Rezession und Repression

Matthias Monroy und Hanne Jobst

[heise.de] Während die gegenwärtige Wirtschaftskrise sich weltweit vertieft, bereiten sich europäische Sicherheitsbehörden auf Unruhen vor
Mit den jüngsten Unruhen in Griechenland, Island, Schweden,
Litauen, Lettland, Bulgarien, Frankreich, Guadeloupe, La Réunion, aber
auch den migrantischen Kämpfen in den Flüchtlingslagern von Malta und
Lampedusa, ist Europa unmittelbarer Austragungsort heftiger
Auseinandersetzungen geworden. Die Kämpfe erinnern an die Aufstände der
80er Jahre gegen den Internationalen Währungsfonds IWF in
Lateinamerika.

Unter Einsatz von Steinen, Eiern, Schneebällen, Flaschen, Rauchbomben,
dem Zerstören von Fensterscheiben, Umstürzen und Inbrandsetzen von
Fahrzeugen sowie massiven Sachbeschädigungen üben Demonstranten Druck
auf Regierungen aus. In Griechenland und La Réunion wurde auf
Polizisten geschossen, in Frankreich ein Manager von Arbeitern als Geiselgenommen. Die Polizei antwortet mit Tränengas, Gummigeschossen, Massenverhaftungen.

Allerorten ist eine Aufrüstung des Sicherheitsapparats zu beobachten, der von Polizeigewerkschaften und Medien publizistisch flankiert wird. Polizeien, etwa in Spanien, Polen und Bulgarien, gehen selbst auf die Straße um mehr Stellen, höhere Löhne und mehr Ausrüstung zu fordern.

Die Sicherheitsindustrie dürfte eine der wenigen
Branchen sein, die von der Handhabung sozialer Kämpfe gewaltig
profitieren. Vor allem der Markt für Drohnen, Kleinwaffen und "Non
Lethal Weapons" wie Taser-Waffen zur Aufstandsbekämpfung boomt, in Deutschland explizit unterstützt durch das "Konjunkturpaket".
Auch die Bundeswehr soll für "Operationen in urbanem Umfeld" mit neuen
Schall- und Mikrowellenkanonen oder und Tasern ausgerüstet werden. .
Zunehmend wird der Einsatz von Militär ins Spiel gebracht. In Italien
etwa sollen 30.000Soldaten zur "öffentlichen Sicherheit" beitragen.
Im Vordergrund dürfte dabei der "Schutz kritischer Infrastrukturen" vor
Arbeitskämpfen stehen (Telekommunikation, Finanzen, Energie,
Regierung/Verwaltung, Transport/Verkehr). Damit zeichnet sich eine
weitere Fortschreibung der Verpolizeilichung und Militarisierung
(besser: "Gendarmerisierung") sozialer Konflikte ab.

"Civil unrest and crowd control"

Als Auswirkungen der Finanzkrise werden weltweit weitere Aufstände erwartet.

Bereits im Dezember 2008 warnte
der geschäftsführende Direktor des IWF, Dominique Strauss-Kahn, dass
"Aufstände und Unruhen" auf den globalen Märkten entstehen werden,
würde der Abwertung des Dollars nicht Einhalt geboten. Größte
Risikofaktoren sieht Strauss-Kahn in geringerverdienenden Haushalten,
Schulden und zunehmender Erwerbslosigkeit. Betroffen seien durchaus
auch Industrieländer, die USA nicht ausgenommen.

Trendforscher und Senatoren sehen
die USA gar als zukünftiges Entwicklungsland, wenn die Revolution "food
riots, squatter rebellions, tax revolts and job marches" hervorbringt
und Urlaub zukünftig zur Nahrungsmittelsuche genutzt werden müsse. Als
Szenario wird über die Einführung des Kriegsrechts diskutiert.
Bundesstaaten wie Arizona oder Phoenix entwickeln
eigene Pläne für Unruhen und halten eine "Tactical Response Unit"
bereit. Die Angst der weißen Mittelschicht dürfte auch durch das
sicherheitspolitische Management der Flutkatastrophe in New Orleans
2005 und den daraus folgenden Aufständen von Afroamerikanern, Armen,
Mietern und Arbeitslosen gespeist sein.

