Nino Leitners Doku „Every Step You Take“ – Rezension, Preisrätsel und Interview

[gulli.com] Kameraüberwachung.
Bei uns in Deutschland oder Österreich die Ausnahme, in Großbritannien
die Regel, noch. Der österreichische Filmemacher Nino Leitner
veröffentlichte letztes Jahr den Dokumentarfilm "Every step you take".
Manche Experten sprechen von rund fünf Millionen Überwachungskameras in
Großbritannien, andere von sieben oder acht Millionen, die genaue Zahl
ist unbekannt. Nino Leitner sprach mit Kritikern wie auch Befürwortern
der ständigen Überwachung, sammelte Argumente für beide Seiten. Wir
haben uns während eines Besuchs in Wien sehr ausführlich mit ihm über
sein Projekt unterhalten.

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Schwarzer Hintergrund, ein dunkler Flachbildschirm zoomt langsam
näher. Er stellt verschiedene Personen im Bett dar – sie schlafen,
träumen oder kopulieren. Szenenwechsel: Jade, eine junge Frau wird
durch eine Stimme aus dem Off bei ihrem Nickerchen gestört. "Hier spricht Big Brother."
Er verlangt, dass die junge Bewohnerin nicht mehr ins Bett gehen oder
schlafen darf. Jade wird zum zweiten Mal verwarnt. Sie resigniert
sofort und bestätigt die Anweisung lediglich. Eine düstere
Zukunftsvision zwar, allerdings ist zumindest die Kontrolle bereits
Teil des Alltags der Briten. (Trailer
siehe am Ende des Artikels) Überall auf der Straße werden sie gefilmt.
Ein Mitarbeiter wird rund 300 Mal auf dem Weg zu seiner Arbeit gefilmt
– 4,5 Millionen Kameras etwa soll es geben. Keiner kennt die genaue
Zahl. Keiner kontrolliert, wer hier wen kontrolliert und warum. Es
bedarf keiner Genehmigung um Kameras zu installieren, viele Anwohner
wissen nicht mal von der Existenz oder Funktion zahlreicher
Gerätschaften.

Nino Leiter versucht die Tatsache zu erklären, warum
ausgerechnet George Orwells Heimatland zur Nation der
Überwachungskameras wurde. Nirgendwo sonst auf der Erde finden sich so
viele davon, alleine ihre Unterhaltung kostet Milliarden. Durchaus
denkbar, dass es in UK bald so viele Kameras wie Menschen gibt. Die
Technik ist bereits zum Großteil aus dem Bewusstsein der Leute
verschwunden, die Briten nehmen kaum noch Anstoß daran. Auch der
Widerstand dagegen hält sich sehr in Grenzen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges waren viele Rüstungsfirmen auf der
Suche nach neuen Absatzmärkten. Gleichzeitig nahmen während der 1980er
Jahre die Probleme zu, Kriminalität wurde vermehrt ausgeübt. Keiner der
Politiker wusste so recht, was er dagegen tun soll. Zudem verbreitete
in den 1990ern die IRA in der Bevölkerung mit ihren Terroranschlägen
Angst und Schrecken. Die Antwort war schnell gefunden: die Kameras
mussten her. Auch wenn die Mittel für die Polizei gekürzt wurden, so
sollten die CCTVs (Closed Circuit Televisions) für Abhilfe sorgen. Für
zahlreiche Städte und Gemeinden wurden Wettbewerbe ausgeschrieben, die
Anschaffung finanziell unterstützt. Das Wettrüsten begann, die Spirale
dreht sich bis heute weiter. Und dies auch, obwohl einige Studien
bewiesen haben, dass die Verbrechensbekämpfung mithilfe der
Kameraüberwachung so gut wie nicht funktioniert. Wenn die
Nachbargemeinde diese Geräte hat, brauchen wir das auch. Gebühren
wurden erhöht, Gelder beschafft. Die IRA hat sich mittlerweile
aufgelöst, die Kriminalität blieb, die Kameras auch. Bei
Selbstmordkommandos internationaler Terrororganisationen sind die
Bilder der Kameras zudem nutzlos, die Täter können ruhig erkannt,
überführt werden. Sie werden ihre Tat sowieso nicht lebend überstehen,
das wollen sie auch gar nicht. Videoüberwachung konnte die Anschläge
vor 13 Jahren nicht verhindern.

