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Zu
vermuten ist sie immer. Offensichtlich wurde sie oft. Sie
nachzuzeichnen gelang selten: die Steuerung so genannter
Terrorismusverfahren durch den Verfassungsschutz. Ein eklatantes
Beispiel dafür bietet nun das Ermittlungsverfahren 2 BJs
10/06-2 gegen 17 AktivistInnen der Anti-G8-Bewegung, das die
Bundesanwaltschaft (BA) im April 2006 einleitete.
So
spektakulär dieses Ermittlungsverfahren in die Öffentlichkeit
drang, so spektakulär sein vorläufiger Ausgang: Am 9. Mai
2007 waren mehrere hundert BeamtInnen des Bundeskriminalamtes (BKA),
verschiedener Landeskriminalämter und der Bereitschaftspolizei
aufgeboten, um in Berlin, Bremen und Hamburg, in Brandenburg,
Niedersachsen und Schleswig-Holstein 40 Wohnungen, Büros und
Projekte der linken Szene zu durchsuchen.1
Sie waren auf der Suche nach vermeintlich konspirativen Strukturen
einer ominösen „militanten Kampagne zur Verhinderung des
G8-Gipfels", die unter verschiedenen Gruppennamen vor allem im Raum
Hamburg und Berlin zwölf Brandanschläge auf Autos und
Gebäude durchgeführt haben soll. Festnahmen gab es keine.
Die
Razzien fanden knapp einen Monat vor dem Treffen der Staats- und
Regierungschefs der G8-Staaten in Heiligendamm statt. Sie standen im
Zusammenhang mit zwei Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 20
Personen wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung" nach § 129a Strafgesetzbuch (StGB). Bei drei
Personen handelte es sich um Ermittlungen gegen die „militante
gruppe" (mg), auf deren Konto seit 2001 mehrere Brandanschläge
gehen. 17 AktivistInnen waren ins Visier der ErmittlerInnen geraten
wegen der Gründung einer „terroristischen Vereinigung"
namens „Militante Kampagne zum Weltwirtschaftsgipfel – G8-2007 in
Heiligendamm". Umfangreiches Material, darunter Mailinglisten,
Mailpostfächer und Computer, wurde am 9. Mai 2007
beschlagnahmt. Besonders interessierte die ErmittlerInnen das
alternative Internetprojekt so36.net, über das ein Großteil
der internetgestützten Kommunikation der Anti-G8-Mobilisierung
abgewickelt wurde.
Im
Dezember 2007 erklärte der 3. Strafsenat des
Bundesgerichtshofs (BGH) auf Beschwerde eines Beschuldigten, die
Durchsuchungen und die Beschlagnahme im Zusammenhang mit den
Ermittlungen gegen die 17 AktivistInnen für rechtswidrig.2
Der BGH erkannte keine „besondere Bedeutung des Falles" und
verneinte die Zuständigkeit der BA – selbst dann, wenn die
Beschuldigten als „kriminelle Vereinigung" eingestuft würden.
Der Staatsschutzsenat des BGH meldete allerdings „nachhaltige
Zweifel" an, ob es die von Verfassungsschutz, BKA und BA
imaginierte Vereinigung überhaupt gäbe. Inzwischen hat die
BA das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Hamburg abgegeben.
Am
Anfang war das Wort
Angeregt,
bestimmt und am Laufen gehalten wurden die Ermittlungen durch das
Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Wie BfV und BKA
zusammenarbeiten, darüber geben die rund 10.000 Seiten Akten
Auskunft, die den Beschuldigten zwei Monate nach den Durchsuchungen
vom 9. Mai 2007 zugestellt wurden.3
Sie enthalten rund 270 Berichte, Vermerke, Gutachten usw.; rund 40
Prozent hat das BfV beigesteuert.
