Abgestufte Aufstandsbekämpfung

[german-foreign-policy.com] Zur Bekämpfung von Protest- und Widerstandsbewegungen in den Operationsgebieten des deutschen Militärs plant Berlin den Einsatz angeblich nicht-tödlicher Waffen. Für die Entwicklung von Schall- und Mikrowellenkanonen oder Elektroschockpistolen ("Taser"), die auch gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden sollen, stehen Millionensummen zur Verfügung. Die Waffen, die zum Teil bereits angewandt werden und in den USA zahlreiche Todesopfer gefordert haben, sind Gegenstand einer Konferenz internationaler Experten für Aufstandsbekämpfung ("Crowd and Riot Control/CRC") in diesem Frühjahr. Die Organisation der Veranstaltung liegt ebenso wie die Koordination der Forschungsaktivitäten beim staatlichen Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT). Enge Verbindungen bestehen zur "Wehrtechnischen Dienststelle für Schutz- und Sondertechnik" (WTD 52) der Bundeswehr, die die Erforschung und Erprobung sogenannter nicht-letaler Wirkmittel zu ihren "Kernkompetenzen" zählt. Um welche Waffen es sich im einzelnen handelt und über welche Bestände die deutschen Streitkräfte verfügen, unterliegt der Geheimhaltung.

Wirkmittel
Für die Zeit vom 11. bis 13. Mai kündigt das im badischen Pfinztal ansässige staatliche Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT) sein mittlerweile fünftes "Europäisches Symposium über nicht-tödliche Waffen" in Ettlingen (Baden-Württemberg) an. Die Podien der Veranstaltung sind mit ausgewiesenen Experten für Aufstandsbekämpfung besetzt, darunter Teilnehmer aus der Bundesrepublik und weiteren Staaten der Europäischen Union, aus Russland und den USA sowie aus dem neutralen Österreich und der Schweiz. Eine zentrale Fragestellung wird sein, inwieweit die Anwendung sogenannter nicht-letaler Wirkmittel (NLW) zur Niederschlagung von Protesten und Demonstrationen ("CRC-Missions") für das Militär bei Gewaltoperationen im Ausland ("Out-Of-Area Operations") in Betracht kommt. Auch der Einsatz solcher Waffen zum Schutz von Handelsschiffen gegen Piraten und „Terroristen“ soll diskutiert werden ("Protection for merchant vessels against terrorism, piracy and armed robbery").[1]

50.000 Volt
Als einer der ersten Veranstaltungsredner angekündigt ist der deutsche Waffeningenieur Franz Wolf, ein Mitarbeiter der "Wehrtechnischen Dienststelle für Schutz- und Sondertechnik" (WTD 52) des deutschen Militärs in Schneizlreuth (Bayern). Die 1957 gegründete Einrichtung des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung zählt die "Entwicklung und Untersuchung von NLW für die Bundeswehr" zu ihren "Kernkompetenzen" und bezeichnet sich selbst als "federführend" auf diesem Gebiet.[2] Wolfs Thema ist der Einsatz sogenannter Taser. Dabei handelt es sich um Elektroschockpistolen, die 13 Millimeter lange und mit Widerhaken versehene Pfeile verschießen; diese können feste Lederkleidung von bis zu zweieinhalb Zentimeter Dicke durchbohren und dringen in die menschliche Haut ein. An den Pfeilen sind Kabel befestigt, über die der Getroffene mit Stromschlägen von 50.000 Volt traktiert wird – seine Muskulatur verkrampft sich, er fällt zu Boden und ist für einige Sekunden komplett gelähmt.

Zahlreiche Tote
Mittlerweile sind Bundeswehr, Bundespolizei und die "Sondereinsatzkommandos" (SEK) der Landespolizeidienststellen mit "Tasern" ausgerüstet. Über deren Einsatz allerdings ist nichts bekannt – anders in den USA: Für die Zeit von 2001 bis 2004 hat Amnesty International 74 Ereignisse in den Vereinigten Staaten dokumentiert, bei denen Menschen mit einem "Taser" beschossen wurden und kurz darauf an den Folgen der Verletzungen gestorben sind. Allein für 2005 kommt die Menschenrechtsorganisation auf 61 Tote durch "Taser"-Angriffe der staatlichen Repressionskräfte.[3]

