[tarnac9.noblogs.org] Am
Morgen des 11. November 2008 fand die Ruhe im französischen Dorf Tarnac
ein jähes Ende. Beamte der Kriminalpolizei riegelten den kleinen Ort im
Département Corrèze im Zentralmassiv ab und durchsuchten einen
Bauernhof. Gleichzeitig fanden in Paris, Rouen, Limoges und Metz
Razzien statt. Insgesamt wurden zehn Personen aus Frankreich und
Belgien in Gewahrsam genommen. Die Mutter einer Inhaftierten wurde nach
drei Tagen ohne Anzeige entlassen, vier weitere kamen nach öffentlichem
Druck unter Auflagen frei.
Den vier Männern und fünf Frauen wirft die Staatsanwaltschaft vor, eine
"kriminelle Vereinigung mit terroristischen Zielen" gegründet zu haben.
Fünf Beschuldigten wird unterstellt, in der Nacht des Castortransports
vom 7. auf den 8. November Hakenkrallen in die Oberleitungen der
französischen Bahn SNCF gehängt zu haben. Tausende Reisende saßen auf
Bahnhöfen der prestigeträchtigen TGV- und Thalys-Linien fest. 170 Züge
hatten Verspätung.
Alle sind nach dem französischen Terrorismusparagrafen angeklagt. Er
ermöglicht, ähnlich wie der deutsche §129a, ein präventives Vorgehen
gegen "Personen, die in terroristische Aktivitäten verstrickt sind,
ohne eine Verbindung zwischen dieser Aktivität und einem präzisen
terroristischen Projekt beweisen zu müssen", so Jean-Louis Bruguière,
ehemaliger Vorsitzender Richter der "Anti-Terrorismus"-Abteilung.
Bereits der Besitz von "anarchistischer Literatur" oder
Rechtshilferatgebern wird zum Indiz. Verdächtig gelten den Behörden
auch Beziehungen zu Linksradikalen im Ausland. Polizei und Geheimdienst
arbeiten bei den Ermittlungen eng zusammen, beteiligt sind unter
anderem die "Anti-Terror-Abteilung" SDAT und der
Inlandsnachrichtendienst DCRI.
Am 2. Dezember wurden drei weitere Personen unter Auflagen entlassen.
In Haft bleiben Yldune L. und Julien C., dem vorgeworfen wird, Anführer
und "intellektueller Kopf" einer seit 2002 bestehenden "unsichtbaren
Zelle" zu sein. Kurz nach den Durchsuchungen tönte Innenministerin
Michèle Alliot-Marie, man habe diese Gruppe der "anarcho-autonomen
Bewegung" zerschlagen.
Auslandskontakte und Rechtshilferatgeber machen verdächtig
Laut einem an die Öffentlichkeit gelangten Polizeibericht sollen in
Tarnac mehrere internationale Treffen stattgefunden haben. Weiter wird
behauptet, Yldune L. und Julien C. hätten an einem Treffen der
"Anarchisten von Nordamerika" teilgenommen und im Januar 2008 die
"grüne Grenze" zwischen Kanada und den USA überquert. In einem
zurückgelassenen Rucksack habe das FBI "anarchistische Literatur" und
Fotos eines Rekrutierungsbüros der US-Army in New York gefunden, das
zwei Monate später Ziel eines Bombenanschlags wurde.
Obwohl das FBI selbst feststellt, dass sich beide zu dieser Zeit nicht
mehr in den USA aufhielten, wird ein Zusammenhang unterstellt.
Inzwischen räumt die Polizei ein, dafür keine Beweise zu haben und
präsentiert stattdessen "starke Indizien". Allerdings gibt es weder
ZeugInnen, noch übereinstimmende DNA-Analysen oder "verdächtige"
Telefongespräche. Angeblich beruhen die Festnahmen auf einer
Observation von Yldune L. und Julien C., die in der fraglichen Nacht an
Bahngleisen der SNCF beobachtet worden sein sollen. Außerdem soll ihr
Auto mit einem Peilsender überwacht worden sein.
Die politische Zielrichtung der Hakenkrallenaktionen ist indes unklar:
Wurden die Hakenkrallen anlässlich des Castortransports platziert oder
in Solidarität mit streikenden französischen BahnarbeiterInnen? In der
französischen Öffentlichkeit wird heftig diskutiert, ob das Anbringen
von Hakenkrallen überhaupt als "Terrorismus" verfolgt werden kann. Für
einige Bahngewerkschaften stellt solche Sabotage ein legitimes Mittel
im Arbeitskampf dar. Dies gilt ebenso für Teile der Anti-Atom-Bewegung.
Besagter Polizeibericht zumindest weiß von einer Anschlagserklärung,
eingegangen bei der Berliner Zeitung, die die Aktionen dieser Nacht in
Verbindung mit dem Castortransport bringt. Hakenkrallen, U-förmigen
Doppelhaken aus Metall, in Oberleitungen gehängt, werden von
Stromabnehmern der Loks mitgerissen und beschädigen die Leitungen
erheblich. In Deutschland kamen sie öfter zum Einsatz. Am 7. Oktober
1996 wurden z.B. an zwölf Orten Hakenkrallen in Oberleitungen gehängt,
am 25. Februar 1997 an acht Stellen in Norddeutschland.
"Autonome Gruppen" verschickten jeweils ausführliche Kommuniqués und
forderten den Ausstieg der Deutschen Bahn aus den Castortransporten.
Die Bundesanwaltschaft leitete §129a-Verfahren ein. Am 6. Juli 1999
folgten mehrere Durchsuchungen. Sang- und klanglos wurden die Verfahren
vier Jahre später eingestellt, nicht ohne beträchtliches Material über
linksradikale Zusammenhänge gesammelt zu haben. (vgl. ak 452) Deutsche
Polizeibehörden leisten nun im Fall Tarnac Amtshilfe. Obwohl die
Verfahren nach §129a eingestellt sind, wurden Namen der damals
Verdächtigen übermittelt und fanden Eingang in die Ermittlungen.
Solidarität – im Dorf, in Europa und weltweit
Inzwischen führte eine Dorfversammlung in Tarnac mit 200 Beteiligten
zur Gründung eines Solidaritätskomitees, das für die Freilassung der
Beschuldigten ein "rauschendes Dorffest" ankündigt. Eltern einiger
Betroffener kritisieren in einem Offenen Brief die Polizei.
AkademikerInnen fordern die Freilassung der Inhaftierten. In vielen
französischen Städten sowie in Barcelona, Berlin, Brüssel, Genf,
Moskau, New York und Portugal haben sich Unterstützungsgruppen
gebildet. Mit Farbe gefüllte Christbaumkugeln trafen das französische
Konsulat in Hamburg, in Zürich brannten "Luxuskarossen", auf die
Nachrichtenagentur AFP in Athen wurde ein Brandanschlag verübt.
Die Verhaftungen in Frankreich gelten dem Wiedererstarken eines
grenzüberschreitenden, antikapitalistischen Widerstands, der sich nicht
auf legale Mittel beschränkt. Das sollte nicht unwidersprochen bleiben.
Aloïs Casseur, Andrea Brigante
Weitere Informationen: http://tarnac9.noblogs.org.
erschienen im ak 534 vom 19.12.2008, http://www.akweb.de
Source: http://tarnac9.noblogs.org/post/2008/12/14/polizei-schiesst-in-den-busch