Reicht die symbolische Wirkung wirklich aus um derart viele Gelder
in die Technik anstatt in die Gehälter zusätzlicher Polizisten zu
investieren? Überfälle, Ladendiebstähle passieren damals wie heute. Der
Film war ein Teil der Magisterarbeit an der Fachhochschule Salzburg,
die theoretische Ausarbeitung dringt noch weitaus tiefer in die Materie
ein. Nino Leitner führte Gespräche mit dem stellvertretenden Chef der
Polizeieinheit, die in England für den öffentlichen Verkehr zuständig
ist, mit Paul Smith, einem der Gründer der Safe Speed Campaign. Im Film
kommen auch Professor Clive Norris von der Universität Sheffield, der
Juraprofessor Lars Mossesson, der Aktivist Barry Hugill, James Morris
vom Digital-TV-Projekt und viele andere Personen zu Wort.

Der Autor selbst lebte für einige Monate im Vereinigten Königreich.
Er fand die ständige Bewachung durch die zahlreichen elektronischen
Brüder befremdlich. Noch mehr verwunderte ihn die Tatsache, dass sich
deswegen keiner auflehnt. Die Überwachungsmaschinerie ist mittlerweile
vollständig in die Gesellschaft integriert, nach Nutzen und Kosten
fragen nur wenige Kritiker des Systems. Während seines
Auslandssemesters im Jahr 2004 kam er auf die Idee der Sache auf den
Grund zu gehen. Ihm und spanischen Studienkollegen war die Präsenz der
Geräte sofort ins Auge gefallen. Nachdem in seinem Heimatland
Österreich die ersten Kameras im Bereich der beliebten Ausflugsziele
der Touristen installiert wurden, kam er aufs Thema zurück und schloss
den Film mit einem weiteren Aufenthalt in Großbritannien ab. Die DVD
enthält neben den englischen Dialogen auch die deutschen Untertitel.
Zudem findet sich dort der Mitschnitt einer Podiumsdiskussion, eine
Aufbereitung des Themas von Langenscheidt in Form von HTML-Dateien, 
die Magisterarbeit in deutscher Sprache und umfangreiches
Pressematerial. Auf der Website von Nino Leitner wird "Every step you take" inklusive aller Versandkosten für rund 20 Euro angeboten.

Am Ende des Interviews verbirgt sich aber noch ein Preisrätsel! Wir
verlosen fünf DVDs, die wir netterweise von Nino Leiter gestellt
bekommen haben. Wer sich auch nur annährend für dieses Thema
interessiert, dem sei gesagt: das Geld ist gut angelegt. Viel mehr kann
man der Thematik wirklich nicht entlocken, was auch die zahlreichen
Auszeichnungen auf diversen Filmfestspielen erklärt. Weitere
Informationen zum Film finden sich auf der Website  des Autors.

Lars
Sobiraj: Die Anfangsszene aus deinem Film – soll uns die eine mögliche
Zukunft aufzeigen. Oder soll uns die Geschichte mit dem Mädchen, das
nicht schlafen darf, aufrütteln?

Nino Leitner: Ja und nein – sie soll aufzeigen, wie die Realität und
die Fiktion auch in unseren Leben tagtäglich immer weiter verschmelzen,
und wie das vor allem auch Technologien wie CCTV fördern. Es handelt
sich um einen nachgestellten Ausschnitt einer Folge aus der
Reality-TV-Serie "Big Brother". Die Art und Weise, wie das Mädchen
gemaßregelt wird, weil es sich schlichtweg der Order, nicht schlafen
gehen zu dürfen, nicht nachkommen kann, ist schon erschreckend.
Natürlich wurde das bis zu einem gewissen Maß inszeniert und fand ja
"nur" im Fernsehen statt. Trotzdem finde ich, dass mit dem Einzug von
solchen Serien in den medialen Mainstream auch die Bereitschaft der
Bevölkerung, sich solchen Überwachungsmaßnahmen auszusetzen stark
erhöht hat. Das ist bedenklich.