Krieg in den Städten
Über die "Anforderungen" des Militärs an den Einsatz und die Wirksamkeit angeblich nicht-letaler Waffen wird anlässlich der Konferenz des Fraunhofer-Instituts der Deutsche Jörg Hoogeveen sprechen. Hoogeveen ist Referent des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) im Führungsstab des Heeres und befasst sich mit "Operationen in urbanem Umfeld", die er als "besondere Herausforderung" für die deutschen Streitkräfte versteht. Seiner Auffassung nach werden sich die Interventionskriege der Zukunft primär in städtischen Zentren abspielen, den "Lebensadern einer Gesellschaft".[4] Um eine Beschädigung oder Zerstörung der dort konzentrierten Infrastruktur im Rahmen der Aufstandsbekämpfung zu vermeiden, gewinnt der Einsatz von NLW für die Bundeswehr zunehmend an Bedeutung.

Gegen die Zivilbevölkerung
Als Gast des Fraunhofer-Symposiums ist auch der vormalige Ministerialdirigent im BMVg, Friedhelm Krüger-Sprengel, angekündigt. Dem Militärjuristen zufolge eröffnet der Einsatz von NLW deutschen Soldaten und Polizisten bei ihren Auslandsoperationen ein "erweitertes Handlungsspektrum": "Die können die Auffassung und ihre Aufgaben auch bei einer widerstrebenden Bevölkerung durchsetzen, ohne sofort auf tödliche Waffen zurückzugreifen." Krüger-Sprengel geht es insbesondere darum, international eine "gewisse rechtliche Verbindlichkeit" in Bezug auf die Anwendung von NLW zu etablieren.[5] Dieses Ziel korrespondiert mit der erklärten Absicht der Konferenzorganisatoren, für die "Akzeptanz" von NLW in der Öffentlichkeit zu werben.

Umweltmedizin
Bei der Tagung wird außerdem die deutsche Rüstungsindustrie prominent vertreten sein. Angekündigt ist ein Bericht von Vertretern der Diehl BGT Defence über eine neuartige Waffe, die durch elektromagnetische Felder den neuromuskulären Bewegungsapparat des Opfers hemmt ("Electro-Magnetic Neuromuscular Movement Inhibitor/ENEMI"). Als neuromuskuläre Bewegungsstörungen werden schwere und in der Regel tödlich endende Krankheiten wie Multiple Sklerose oder das Parkinson-Syndrom bezeichnet. Gemeinsam mit dem "Zentrum für Elektropathologie und Umweltmedizin" (ZEPU) in Witten (Nordrhein-Westfalen), das an dem Projekt beteiligt ist, untersucht Diehl bereits "Wirksamkeit und Einsatztauglichkeit" sogenannter Liquid Taser, die keine Drähte, sondern stromleitende Flüssigkeiten verschießen. Während Diehl für die technischen Forschungen zuständig ist, befasst sich das ZEPU mit den Gesundheitsgefahren und dem "Mortalitätsrisiko" auf Seiten der Opfer. Allein die Gesamtkosten der Weiterentwicklung des herkömmlichen "Tasers" betragen laut BMVg rund 315.000 Euro.[6]

Verschlusssache
Die "Wehrtechnische Dienststelle für Schutz- und Sondertechnik" (WTD 52) der Bundeswehr begann im Jahr 2000 mit der Erforschung und Erprobung sogenannter nicht-tödlicher Waffen. Seither werden Nachfragen von Journalisten zum Einsatz von NLW durch Militär und Repressionsbehörden kategorisch zurückgewiesen – für Berlin ist das Thema "Verschlusssache".


[1] 5th European Symposium on Non-Lethal Weapons. May 11 – 13, 2009. Stadthalle Ettlingen, Germany; www.non-lethal-weapons.com
[2] WTD 52 – Kernkompetenzen; www.bwb.org
[3] Sanfte Waffen für harte Zeiten – Von Elektro-Tasern und Schallkanonen; Deutschlandfunk 02.10.2007
[4] Jörg Hoogeveen: Operationen in urbanem Umfeld: besondere Herausforderung für Landstreitkräfte; Europäische Sicherheit 8/2007
[5] Sanfte Waffen für harte Zeiten – Von Elektro-Tasern und Schallkanonen; Deutschlandfunk 02.10.2007
[6] Frank Brendle: Aufstandsbekämpfung wird elektrifiziert; Junge Welt 19.02.2009

Source: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57490