In zukünftige Zivilschutzszenarien ist seit Oktober 2008 das "Brigade Combat Team" der 3. Infanteriedivision integriert. Die Einheit wurde aus dem Irak abgezogen und dem U.S. Northern Command
unterstellt, das nach 9/11 eingerichtet wurde und für die "Planung,
Organisation und Ausführung von Heimatschutz und Zivilschutz", aber
auch die Sicherheit bei Großereignissen wie dem "Super Bowl" zuständig
ist. Aufgabe der Division ist fortan unter anderem, bei "civil unrest
and crowd control" einzuspringen. Die Soldaten werden in der Handhabung
von "nichttödlichen Waffen" sowie polizeilicher Ausrüstung mit Schild
und Schlagstock ausgebildet. Zum Training tasern sich die Soldaten
gegenseitig.

Ein Report des U.S. Army War College untersuchte
untersuchte weitere Möglichkeiten, wie Ressourcen und Truppen des
Pentagon zur Bekämpfung von Aufständen gegen Wirtschaft und Regierung
genutzt werden können:


Widespread civil violence inside the United States would
force the defense establishment to reorient priorities in extremis to
defend basic domestic order and human security.

U.S. Army War College

"Die Situation ist wirklich, wirklich ernst"

Die jüngsten Aufstände in der EU haben auch in Brüssel für hektische
Betriebsamkeit gesorgt. Zwar ist Island kein EU-Mitglied, doch haben
die dortigen militanten Proteste immerhin in einem ersten europäischen
Land den Rücktrittder Regierung und eine neue politische Kultur durchgesetzt.

"Es gibt Bedenken. Die EU teilt sie. Es ist eine der größten
Herausforderungen für das Frühjahrstreffen des Europäischen Rats", wird
ein "führender EU-Beamter" zitiert.
Auf dem Treffen des Ministerrats wird auch der Bericht der "Future
Group", einer "informellen hochrangigen beratenden Gruppe zur Zukunft
der europäischen Innenpolitik" (bestehend aus einigen europäischen
Innenministern) vorgelegt. Das Papier "Europäische Innenpolitik in
einer offenen Welt" fordert unter anderem mehr Überwachung von
Finanztransaktionen, Nutzung von Drohnen für polizeiliche Operationen,
die Einrichtung neuer Datenbanken und -sätze sowie den gemeinsamen
Zugriff europäischer Verfolgungsbehörden darauf (Die Wünsche der EU-Innenminister).

Ein anderer EU-Beamter erklärt, EU-Botschafter "befassten sich
intensiv" mit dem Problem und bekämen "regelmäßige Updates", es brauche
allerdings mehr geheimdienstliche Aufklärung, um zu analysieren ob die
Unruhen "Teil eines sozialen Trends" seien oder "von Elementen der
Opposition" gesteuert würden. "Es kann überall passieren, in Europa
sicherlich", pflichtet IWF-Direktor Strauss-Kahn bei. "Es kann Streiks
geben, die aussehen wie immer, gewöhnliche Streiks, aber es kann sich
in den nächsten Monaten verschlimmern". Auf Nachfrage, in welchen
Ländern "das größte Risiko" bestünde, nannte Strauss-Kahn Ungarn,
Ukraine, Litauen und Weißrussland. "Es kann mein eigenes Land sein
[Frankreich], Großbritannien, möglicherweise Osteuropa. Die Situation
ist wirklich, wirklich ernst."

Betroffene Regierungen tauschen sich untereinander aus. Schon vor den
Straßenkämpfen trafen sich die Innenminister von Lettland und Litauen,
um die Sicherheitslage bezüglich der Finanzkrise zu diskutieren.
"Lettländer sind normalerweise ganz gemütlich", analysiert
der lettische Diplomat Inese Allika messerscharf, "offensichtlich
beobachten die Leute was in anderen Ländern Europas passiert, darunter
Griechenland, und fragen sich: ‚Warum sind wir so still?’".