Bereits
am Rande der Sicherheitskonferenz SECON in Warnemünde im
November 2006 hatte der BKA-Chef Jörg Ziercke vor einer
„terroristischen" Gefahr im Inneren gewarnt: „Es gibt eine
breite, auch militante Kampagne gegen den Gipfel. Wir müssen uns
auf die entsprechende Planung von Straftaten einstellen." Die Szene
stehe jedoch unter Beobachtung, besonders gefährliche
EinzeltäterInnen seien bekannt.4
Zu
diesem Zeitpunkt ermittelte seine Behörde schon seit neun
Monaten in diese Richtung – auf Anregung des BfV: Im Visier waren
vier Berliner und ein Hamburger, die seit den 80er Jahren in der
autonomen Szene aktiv sind. Die Kölner VerfassungsschützerInnen
meinten Ende 2004/Anfang 2005 aufgrund einer jahrelangen
Telefonüberwachung vier Berliner identifiziert zu haben, die
eine „militante Kampagne" zum G8-Gipfel planen würden. Dabei
handelte es sich um die tatsächlichen bzw. vermeintlichen
Autoren des Buches „Autonome in Bewegung".5
Die
geheimdienstliche Einschätzung fußte auf der
Telefonüberwachung von zumindest zwei Wohnungen späterer
Hauptbeschuldigter. Die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ)
erfolgte mindestens seit dem Jahr 2000 auf Grundlage der Anordnung
0253, die offenbar von der für die Überprüfung
zuständigen G10-Kommission in den folgenden Jahren wenigstens
zehn Mal für jeweils sechs Monate verlängert wurde. Aus
welchem Grund die Überwachung stattfand, ist nicht bekannt.6
Unter
Dauerüberwachung
Im
Juli 2005 leitete das BfV gegen die vier Berliner Buchautoren wegen
des bevorstehenden G8-Gipfels eine neue G10-Maßnahme ein
(Anordnung 3003). Hintergrund waren abgehörte Telefonate, die
einen allgemeinen Bezug auf den Gipfel hatten. Zusätzlich zur
TKÜ wurden nun die Hauseingänge zweier Beschuldigter
videoüberwacht. In der Folge wurde bei jedem Brandanschlag
überprüft, ob die Beschuldigten zu Hause waren und wo und
wann sie in der Zeit telefoniert hatten. Die Daten stellte das BfV
später dem BKA zur Verfügung. Die ganze Palette
geheimdienstlicher Tätigkeit wie V-Leute-Einsatz, verdeckte
Ermittlung, Rasterfahndung, Datenabgleich mit anderen Behörden
kam nun zum Einsatz.
Einer
der Beschuldigten fasste die dahinterstehende Logik so zusammen:
„Gemäß der einfachen Gleichung: Wenn die Betreffenden am
Telefon sagen ‚Wir wollen was zum G8 machen‘, meinen sie damit
laut Verfassungsschutz, ‚was militantes machen‘, was
gleichbedeutend ist mit ‚wir wollen Anschläge machen‘."7
Anschaulich wird dieses Interpretationsmuster an der Bewertung, die
das BfV von einem Telefonat des späteren Hamburger Beschuldigten
S. vornahm: „Angesichts des engen ‚politischen‘
Vertrauensverhältnisses von S. zu B. und M., aber auch zu L.,
dürfte S. klar gewesen sein, dass es dabei nicht um die
Vorbereitung einer friedlichen Großdemonstration ging, sondern
um Planungen für eine – militant ,flankierte‘ –
längerfristige Kampagne."
Zwei
Wochen, nachdem die neue G10-Maßnahme eingeleitet worden war,
kam es im Hamburger Umland zu einem Brandanschlag auf das Auto des
Vorstandsvorsitzenden der Norddeutschen Affinerie, Werner Marnette.
In der Anschlagserklärung wurde die Aktion als „Vorschlag für
eine breite, auch militante Kampagne zum G8-Gipfel 2007"
bezeichnet. Das Amt sah sich nun in seiner Einschätzung
bestätigt und wertete diesen Anschlag als Auftakt der von den
vier verdächtigten Berlinern geplanten „militanten Kampagne"
gegen das G8-Treffen in Heiligendamm – unter Einbeziehung des
Hamburgers S., gegen den ab Januar 2006 ermittelt wurde. Ende August
kam auch das BKA zu dem Ergebnis, dass der Hamburger S. mutmaßlicher
Autor des Bekennerschreibens zu diesem Anschlag sei.