Lars Sobiraj: In Großbritannien kommt schätzungsweise eine
Überwachungskamera auf zirka 14 Personen. Mindestens 4,2 Millionen
Stück überwachen jeden Briten auf Schritt und Tritt. Auf ihrem Weg zur
Arbeit werden sie täglich rund 300 Mal am Tag gefilmt. Wie kommt es
dazu, dass niemand dort Anstoß daran nimmt? Liegt es daran, weil viele
so Passenten die schwarzen Kästen nicht als Kameras identifizieren?
Eine
Registrierungspflicht wie hier in Deutschland wäre dort schwer
umzusetzen, was macht für die dortigen Bürger den Unterschied aus?

Nino Leitner: In meinen umfangreichen Recherchen zum Film und zur schriftlichen Diplomarbeit (die es übrigens kostenlos auf www.EveryStepYouTake.org
zum Download gibt) habe ich mir diese Frage auch immer wieder gestellt.
Das Verhalten der britischen Öffentlichkeit in Bezug auf
Überwachungsmaßnahmen ist massivst widersprüchlich, und ich bin
überzeugt, dass das an der Art und Weise liegt, wie die britische
Öffentlichkeit durch die Medien informiert wird.

Ein Beispiel: Die Briten scheinen zwar mehrheitlich für den Einsatz
der Videoüberwachung zu sein, andererseits gibt es ganz massiven
Widerstand gegen die Einführung von ID-Cards, also Personalausweisen.
Hier in Deutschland und Österreich können wir darüber nur lachen, weil
es bei uns schon sehr lange eine Ausweispflicht gibt. Das ist in
Großbritannien nicht so, und die Menschen dort sehen gerade das als
massiven Einbruch in ihre Privatsphäre. Sie wollen niemandem – auch
nicht der Polizei – die Macht geben, ihre Identität ohne ihr
Einverständnis in der Öffentlichkeit feststellen zu können. Hier sieht
man also einen ganz krassen Gegensatz, weil die Videoüberwachung von
der Bevölkerung größtenteils gar nicht als Überwachungsmaßnahme,
sondern mehr als Schutz angesehen wird.

Das wiederum halte ich wie schon erwähnt für ein Phänomen, das von
den Medien ausgelöst wurde. Die Videoüberwachung hat ja den
unglaublichen politischen Vorteil, dass man vor ihr fast immer nur
etwas hört bzw. sieht, wenn ein "Verbrechen" oder Ähnliches
aufgezeichnet wurde. All die Ereignisse, die in Millionen von Stunden
tagtäglich umsonst aufgezeichnet werden, sind irrelevant und werden
natürlich nicht medial weitervermittelt. Dasselbe gilt für Bilder, die
missbraucht werden – da es keine Kontrolle der Überwacher in England
gibt, erfährt man in den allerseltensten Fällen von Missbrauch. Aber
die in unscharfen Bildern aufgezeichneten Verbrechen, zum Beispiel
Überfälle in Geschäften, werden tagtäglich in den lokalen Printmedien
und speziellen TV-Sendungen "vermarktet": Man fragt z. B. die
Bevölkerung, ob sie eine auf einem Standbild abgebildete, maskierte
Person erkennen oder ob sie Hinweise auf dieses Verbrechen geben
können. Das macht gute Headlines, ist scheinbar hocheffizient (obwohl
die Bilder meist nutzlos sind) und vermittelt in seiner ständigen
Wiederholung natürlich ein "gutes" Bild der Technologie, sodass die
Leute es eher als Schutzmaßnahme sehen als das, was es in Wahrheit ist:
ein Einschnitt in ihre Privatsphäre oder – wahrscheinlich noch viel
bedenklicher – eine höchst ineffiziente Verbrechensbekämpfungsmethode
für den öffentlichen Raum (was auch durch zahllose Studien immer wieder
belegt wurde).