Litauen sammelt seit Januar "alle verfügbaren Informationen über
ähnliche Ereignisse in anderen Mitgliedsstaaten" und tauscht diese mit
den "betroffenen Ländern" Estland, Frankreich, Deutschland und Litauen,
erklärte ein litauischer Diplomat dem EUobserver. Auch baltische
Staaten und Polen würden "intensiven Informationsaustausch" betreiben.
Das Thema "Jugendgewalt" stand auf der Agenda des Treffensder Innenminister der "G6-Staaten"
letzten Sonntag in Berlin. Zu den G6 gehören Polen, Frankreich,
Italien, Spanien und Grossbritannien und Deutschland. An dem Treffen
nahm auch die US-Heimatschutzministerin Napolitano teil.

"Summer of rage"

In Großbritannien erwarten Polizei und Militär
Aufstände von "Betroffenen aus der Mittelschicht", die sich mit
politischen Aktivisten verbünden könnten, um die Zentren des
Finanzsystems in London zu stürmen. Anlass ist der britischeVorsitz der G20, deren Regierungen sich am 1. und 2. April in der britischen Hauptstadt zum Krisengipfel verabredet haben, und angekündigte Proteste.

Superintendent David Hartshorn, Leiter der Abteilung "Öffentliche Ordnung" der Metropolitan Police, befürchtet
Massenproteste als Folge von Massenentlassungen. Banken würden zu
praktikablen Zielen für Demonstranten "Bekannte Aktivisten" würden sich
die Straßen zurückerobern, Geheimdienste hätten herausgefunden dass sie
wegen der "noch nie da gewesenen Umstände" womöglich großen Zuspruch
unter der Bevölkerung finden könnten und nun endlich über "foot
soldiers" verfügten.

Für den G20-Gipfel will Großbritannien die "größte Polizeioperation des letzten Jahrzehnts" in Stellung bringen. Letzte Einsätze vergleichbarer Brisanz waren die Aufstände gegen die Poll Tax und die May Day Riots 2000.

Weil der Widerstand gegen die Poll Tax "Margaret Thatchers Regierung
ernsthaft getroffen hat", schaltete sich jüngst auch der britische
Inlandsgeheimdienst MI5 ein. Sollte selbst das, wie Polizeifunktionäre
behaupten, nicht zur effektiven Kontrolle des Protests führen, will die
Regierung angeblich
das Militär auf den Straßen positionieren. Notfallpläne simulieren
Szenarios, um das Treffen im Falle erfolgreicher Verkehrsblockaden
andernorts zu Ende zu bringen. Die britische Polizei hat im November
2008 10.000 Stück neue Taser-Waffen erhalten

Die Rhetorik der Sicherheitsbehörden geht einher mit der Verabschiedung
neuer Maßnahmen zur Überwachung und Kontrolle politischer Aktivisten,
etwa das Ausspionieren und Profiling durch das Scotland Yard ("Die Kirche im Dorf lassen").
Die dafür zuständige "Confidential Intelligence Unit" (CIU) soll eng
mit Regierungs- und Universitätsbehörden sowie dem "privaten Sektor" zusammenarbeiten.

Ähnlich nervös dürften der französische Präsident Sarkozy und
Innenministerin Alliot-Marie auf die Unruhen in den Überseegebieten,
aber auch kürzlich wieder in den Banlieus
reagiert haben. Nach den tagelangen Straßenkämpfen in Griechenland
anlässlich der Erschießung des 15jährigen Alexandros Grigoropoulos
durch einen Polizisten argwöhnte Sarkozy ein Überschwappen nach
Frankreich. "Natürlich sind wir besorgt über die sozialen Bewegungen in
Europa. Wir haben ein wachsames Auge auf das was in Frankreich,
Großbritannien und anderswo passiert", erklärt Chantal Hughes, Sprecherin der EU-Kommission gegenüber Journalisten kurz nach dem Generalstreik gegen Sarkozy im Januar.

Für heute ist ein neuer landesweiter Streik angekündigt, der noch mehr
Menschen als die 2,5 Millionen Ende Januar auf die Straße bringen soll.
Auch in Frankreich setzen Polizei und Geheimdienste auf mehr
Ausforschung etwaigen Widerstands. Im Rahmen von Ermittlungen
Festnahmen gegen Aktivisten, deren internationale Kontakte und
Teilnahme an globalisierungskritischen Protesten verdächtig machten
(siehe hierzu GiorgioAgamben), erläutert Christophe Chaboud, Leiter der neu organisierten "Abteilung für Überwachung des Territoriums" (DST) die Strategie
der Behörden, den Lebensstil von "anarcho-libertären Gruppen" zu
überwachen, da sie sich von der Gesellschaft zurückziehen und
Gewalttaten im Untergrund vorbereiten könnten.