Im
Oktober 2005 ereignete sich ein Brandanschlag auf das Gästehaus
der Bundesregierung in Berlin-Tegel. Durch Textvergleich mit älteren
Bekennerschreiben glaubte das BKA, den Berliner B. als Verfasser
identifizieren zu können. Die Analyse des BfV kam zwar zu einem
anderen Ergebnis und verortete die Verfasser im militanten
Antikriegsspektrum, was aber im weiteren Verlauf der Ermittlungen
keine Rolle spielte; wie bei einigen anderen „Erkenntnissen"
wurden Widersprüche im Zuge der Ermittlungen einfach nicht
weiter verfolgt.
Ermittlungen
in großem Ausmaß
Laut
Aktenlage liefen die Ermittlungen des BKA bis ins Frühjahr 2006
parallel zu den Maßnahmen des BfV. Erst Anfang März 2006
übermittelten die VerfassungsschützerInnen ihre
wesentlichen Erkenntnisse an das BKA. Nach einem Treffen mit der BA
überreichte der Verfassungsschutz Ende März ein 20-seitiges
Schreiben mit „Erkenntnissen des BfV zu den mutmaßlichen
Initiatoren der militanten Kampagne", das als geheim eingestuft
wurde und somit nicht gerichtsverwertbar ist. Im Wesentlichen
basierte das Papier auf abgehörten Telefongesprächen und
dem E-Mailverkehr der Verdächtigen seit dem Jahr 2000.
Laut
BfV habe die TKÜ ergeben, dass sich die vier Berliner positiv
auf die militanten Ereignisse in Prag, Göteborg und Genua
bezögen und darin „Anknüpfungspunkte für (militante)
Aktivitäten" sähen. Der Beschuldigte S. sei telefonisch
in ihre Absichten „eingebunden". Auch sei „zielstrebig am
Aufbau von Vernetzungsstrukturen zum Thema G8 in Heiligendamm"
gearbeitet worden, u.a. auf dem BUKO im Mai 2005. Im April 2006
leitete die BA daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen die fünf
vom BfV benannten Personen ein und beauftragte das BKA mit den
weiteren Ermittlungen.
Da
das BKA damit jedoch nicht weiterkam, forderte es im Sommer 2006 vom
BfV, weitere Daten aus seinen TKÜ-Maßnahmen über die
Beschuldigten und deren persönliches Umfeld zu liefern. Darunter
waren die Mobilfunkdaten von bundesweiten Treffen von G8-GegnerInnen
im Oktober 2005 und Januar 2006. Doch nicht nur damit konnte das BfV
dienen: Das Treffen im Januar 2006 hatte es per Videokamera überwacht
und alle TeilnehmerInnen beim Betreten des Berliner Mehringhofs
gefilmt. Ins Visier des Staatsschutzes gerieten so während der
gesamten Ermittlungen – ob am Rande oder stärker
involviert – mehrere hundert Personen. Insgesamt tauchen in den
Akten, die die Beschuldigten nach den Razzien vom 9. Mai 2007
erhielten, rund tausend Namen auf.
Ein
Abgleich der Videoaufnahmen der überwachten Wohnungen und die
Überprüfung des Mobilfunkverkehrs der Beschuldigten ergab
immer dasselbe Ergebnis: Eine direkte Tatbeteiligung der
Beschuldigten war nicht festzustellen. Im Februar 2007 übermittelte
das BfV dem BKA seine Erkenntnisse zum Aufenthaltsort der
Beschuldigten zum Zeitpunkt der jeweiligen Anschläge vom Juli
2005 bis Ende 2006. Weder diese bis dahin als „geheim"
eingestuften Erkenntnisse noch die sechs vergleichenden
linguistischen Analysen von Bekennerschreiben, die das BKA bis
Februar 2007 in Auftrag gab, brachten neuen Erkenntnisse. Alle
Gutachten hatten das Ergebnis „non liquet" (keine Klarheit); eine
Autorenidentität war weder festzustellen noch auszuschließen.
Kurz
vor Weihnachten 2006 weitete das BKA nun den Kreis um sechs aus dem
Umfeld der bislang fünf Beschuldigten aus, sechs weitere kommen
im Lauf des Frühjahrs 2007 dazu. Das BKA geht nun davon aus,
dass die ursprünglichen fünf die Anschläge nur
initiierten, planten und die Bekennerschreiben formulierten, zur
Tatausführung aber andere Personen „eingebunden" hatten.