Die
Medien selbst haben also großes Eigeninteresse daran, diese Bilder zu
zeigen, um ihre Auflagenzahlen / Quoten zu steigern, und schaffen so
ein überaus positives Bild der Technologie in der Öffentlichkeit. Man
darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass in den
britischen Medien ganz massiv die "Yellow Press", also die
Boulevardblätter, den Ton angeben, und für die verkaufen sich vor allem
durch reißerische Titelseiten und Headlines – wie die "Bild" in
Deutschland. Nur kommt erschwerend hinzu, dass sogar die
"Qualitätsmedien" im Vereinigten Königreich zu großen Teilen politisch
rechts stehen, in der Mehrzahl unter der Kontrolle von Rupert Murdoch.
Was man von diesen Medien vor allem seit dem 11. September 2001
erwarten kann, wissen wir alle.

Ausgelöst wurde diese massive mediale Stimmung zugunsten der
Videoüberwachung aber eigentlich schon viel früher, und zwar im Jahre
1993. In England wurde damals ein dreijähriger Junge von zwei
Zehnjährigen aus einem Einkaufszentrum entführt, stundenlang grausam
gefoltert und schließlich durch Schläge mit Ziegelsteinen und Tritten
getötet. Dieser Junge, Jamie Bulger, und seine beiden Mörder wurden
beim Verlassen des Einkaufszentrums von einer privaten
Videoüberwachungskamera erfasst. Eines dieser unscharfen Standbilder,
auf denen man nur Silhouetten der Drei erkennen kann, war monatelang
ständig in den Medien. Der Fall führte zu großen Diskussionen über den
Status der Jugend etc., und im Jahr darauf konnte der Innenminister der
konservativen Regierung ohne Widerstand der Opposition ein großes
Förderprogramm für Videoüberwachung im öffentlichen Raum einführen,
ohne Beweise zur Effizienz der Technologie zu haben. Obwohl
ironischerweise die Bilder der Überwachungskamera das Verbrechen nicht
verhindert hatten, wurde die Videoüberwachung im öffentlichen Raum mit
dem Ziel der "präventiven Verbrechensbekämpfung" eingeführt.

Dieser Widerspruch wiederholt sich auch in aktuelleren Ereignissen
immer wieder: Auch bei den London Bombings im Juli 2005 konnten die
Überwachungskameras die Selbstmordattentäter natürlich nicht daran
hindern, ihre Taten zu begehen, und dennoch reagierte man mit einem
lauten Ruf nach mehr Videoüberwachung. Das gleiche ist 2006 auch in
Deutschland passiert, wo zwei potenzielle Terroristen sich mit
Kofferbomben in Zügen in die Luft sprengen wollten und am Bahnsteig von
Kameras gefilmt wurden. Auch hier wieder der völlig irrationale Ruf
nach noch mehr Videoüberwachung – obwohl die Bombenattentate ja nicht
durch die Kameras verhindert wurden, sondern nur dadurch, dass die
beiden glücklicherweise einfach zu blöd waren, funktionierende Bomben
zu bauen.

Alles in allem glaube ich also, dass der Unterschied zwischen
Großbritannien und Deutschland vor allem in der medialen Vermittlung
der Technologie liegt. Und glücklicherweise gibt es gerade in
Deutschland einen sehr lebendigen kritischen Widerspruch von breiteren
Bevölkerungsgruppen zu tendenziell Demokratie gefährdenden Maßnahmen
aller Art. Ich habe bei den vielen Publikumsdiskussionen nach
Vorführungen meines Films in Deutschland gemerkt, dass man sich hier
vieles nicht so leicht gefallen lassen will, wie das in anderen Staaten
weltweit schon längst der Fall ist. Leider auch in Österreich ist der
Widerstand nicht so massiv wie in Deutschland.

Lars
Sobiraj: Finden die Leute es normal, wenn sie die anderen Mitbewohner
eines Ortes z. B. im "Verbrechenskanal" von Shoreditch TV beobachten
können? Jetzt überwacht nicht nur der Big Brother, sondern auch der
Nachbar von nebenan schaut, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Was
kommt als Nächstes?

