Karlsruhe lässt kaum Raum für heimliche Online-Durchsuchungen

[heise.de] Das Bundesverfassungsgericht hat die entscheidende Klausel zur Ausforschung "informationstechnischer Systeme" im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz, das erstmals in Deutschland verdeckte Online-Durchsuchungen erlaubte, für verfassungswidrig erklärt.
Zudem hat das höchste deutsche Gericht ein neues Grundrecht auf
"Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität"
informationstechnischer Systeme etabliert. Es tritt zu den anderen
Freiheitsrechten wie insbesondere dem Schutz des
Telekommunikationsgeheimnis, dem Recht auf Unverletzlichkeit der
Wohnung und dem informationellen Selbstbestimmung hinzu", erklärte
Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, bei der
Verkündung des Grundsatzurteils am heutigen Mittwoch in Karlsruhe.

Schrankenlos ist das neue Grundrecht aber nicht. Eingriffe für
präventive Zwecke und zur Strafverfolgung sollen möglich sein, müssen
aber auf einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage beruhen. Dies
hat das Gericht für die hauptsächlich angegriffene Gesetzesnorm nicht
bestätigt sehen können.

Die überprüfte, weit gestrickte Gesetzesgrundlage ließ die
Ausforschung "informationstechnischer Systeme" zu. Die
NRW-Landesregierung hatte im Rahmen der Verhandlung immer wieder betont, dass es ihr damit gar nicht um heimliche Online-Durchsuchungen gehe. Vielmehr habe man die im Bund und anderen Bundesländern wie Bayern
bereits durchgeführte "Quellen-Telekommunikationsüberwachung" auf eine
eigene gesetzliche Grundlage stellen wollen. Mit der umstrittenen
Maßnahme wird das Abhören der Internet-Telefonie direkt auf einem
anvisierten Rechner vor dem möglichen Einsatz einer Verschlüsselung
machbar, wobei offenbar auch Trojaner im Spiel sind. Der
NRW-Bevollmächtigte Dirk Heckmann räumte nach kritischen Fragen der
Verfassungsrichter aber ein, dass die Norm "suboptimal formuliert" und
"konzeptionell noch nicht durchdacht" gewesen sei.

Geklagt hatte
unter anderem der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP), der
in den Netzbespitzelungen einen "schweren Grundrechtseingriff neuer
Qualität" sieht. Betroffen seien das Grundrecht auf Unverletzlichkeit
der Wohnung, das Fernmeldegeheimnis und das allgemeine
Persönlichkeitsrecht. Da heutzutage auch höchstpersönliche Daten auf
dem PC gespeichert seien, werde "tief in die Privatsphäre von Menschen»
eingegriffen". Zu den Mitstreitern des Altliberalen gehören zwei weitere Rechtsanwälte, die Autorin Bettina Winsemann (alias Twister) und ein Mitglied der Linkspartei Karlsruhe.

Mittelbar richtet sich das Urteil zugleich gegen das heftig
umstrittene Vorhaben von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU),
dem Bundeskriminalamt (BKA) neue weitgehende Kompetenzen zur
Terrorabwehr einzuräumen. Dabei geht es neben einer Ausweitung des
großen Lauschangriffs oder der Telekommunikationsüberwachung
insbesondere um die von BKA-Chef Jörg Ziercke eindringlich angemahnte
Befugnis für den Einsatz eines so genannten Bundestrojaners.

Die Fraktionsvorstände der großen Koalition wollen noch während
ihres heute zu Ende gehenden Spitzengesprächs in Bonn die Eckpfeiler
für die entsprechende Novelle des BKA-Gesetzes
im Lichte der Karlsruher Entscheidung beraten und dabei womöglich
gleich Nägel mit Köpfen machen. Zu Jahresbeginn deutete
SPD-Fraktionschef Peter Struck nach anfänglichem Widerstand bereits
sein prinzipielles Einlenken an.
Auch Innenpolitiker der Genossen kündigten gerade noch einmal an, den
Bundestrojaner entlang der Karlsruher Vorgaben im BKA-Gesetz verankern zu wollen.

Auch andere Bundesländer haben mit Spannung auf das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts gewartet: Bayern etwa ist mit einem
Kabinettsentwurf für Netzbespitzelungen durch den Verfassungsschutz
schon vorgeprescht. In Baden-Württemberg streiten Justiz- und Innenministerium noch über eine entsprechende Ermächtigung für die Polizei.

Federführend bei dem Verfahren war Verfassungsrichter Wolfgang
Hoffmann-Riem, der eines seiner letzten Urteile vor der Pensionierung
Ende März sprach und 25 Jahre nach der höchstrichterlichen "Erfindung"
des Rechts auf "informationelle Selbstbestimmung" nun ein neues
Grundrecht auf vertrauliche Nutzung des eigenen Computers umriss.

Die SPD im Düsseldorfer Landtag legte dem NRW-Innenminister Ingo
Wolf bereits am Wochenende vorsorglich in Erwartung der juristischen
Niederlage für den FDP-Politiker den Rücktritt nahe. Wolf stehe
inzwischen als "tägliches Dementi einer liberalen Innenpolitik in
Deutschland" da. Das Eingeständnis seine gesetzgeberischen Fehlers wäre
ein "Befreiungsschlag" für die Liberalen. Wolf will von derlei
Forderungen bislang nichts wissen.

Heftig umkämpft sind derzeit auch die heimlichen
Online-Durchsuchungen, die das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV)
bereits mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes durchgeführt haben.
Diese Praxis bestätigte jüngst der Geheimdienstkoordinator im
Bundeskanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, offiziell gegenüber dem
Innenausschuss des Bundestags. Die Liberalen wollen die Haushaltsmittel
für derlei geheimdienstliche Maßnahmen unverzüglich sperren. "Im
Innenausschuss waren sich alle Fraktionen einig, dass wir keine
ausreichende Rechtsgrundlage haben", sagte
die innenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Gisela Piltz, der
Leipziger Volkszeitung. "Demnach müsste sich für die Haushaltssperre
auch eine Mehrheit finden."

Siehe zur aktuellen Entscheidung über die heimliche Online-Durchsuchung von PCs auch:

Zu den Auseinandersetzungen um die Terrorismus-Bekämpfung, die
erweiterte Anti-Terror-Gesetzgebung, die Anti-Terror-Datei sowie die
Online-Durchsuchung siehe auch:

(Stefan Krempl) /
(jk/c’t)

Source:  http://www.heise.de/newsticker/meldung/104134/from/atom10