Auch
gegen die neuen Beschuldigten wurde nun das gesamte Arsenal
strafprozessualer Überwachungsmaßnahmen, das dem BKA bei
einem § 129a-Verfahren an die Hand gegeben ist, in Anschlag
gebracht: von der Überwachung der Festnetz- und
Mobiltelefonanschlüsse, der E-Mail-Kommunikation und des
Onlineverhaltens über Observationen bis hin zum Einsatz von
GPS-Ortungssendern.8
Hauseingänge wurden videoüberwacht, Gespräche in Autos
abgehört, Wanzen in Wohnungen gelegt. Es wurden Geruchsproben
genommen (Ergebnis: negativ) und in Briefzentren systematisch
Postsendungen kontrolliert. Hinweise auf eine Tatbeteiligung der
Beschuldigten wurden nicht gefunden.
Zielgerichtete
Steuerung
„Linksterroristische
Strukturen, die mit der früheren RAF oder den Revolutionären
Zellen vergleichbar wären, sind in Deutschland nicht vorhanden."
Diese Aussage aus dem März 2007 stammt von BfV-Präsidenten
Heinz Fromm.9
Zwei Monate später und zwei Jahre nachdem seine Behörde
umfangreiche Ermittlungen gegen die linke Anti-G8-Bewegung angestoßen
hatte, sollte offensichtlich im Hinblick auf den bevorstehenden
G8-Gipfel mit der Großrazzia genau der gegenteilige Eindruck
erweckt werden.
Festzuhalten
bleibt: Das BfV hatte sich zielgerichtet, noch bevor der erste
Anschlag zu verzeichnen war, auf einen Täterkreis festgelegt.
Mit geheimdienstlichen Mitteln gewonnene banale Erkenntnisse wurden
brachial in die gewünschte Richtung interpretiert. BKA und
Bundesanwaltschaft ließen sich füttern. Sie griffen
willfährig auf die „Erkenntnisse" des Verfassungsschutzes
zurück und hielten trotz gegenteiliger Ermittlungsergebnisse an
der von ihm gelegten Fährte fest. Dass selbst der
Ermittlungsrichter am BGH auf dieser Grundlage immer wieder
weitreichende Ermittlungsmaßnahmen absegnete, zeigt, dass es
mit einer Eindämmung des geheimdienstlichen Einflusses auf
Ermittlungsverfahren nicht getan wäre. Aber davon kann momentan
angesichts der Pläne von Innenminister Wolfgang Schäuble
(CDU), das BKA bei schweren Straftaten wie einen Geheimdienst
operieren zu lassen, ohnehin nicht die Rede sein.
1Bundesanwaltschaft:
Pressemitteilung 10/2007 v. 9.5.2007
2StB
12/07, 13/07 und 47/07 v. 20.12.2007
3Eine
65-seitige Auswertung der Akten unter der Überschrift „Was
nicht passt, wird passend gemacht! Auswertung der Akten ‚militante
Kampagne gegen G8‘" liegt seit November 2007 im Internet vor:
http://autox.nadir.org/buch/auswertung_11_07.pdf
4Ostsee-Zeitung
v. 23.11.2006
5A.G.
Grauwacke: Aus den ersten 23 Jahren. Autonome in Bewegung, Berlin
(3. Auflage) 2007 (Verlag Assoziation A)
6siehe
„Was nicht passt …", Aktenauswertung a.a.O. (Fn. 3), S. 13
7„Als
Möglichkeit anzusehen … Wie der VS die Ermittlungen in einem
§129a-Verfahren steuert", in: ak – analyse & kritik,
Nr. 523 v. 14.12.2007
8So
entdeckte einer der Beschuldigten am 12.5.2007 – drei Tage nach
der Razzia – an seinem Auto ein GPS-Peilgerät unbekannter
Herkunft.
9„Ordnung
in hohem Maße bedroht", in: Hessisch/Niedersächsische
Allgemeine v. 31.3.2007
Vielen Dank an die Redaktion für die Erlaubnis der Wiedergabe.
Das Heft
Bürgerrechte & Polizei/CILIP 89 (1/2008)
Schwerpunkt: Europas Grenzen: innen – außen
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Bürgerrechte & Polizei/CILIP 89 (Mai, 1/2008) / Martin Beck, 14.06.2008