[german-foreign-policy.com] NS-Massenverbrechen mit hunderttausenden Ziviltoten sollen ungesühnt bleiben und durch einen "Rechtsfrieden" zugunsten des deutschen Staates belohnt werden. Dies ist der Tenor einer offiziellen Klageerhebung der Bundesrepublik Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Die Klage reichte Berlin in den letzten Dezembertagen ein, um sich jedweder Strafverfolgung wegen der Verbrechen seiner Vorgängerregierungen ("Deutsches Reich") zu entziehen. Ansprüche der Opfer und ihrer Nachkommen sollen endgültig unmöglich gemacht werden. In dem Klageverfahren beansprucht die BRD "Immunität" und rechnet die kriminellen Akte des Deutschen Reiches ihren regulären Hoheitsrechten zu. Wiedergutmachungsurteile zugunsten der Opfer dürften nicht vollstreckt werden, da sie "Deutschlands hoheitliche Immunität verletzen", heißt es in der Berliner Klageerhebung wörtlich. Die BRD betrachtet sich als unmittelbare Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches, dessen Erbe sie 1949 angetreten hat, leugnet aber ihre entsprechenden Verpflichtungen. Die jetzt geltend gemachte "hoheitliche Immunität" war in den Nürnberger Prozessen mit der Feststellung erledigt worden, dass das Deutsche Reich unvorstellbare Verbrechen gegen die Menschheit (crimes against humanity) begangen habe. Wesentliche Teile seiner staatlichen Organe handelten als kriminelle Vereinigungen, die Europa mit Mord und Terror überzogen.
Das Berliner Klageverfahren richtet sich gegen die Überlebenden und Opfernachkommen mehrerer Massaker, die von der Wehrmacht und den ihr zuarbeitenden Militärverbänden im Zweiten Weltkrieg verübt wurden. Eines dieser Massaker fand am 29. Juni 1944 in dem italienischen Bergdorf Civitella in Val di Chiana (Arezzo) statt. Wie aus einer britischen Untersuchung hervorgeht, haben deutsche Soldaten in Civitella und den Nachbargemeinden etwa 250 Zivilisten ermordet – aus Rache für den Tod von zwei betrunkenen Wehrmachtsangehörigen, die in einen Hinterhalt geraten waren. Über das Mordgeschehen berichtet Dino Tiezzi, einer der wenigen Überlebenden, die Deutschen hätten sämtliche Einwohner auf dem Kirchenvorplatz zusammengetrieben und selektiert. "Die Männer wurden sofort erschossen". Bürgermeister Gilberto Dindalini ergänzt, dass die Wehrmachts-"Täter selbst nach 50 Jahren nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Civitella ist nie Gerechtigkeit widerfahren."[1]
Mordeinheit
Die Mordeinheit gehörte der Fallschirm-Panzer-Division 1 "Hermann Göring" an. Sie war formal der Luftwaffe unterstellt, wurde aber in Heeresverbänden eingesetzt. Zahlreiche kriminelle Akte verübte die Division, die von dem Kriegsverbrecher Göring gegründet worden war, in Nordafrika und in den besetzten Ostgebieten, wo sie Platz für die Konzentrations- und Vernichtungslager erkämpfte. Teile der Division waren unter anderem an der Zerschlagung des Warschauer Aufstands beteiligt und sind für den Tod von rund 200.000 polnischen Zivilisten mitverantwortlich.
Rechtsfrieden
Gegen Forderungen der Mordopfer dieser Division sei die Bundesrepublik Deutschland "immun", behauptet jetzt die Berliner Regierung, die sich als Rechtsnachfolgerin des NS-Staates versteht. Die Behauptung soll Pfändungen deutschen Staatseigentums in Italien abweisen, das durch italienische Gerichtsbeschlüsse den Überlebenden zugesprochen wurde.[2] Nach Berliner Auffassung ist der "internationale Rechtsfrieden" nur durch die Löschung jedweden Opferanspruches herzustellen, da sich die Bundesrepublik ansonsten Milliardenklagen stellen müsste. Dies sei nicht hinnehmbar. Mit ähnlichen Schutzbehauptungen war die deutsche Diplomatie bereits gegen griechische Überlebende der NS-Okkupationsmassaker vorgegangen.[3] In der Logik dieser Vorbringungen müssen Verbrechen eines Unrechtsstaates nur genügend umfangreich sein, um Kompensationen an die Opfer zu vereiteln. Je unmenschlicher, brutaler und allgegenwärtiger ein Okkupant gegen die Zivilbevölkerung möglichst dicht besiedelter Gebiete vorgeht, desto sicherer soll er vor Strafverfolgung sein.
Gemeinsame Interessen
Die Berliner Anmaßungen, die eine implizite Aufforderung zu staatlichen Gewalttaten großen Ausmaßes darstellen oder solche Gewalttaten post festum belohnen, werden von der römischen Regierung mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen. Auf einem kürzlichen Treffen zwischen der deutschen Bundeskanzlerin Merkel und dem italienischen Premier Berlusconi kamen beide Seiten überein, dass die Klage in Den Haag im gemeinsamen Interesse liege.[4] Italien hofft, wegen der unter dem Mussolini-Regime begangenen Kriegsverbrechen in Griechenland, Libyen und Äthopien ebenfalls auf "Immunität" plädieren zu können, sollte der Gerichtshof die deutschen Verbrechen freistellen. Die Übereinstimmung zwischen Berlin und Rom gilt den Folgen eines Bündnisses ("Achse"), das Europa und die Welt in eine nie gesehene Katastrophe stürzte. Dabei starben über 50 Millionen Menschen. Gegen Forderungen der Opfer seien sie "immun", erklären die Nachfahren der Täter im siebzigsten Jahr nach Kriegsbeginn.
[1] Hans-Rüdiger Minow: Herrenpartie. Eine italienische Reise, WDR. die story 2001
[2] s. dazu Ein immuner Staat und Totalabwehr
[3] s. dazu Berlin: Keine Reparationen und Berlin: Keine materielle Entschädigungspflicht für NS-Verbrechen
[4] Streit um Wehrmacht-Massaker vor dem Weltgericht; tz-online.de 28.12.2008