenn dann der Bundeswehrverband
die Piloten auffordert, solch rechtswidrigen
Befehlen nicht zu folgen, kündigt er die
Rekrutierung einer gewissermaßen privaten
Mörderbande an, die bereit ist, eben dies zu
tun. Das kennt man sonst nur von Banananrepubliken.

In der Presse war in diesem Zusammenhang
von einem „Fehltritt“ Jungs die Rede, und der
Ex-Bundeskanzler Schmidt hat dessen Äußerungen
als „unzweckmäßig“ bezeichnet.
Beides ist ein Irrtum. Die Äußerungen waren
wohl kalkuliert. Es ging dabei gar nicht um
die Sache selbst, sondern um den erneuten
Versuch einer Diskursverschiebung. Mit dem
Ausmalen der Terrorgefahr sollen Bundeswehreinsätze
im Inneren legitimiert werden,
die ebenfalls verfassungswidrig sind. Die Frage,
wann eigentlich ein Minister entlassen
und vor Gericht gestellt wird, der ganz offen
seinen Amtseid und die Verfassung bricht, ist
angesichts einer großen Koalition, einer quantitativ
wie qualitativ schwachen Opposition
sowie einer eher verständnisvollen Öffentlichkeit
eigentlich müßig. Mit der bewussten
Vorankündigung eines so genannten übergesetzlichen
Notstands, mit dem die Verfassung
außer Kraft gesetzt werden soll, hat er das auf
die Spitze getrieben, was die konstitutionelle
Entwicklung in der Bundesrepublik schon seit
langem kennzeichnet: die Aushebelung des
geschriebenen Grundgesetzes mit der Berufung
auf übergeordnete „Werte“.

Früher war das die „freiheitlich-demokratische
Grundordnung“. Da man sich auf derartig Veraltetes
nun wirklich nicht mehr beziehen will
und kann, ist an ihre Stelle „Sicherheit“ getreten,
das Passepartout für jeden Gesetzesbruch.
Soziale Sicherheit ist damit natürlich
keineswegs gemeint. Diese wird vielmehr
planmäßig immer weiter abgebaut. Mit öffentlichen
Spekulationen über Gefährdungen, die
konkret überhaupt nicht vorhersehbar sind,
soll die Verfassungslegalität präventiv ad acta
gelegt werden.

Es bleibt allerdings die Frage, weshalb dies
alles so reibungslos über die Bühne gehen
kann. Man denke etwa an die Zeiten, in denen
noch das vergleichsweise simple Vorhaben
einer Volkszählung zu einer beachtlichen
Protestbewegung führte. Heute braucht man
Volkszählungen gar nicht mehr, weil alle erforderlichen
Daten ohnehin längst verfügbar
sind und permanent aktualisiert werden.
Selbstverständlich gibt es immer noch einige
Aufrichtige, die eindringlich vor dieser Entwicklung
warnen, aber es passiert praktisch
nichts, abgesehen von ein paar Geplänkeln
innerhalb der Koalition, die im wesentlichen
der Profilbildung dienen, während man sich in
der Sache weitgehend einig ist. Die in Berlin
können offensichtlich völlig ungehindert weiter
machen. Man bekommt den Eindruck, als
sei es den Leuten einfach egal, was die einschlägigen
Ministerien und Staatsschutzbehörden
treiben.

Es lässt sich vermuten, dass dies sehr stark
mit der neoliberalen Transformation von Staat
und Gesellschaft zusammen hängt. Die Erkenntnis,
dass im Zuge der so genannten Globalisierung
demokratische Institutionen leer
laufen, inhaltlich folgenreiche demokratische
Teilnahme praktisch nicht mehr stattfindet
und Regierungen notorisch gegen die Interessen
der Bevölkerungsmehrheit handeln,
prägt das allgemeine Bewusstsein inzwischen
nachhaltig. Wenn Wahlen nichts bewirken, öffentliche
Mobilisierungen und Demonstrationen
an dem geschlossenen Machtkartell von
Staat und Kapital abprallen, lässt sich eben
nichts gegen die Übergriffe der Regierenden
machen.

Dazu kommt das aus der permanenten Mobilisierung
der Standortkonkurrenz erwachsende
wohlfahrtschauvinistische Syndrom.
Die Verteidigung relativer Privilegien und einer
Lebensweise, die offenkundig in eine globale
Katastrophe führt sowie die planmäßig geschürte
Angst vor einem Terrorismus, der eben
dadurch genährt wird, lässt den Verzicht auf
Demokratie und Rechtsstaat als unvermeidlich
erscheinen. Und diejenigen, die durch
die „Reform“ des Sozialstaats an den gesellschaftlichen
Rand gedrängt worden sind, haben
ohnehin andere Sorgen, zumal ihnen als
gläsernen „Kunden“ der Arbeitsagenturen der
Schutz der Privatsphäre längst entzogen ist.

Das Privileg, den Sprössling mit einem spritfressenden
Geländewagen zur Schule fahren
zu können, ist jedenfalls allemal wichtiger als
rechtsstaatlicher Klimbim. Wenn das Auto
zum beherrschenden Fetisch und Lebensmittelpunkt
geworden ist, hat die Sicherung der
Treibstoffversorgung erste Priorität, und deren
Folgen, der Terrorismus eben, macht leider
Einschränkungen erforderlich. Die Zerstörung
demokratisch-rechtstaatliche Verhältnisse ist
halt der Preis für das schöne Leben in einer
Wohlstandsfestung.

Im Übrigen stellt in einer Gesellschaft, in der
die Veröffentlichung des Privaten der bevorzugte
Gegenstand einer massenmedialen Unterhaltungsindustrie
geworden ist, der Schutz
der Privatsphäre ohnehin keinen besonderen
Wert mehr dar. Der Überwachungsstaat findet
sein Pendant im generellen Verlust der Intimität.
Dass es üblich geworden ist, mittels
Kundenkarten im Austausch gegen einige
lächerliche Gratifikationen den Firmen eine
Masse persönlicher Daten zu überlassen, ist
ein Symptom dafür. Das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung, vom Gericht einst
in den Grundrechtsstatus erhoben, wird offensichtlich
so interpretiert, dass alles über
sich selbst öffentlich gemacht werden kann.
Man hat schließlich nichts zu verbergen. Wir
haben uns daran gewöhnt, in einer Welt von
Strichcodes und eingebauten Chips zu leben,
die jede Regung zum Gegenstand privater und
staatlicher Kontroll- und Überwachungsnetze
machen.

Genau genommen vollzieht sich hierzulande
so etwas wie die Etablierung chinesischer Verhältnisse.
Es entwickelt sich ein politisches
System, das den Mangel an grundlegenden
demokratischen und rechtstaatlichen Garantien
damit kompensiert, dass genügend
Spielräume für private Bereicherung geboten
werden. So lange hemmungslos Geld gemacht
werden kann, scheint die Sache in Ordnung zu
sein, auch wenn dies gelegentlich mit durchaus
kriminellen Mitteln geschieht. Dass dabei
die Gesellschaft mehr und mehr auseinander
fällt und eben dies den weiteren Ausbau der
politischen Repressions- und Überwachungssysteme
fördert, ist kein öffentliches Thema.
Daran wird deutlich, dass der Kampf gegen
den Überwachungsstaat für sich genommen
zu kurz greift. Die Wurzel des Problems liegt
in der neoliberal transformierten Gesellschaft
selbst. Die Frage ist, wie dieser Zustand verändert
werden könnte.

Source: http://www.links-netz.de