"Kommando, Kontrolle, Kommunikation, Computer und Aufklärung"

Die Treffen europäischer Polizeien und Geheimdienste
werden in neuen Kooperationsabkommen institutionalisiert. Mitarbeiter
des Scotland Yard trafen Mitte März in Athen ein,um griechische
Behörden gegen den "Vandalismus gegen Geschäfte und Autos" zu beraten (Neue Büros mit Blick auf die Akropolis für Scotland Yard).
Premierminister Costas Karamanlis hatte zuvor einen Anstieg von
"heimischen Terrorangriffen" und "Straßengewalt" festgestellt. Die
griechische Anti-Terror-Einheit soll umstrukturiert, neue Taktiken
gegen die "Gesetzlosigkeit" empfohlen werden. Der frühere höchste
Beamte der Londoner Polizei, Ian Blair, wird ebenfalls in Athen
erwartet. Blair hatte 2005 gefordert, dass "Terrorverdächtige" bis zu
90 Tage festgehalten werden sollten. Britischen Medien warf er
"Rassismus" vor, weil sie zuwenig über "Verbrechen gegen Weiße"
berichten würden.

Pünktlich zu den wochenlangen militanten Protesten in Griechenland im
Dezember 2008 erhielt die Polizei die letzte Tranche eines "C4I"-Systems.
"C4I" steht für "Command, Control, Communications, Computers and
Intelligence", wurde für militärische Einsätze entwickelt und soll
Personal, Ausrüstung und Kommunikation von Sicherheitsbehörden durch
den Einsatz von Hard- und Software besser miteinander vernetzen.
Computergestützt werden Daten gesammelt, analysiert, mit anderen
Datenbanken (auch im Ausland) abgeglichen und ausgewertet. Das System
für die griechischen Polizeien, Feuerwehren, Küstenwachen und
Rettungsdienste war im Rahmen der olympischen Sommerspiele 2004 geliefert
geliefert und vom Hersteller SAIC "verbessert", d.h. den "griechischen
post-olympischen Sicherheitsbedürfnissen angepasst" worden. Der Vertrag
hat bis 2014 ein Gesamtvolumen von etwa 322 Millionen US-Dollar.

Spannend dürfte die weitere Entwicklung der "Europäischen Gendarmerietruppe" EUROGENDFOR
mit Sitz des Führungsstabes im italienischen Vicenza werden. Auf
Initiative der damaligen französischen Verteidigungsministerin (und
gegenwärtigen Innenministerin) Alliot-Marie eingerichtet, soll sie in
enger Zusammenarbeit mit dem Militär die "Sicherheit in Krisengebieten"
gewährleisten. In der Öffentlichkeit wird die EUROGENDFOR für Missionen
in "Drittstaaten" ins Spiel gebracht. Die Statuten schließen allerdings
Einsätze innerhalb der EU nicht aus.

Die bis zu 3.000 Kräfte starke Truppe soll Eigentum
schützen, bei Demonstrationen eingesetzt werden und sogar
geheimdienstliche Informationen beschaffen. Das Einsatzspektrum umfasst
"alle polizeilichen Aufgaben" (Berlusconi und Frattini produzieren Sicherheit).
Nicht alle EU-Staaten sind an der EUROGENDFOR beteiligt, zugelassen
sind nur Länder mit paramilitärischen Gendarmerien die dem Militär
unterstellt werden können. Bisherige Mitglieder sind Spanien,
Frankreich, Italien, Polen, Niederlande und Portugal. Seit Februar 2009
ist auch die rumänischeGendarmerie Teil der EUROGENDFOR, gemeinsame Trainings und Ausbildungseinheiten haben bereits stattgefunden. Als weitere Anwärter liebäugeln Litauen und die Türkei mit einer Aufnahme in die Truppe.

Source: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29952/1.html