Nino Leitner: Ich denke und hoffe, dass es sich bei diesem Beispiel
noch um eine Ausnahme handelt. Man muss bei aller Kritik sagen, dass es
ja glücklicherweise (zumindest noch) nicht möglich ist, mit dem System
Gesichter wirklich erkennen zu können. Aber das könnte sich schnell
ändern. Ich denke, das war eher ein Marketinggag als irgendetwas
anderes, der aber eher nach hinten losgegangen ist: Die
Berichterstattung war weltweit sehr negativ.

Aber: Die Linksammlungen zu ungeschützt und unwissentlich in die
ganze Welt übertragenden Überwachungskameras, die wir schon jetzt im
Internet finden, werden täglich umfangreicher. Vor allem aber
Mustererkennungssysteme wie Kennzeichenerkennung und Gesichtserkennung
werden Einschnitte in unsere Lebenssphäre nach sich ziehen, wie wir es
bisher nicht kannten.

Die generelle Gefahr sehe ich derzeit aber vor allem in der
zunehmenden Art und Weise, wie persönliche Daten von Menschen im
Allgemeinen immer mehr zentralisiert und in Datenbanken angeordnet
werden, und zwar unter dem Deckmantel der "Sicherheit". Es liegt aber
natürlich im Interesse des Staates und der großen Konzerne, den Bürger
"durchsichtig" zu machen und schlussendlich auch Druckmittel gegen ihn
in der Hand zu haben. Das hat nichts mit irgendeiner linken Propaganda
zu tun, sondern ist eine Tatsache. Wir müssen aufpassen, dass wir uns
nicht leichtfertig die demokratischen Rechte Stück für Stück wegnehmen
lassen, für die viele Generationen vor uns jahrhundertelang gekämpft
haben. Denn wir wissen alle: Etwas zu zerstören geht viel schneller und
leichter als etwas zu erschaffen. Ich hoffe, dass speziell in
Deutschland und Österreich aufgrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts
hier schneller die Alarmglocken schrillen als in anderen Staaten, die
vor Totalitarismus in jüngerer Vergangenheit verschont geblieben sind.
Dennoch heißt es, immer auf der Hut zu sein – vor allem vor denen, die
am lautesten nach mehr Sicherheit schreien.

Lars Sobiraj: Wie schwer ist es wirklich an die
Softwarecodes der Digitalkameras zu kommen? Kann man auf diese wirklich
so einfach über Suchanfragen bei einem der Suchmaschinen zugreifen oder
wie viel technisches Verständnis ist dafür erforderlich?

Nino Leitner: Das ist erschreckend einfach. Man muss im Prinzip nur
einen Teil einer URL googlen, unter der Steuerungssoftware für einen
bestimmten Typen von Überwachungskameras zu finden ist. Dann kopiert
man diese URL meist in einen Medienplayer wie VLC und lässt sich das
Video live streamen. Klingt komplizierter als es ist. Hier finden sich
Anleitungen und jede Menge solcher Beispiel-URLs: pinoyconsole.com/hacking/how-to-hack-into-security-cameras-in-google/

defeatingthehacker.com/videoham/

Lars
Sobiraj: Ihr habt euch testweise selber per CCTV filmen lassen, das
entsprechende Material war aber in der Zwischenzeit schon überspielt
worden. Passiert dies häufiger? Hattet ihr Probleme, per
Datenschutzgesetz an geeignetes Bildmaterial für den Film zu gelangen?

Nino Leitner: Ich vermute, dass das sehr häufig
passiert. Ohne einen Anwalt hat man kaum eine Chance, die Betreiber
dazu zu zwingen, das Material rauszurücken – obwohl sie alle es laut
Gesetz müssen, wenn man es anfordert. Rechtsdurchsetzung ist eine
andere Sache als grundsätzlich im Recht zu sein. Man muss bedenken,
dass es für die Betreiber extrem teuer und aufwendig ist, das Material
zu durchsuchen. Ich glaube, dass sie sich mit solchen Ausreden (wie
z. B., dass das Material bereits überspielt wurde) vor einem Ansturm an
Anfragen schützen wollen. Eigentlich muss auch jeder
Otto-Normal-Würstelbudenbetreiber das Material seiner privaten
Überwachungskamera rausrücken, wenn man einen Antrag stellt.

Lars Sobiraj: Wie gut hat die Zusammenarbeit mit der Polizei
funktioniert? Die mussten doch befürchten, dass du kritisch über dieses
Thema berichten wirst.

Nino Leitner: Naja, es kommt immer drauf an, wie
man an die Leute herantritt. Es ist meiner Ansicht nach wichtig,
Interviews lange genug anzulegen, damit das Gegenüber auch irgendwann
mit der persönlichen Meinung bzw. geglaubten Wahrheit rausrückt, und
sich nicht ewig in PR-Getöse erschöpft. Das gilt aber grundsätzlich für
alle Interviewpartner, ist aber schlussendlich eine Zeitfrage und
bedarf in der Dramaturgie der Fragenstellung eine ausgeklügelte Taktik.
Aber wenn man überhaupt schon mal so weit kommt, ein Interview machen
zu dürfen, ist das Interview an sich aus meiner Sicht nur noch
"abzuarbeiten". Schlussendlich hat jeder etwas Interessantes zu sagen,
wenn man seine Interviewpartner im Vorfeld gut genug recherchiert hat.
Schwierig war es, überhaupt einen Interviewtermin mit einem hohen
Vertreter der Polizei zu bekommen. Sobald wir dort waren, hat sich
unser Gesprächspartner als überaus kooperativ, ehrlich und angenehm
herausgestellt und kaum kontroversielle Fragen gescheut.

Lars Sobiraj: Millionen CCTVs können offensichtlich nur sehr
wenige Verbrechen und auch keinen Terrorismus verhindern. Welche
Maßnahmen schweben dir denn alternativ vor, die du für effizienter
hältst?

Nino Leitner: Studien sprechen in Bezug auf Verbrechen eine
eindeutige Sprache: Effizienter wären ganz einfach mehr Polizisten auf
Patrouille, aber das scheint aus Kostengründen europaweit
zurückzugehen. Eine ganz einfache und billige Alternative klingt banal,
ist aber äußerst effizient: Mehr und bessere Beleuchtung im
öffentlichen Raum. Die meisten Verbrechen finden auf dunklen Straßen
oder in Parks statt, da verhindern die Videoüberwachungskameras genauso
wenig wie anderswo. Die Verbrecher fühlen sich in der Dunkelheit
geschützt, selbst wenn die Videoüberwachungskameras in der Nacht alle
im Infrarot-Modus mitfilmen. Helligkeit vertreibt potenzielle Diebe und
Vergewaltigungstäter nachweislich. Dennoch sieht man gerade in England
sehr oft dunkle Ecken, in denen immer wieder etwas passiert. Und auf
die Kamera-Idee kommen die Medien und Politiker seltsamerweise immer
schneller als auf Straßenlaternen.

Lars
Sobiraj: Die lückenlose PKW-Überwachung mit automatischer
Kennzeichenerkennung (ANPR) wird dort ja schon länger angewendet. Wo
sind da derzeit die Grenzen des technisch Möglichen – kann eine solche
Technik schon heute erkennen, ob jemand mit dem Handy telefoniert oder
überholt,
wo er es nicht darf? Wenn nein, wie lange könnte es dauern, bis es dazu
kommt? Bewegungsmuster der einzelnen Autos sind aber doch sicherlich
möglich. Warum gibt es bei der sehr geringen Aufklärungsrate von
Verbrechen dagegen keinen Protest?

Nino Leitner: Ich war selbst erstaunt, was da technisch schon
möglich ist. Da es sich bei Fahrzeugen und Nummerntafeln um technisch
standardisierte Formen handelt, ist es bereits jetzt ganz leicht, hier
Muster zu erkennen – seien es die Muster der Kennzeichen selbst oder
die Art und Weise, wie sich Autos bewegen. Das wird ja auch bei uns in
verschiedenen Formen schon angewandt, in Österreich z. B. in Form der
"Section Control", wo ein Tempolimit nicht punktuell, sondern als
Durchschnittswert innerhalb eines bestimmten Streckenabschnitts
gemessen wird. Grundsätzlich ist es auch möglich, zu überprüfen, ob
Fahrer mit dem Handy telefonieren oder nicht – das z. B. in Verbindung
der Kamerabilder mit den Daten eines Mobilfunkbetreibers. Die Fantasie
einiger Gesetzgeber scheint in diesem Bereich derzeit keine Grenzen zu
kennen, obwohl sich auch hier die Zweckfrage stellt. Großbritannien hat
beispielsweise extra für die Aufzeichnung aller Bewegungsdaten aller
Fahrzeuge (die werden seit 2006 aufgezeichnet) eines der weltgrößten
Datencenter errichtet, dessen Datenbanken tagtäglich unzählige Terabyte
an Daten zu verarbeiten und speichern haben. Grundsätzlich wichtig zu
verstehen ist es, dass eine neue Funktion dieser Kameras inzwischen oft
nur noch ein Softwareupdate entfernt ist – im Gegensatz zu früher, in
Analog-Zeit, braucht man die Hardware nicht mehr notwendigerweise
austauschen, um die Funktionsweise zu verbessern. Wir bekommen also
vielleicht gar nicht mit. Deshalb könnten die Regierungen auch
plötzlich bei uns entscheiden, dass jetzt auch alle PKW-Fahrten auf den
Autobahnen aufgezeichnet werden. Die Infrastruktur wäre bereits
vorhanden. Protest gibt es wahrscheinlich deshalb keinen, weil sich die
Leute wieder mal nicht der Gefahren bewusst sind. Die abstrakte Gefahr
des "Verlusts der Privatsphäre" oder der Bürgerrechte scheint den
Leuten zu wenig nahe zu gehen, um massenweise auf die Straße zu gehen.
Auch und vor allem in Großbritannien. Unter dem in sich
widersprüchlichen Motto "Krieg gegen den Terrorismus" wird ja schon
seit Jahren alles verkauft, was man den Leuten schon lange unterjubeln
wollte aber vorher nicht so leicht konnte. Nur die Naivsten werden wohl
glauben, dass Staaten zig Milliarden Euro an Mitteln in die Hand
nehmen, nur um möglicherweise irgendwann irgendwelche Terroristen
ausforschen zu können. Dass Terroristen nicht mit selbst angemeldeten
Autos herumfahren, sollte ja wohl auch dem dümmsten Politiker klar
sein.

Lars Sobiraj: Jetzt sind wir in Deutschland oder Österreich
nicht ganz so obrigkeitstreu wie auf der Insel. Trotzdem steigt auch
hier die Zahl der
Kameras langsam aber stetig an. Was
muss passieren, damit dieser Trend aufgehalten werden kann? Befürchtest
du hier auch öffentliche Ausschreibungen, die die Installation von
Kameras finanziell unterstützen? Wie siehst du die Zukunft: in
Deutschland wie auch in UK und auch in deinem Heimatland Österreich?

Nino
Leitner: Ich glaube sehr wohl, dass wir in Österreich – und in
Deutschland wird es nicht viel anders sein – ziemlich obrigkeitstreu
sind. In Österreich gibt es gegen die gefährlichsten politischen
Vorstöße oft keine Proteste: So kann die Polizei z. B. seit Anfang des
Jahres ohne jeglichen richterlichen Beschluss Telefon- und
Internetkommunikationsdaten von beliebigen Bürgern bei Verdachtsfällen
von den Providern anfordern. Das widerspricht jeglicher Vernunft, und
hat sogar schon die Provider zu Klagen veranlasst, weil das schon
alleine von technischer Seite ein Wahnsinn ist – geschweige denn,
welches Missbrauchspotential das birgt. Die Anfragen sind jedenfalls
seit Inkrafttreten des Gesetzes massiv in die Höhe geschnellt. Trotzdem
gab es nur sehr eingeschränkte Proteste, wirklich etwas dagegen getan
haben nur die Grünen. Deren Petition gegen den Überwachungsstaat wurde
von 25.000 Bürgerinnen und Bürgern unterschrieben, und letzte Woche im
Nationalrat trotzdem einfach abgeschmettert. Jetzt bleibt eigentlich
nur noch, auf den Verfassungsgerichtshof zu hoffen – doch das dauert.

Trotzdem glaube ich, dass es in Bezug auf Kameras im Speziellen hier
nicht so weit wie in Großbritannien kommen wird, schon alleine aus
finanziellen Gründen. Bei uns ist, wie schon erwähnt, die öffentliche
Stimmung in Bezug auf Videoüberwachung doch etwas kritischer (auch wenn
man sich sonst wie gerade gesagt vieles gefallen lässt), bzw. gibt es
auch viele Politiker, die daran keinen großen Gefallen finden. Die Zahl
der Kameras steigt an, kann aber wegen der anderen
Organisationsstrukturen nie die Zahl der Kameras in Großbritannien
erreichen. Aber auch bei uns wird jeder Anlassfall für die
Rechtfertigung noch restriktiverer Überwachung benutzt. So lasse ich
mir beispielsweise ja noch einreden, dass man in den Fanmeilen während
der Fußball-EM in Österreich mehr Kameras aufgebaut hat, aber warum
etwa 100 davon alleine in Wien auch nach der EM bleiben sollen, ist mir
ein Rätsel. Es wirkt schon so, als ob man durch die Hintertür alle
möglichen Dinge einzuführen versucht, die eine totale Überwachung dann
doch irgendwie möglich machen soll. In Deutschland ist das ja kaum
anders. In Großbritannien schaut die Zukunft düsterer aus wie eh und
je: Die immer noch ziemlich bedingungslose Zusammenarbeit der
Brown-Regierung mit den USA bringt immer neue Regelungen wie das gerade
ganz aktuelle und umstrittene Anti-Terror-Gesetz, das den Behörden
wieder mehr Macht gibt, Leute noch länger ohne Anklage festhalten zu
können.

Ganz allgemein hoffe ich natürlich auf ein Umdenken: Irgendwann
müssen sich alle Regierungen eingestehen, dass all die Gesetze und
Regeln eher zu mehr Kriminalität und Terror geführt haben, als es ohne
sie der Fall gewesen wäre. Schließlich freut sich ja beispielsweise ein
Selbstmordattentäter, wenn er von einer Kamera bei seiner Tat gefilmt
wird, weil er so zum Märtyrer unter seinen Bewunderern und somit
unsterblich wird. (Das World Trade Center war ja kein Zufallsziel – es
wurde mit eingeplant, dass die Türme zu jeder Zeit von etlichen
Touristen gefilmt werden.) Und je mehr Massenüberwachungssysteme es
gibt, desto attraktiver erscheinen die Möglichkeiten für Kriminelle,
sich anderer Mittel der Kommunikation zu bedienen, denen man nicht
leicht nachforschen kann. Der täglich wachsende Berg an Datenmüll, der
durch Data-Mining und Überwachungsdatenbanken immer größer und größer
wird, ist schon jetzt auch für die beste Software undurchschaubar. Die
Geheimdienste ersticken daran, und sorgen so schon jetzt für mehr
Unsicherheit als je zuvor. Von der "Außenpolitik" der USA brauche ich
wohl gar nicht erst anzufangen.

Lars Sobiraj: Nino, vielen Dank für deine Antworten und dir
weiterhin viel Erfolg für dein Berufsleben! Deine eigene
Produktionsfirma ist ja erst vor ein paar Monaten angelaufen.

Preisfrage: Wer spielt die Darstellerin der Jade,
die in der ersten Szene des Films vom Big Brother geweckt und verwarnt
wird? Ein wenig die Suchmaschinen bedienen, sich auf der Website von
Nino Leitner umschauen, fertig! Wir verlosen fünf DVDs des Films und
wünschen viel Glück bei der Suche im Web! Die Antwort einfach an die
unten stehende E-Mail-Adresse schicken, wir melden uns dann und haken
wegen eurer Adresse nach. Die Mitarbeiter der gulli Redaktion sind von
diesem Preisausschreiben natürlich ausgeschlossen. Diese findet wie
immer ohne Pistole und Gewähr statt.

Source: http://www.gulli.com/news/nino-leitners-doku-every-step-2008-06-23/