Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden von Siemens München entwickelte Überwachungssysteme in Ländern wie China, dem Iran und anderen totalitären Staaten zur Verfolgung von Dissidenten, ethnischen und religiösen Minderheiten eingesetzt. Das deutsche Recht legt der Entwicklung und dem Export solcher Güter offenbar keine Schranken in den Weg.
[futurezone.orf.at] "Wir vermarkten diese ‚Intelligence Solution‘ für Strafverfolger und Geheimdienste global, hauptsächlich im Nahen Osten, in der Region Asien-Pazifik und Europa", antwortete Kent Tankersley, Sprecher von Nokia Siemens Networks [NSN], schriftlich auf eine Anfrage von ORF.at.
Die Anfrage bezog sich auf die noch unter der Ägide von Siemens entworfene "Intelligence Platform", eine Software-Suite, die Informationen aus verschiedensten Datenbanken und anderen Quellen zusammenführen kann, um damit – unter anderem – Profile von Menschen zu erstellen.
An welche europäischen Länder die "Intelligence Platform" bereits geliefert wurde, mochte Tankersley nicht verraten. "Dem Wunsch unserer Kunden entsprechend können wir leider nicht bekanntgeben, welche Organisationen unsere Lösung gekauft haben", heißt es in dem Schreiben von NSN.
"Monitoring Centers"
Auf der Website von Nokia Siemens Networks wird angeführt, dass die – in München entwickelten – "Monitoring Centers" zur Überwachung von Festnetz- und Mobilfunk sowie die "Intelligence Platform", die für Geheimdienste maßgeschneidert ist, insgesamt 90-mal in 60 verschiedene Länder ausgeliefert wurden.
Um welche Staaten es sich dabei handelt, wird auch dort nicht bekanntgegeben.
Die Zusammenführung
Warum man sich hier mit präzisen Aussagen so ziert, wird nach einem Blick auf die Liste der Funktionen dieses Systems sofort klar.
In einer Art Data-Warehouse für Geheimdienste werden von Verbindungsdaten aus Telefonienetzen und dem Internet – die nunmehr EU-weit vorgeschriebene Vorratsdatenspeicherung wird ganz oben angeführt – über Kreditkartenzahlungen und Banktransfers, Grundbuch, Kfz- und Melderegisterdaten bis hin zu Flugpassagier-, Fingerprint- und DNA-Informationen alles zusammengeführt, was ein Mensch an Spuren in den zahlreichen Computersystemen eines entwickelten Staates hinterlassen hat.
"Verdachtsmuster"
Mit speziellen "Intelligence-Mining"-Programmen werden Kommunikations-, Finanz- und Bewegungsprofile erstellt, die dann nach "verdächtigen" Mustern durchwühlt werden.
Ein Beispiel aus einem Verkaufsvortrag, der ORF.at vorliegt: Suche nach Verdachtsmustern in mehr als 21 Millionen Telefonverbindungsdaten, die binnen einer Stunde angefallen sind.
Starke Zweifel
Sowohl das Institut für Technikfolgenabschätzung an der österreichischen Akademie der Wissenschaften als auch das renommierte Unabhängige Landesdatenschutzzentrum Schleswig-Holstein äußerten starke Zweifel daran, dass eine derartige Maschinerie irgendwo in der EU von Strafverfolgern legal zu betreiben wäre.
End-to-End-Lösung
"Auf dem Gebiet Sprach-und Datenaufzeichnung nimmt Nokia Siemens eine einzigartige Position ein. Wir sind der einzige Telekomnetzwerkbauer, der Überwachungsmöglichkeiten für Strafverfolger als echte End-to-End-Lösung anbietet. Das Monitoring Center von Nokia Siemens Networks ist ideal, um alle gängigen Technologien zu überwachen und jeden anderen Kommunikationstyp der nächsten Generation ebenso", heißt es auf der Website von NSN.
Die hauptsächliche Stärke des Produkts "Monitoring Center" liegt also in der nahtlosen Integration in die Telefonienetze selbst, egal ob es sich um Festnetz- oder Mobiltelefonie handelt.
Auch wenn dafür längst Überwachungsstandards des European Telecom Standards Institute existieren, ist der Netzwerkausrüster gegenüber einer Drittfirma im Wettstreit der Anbieter stets weitaus besser positioniert.
Die Spuren zum EWSD
Die "Intelligence Platform" wiederum integriert das "Monitoring Center". Man findet beides mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dort, wo Siemens seinen langjährigen Exportschlager, das digitale Wählamtssystem EWSD, ausgeliefert hat.
Als weiteres Kriterium für einen Einsatz der Plattform kommt natürlich hinzu, dass es sich bei dem Besteller um einen totalitär organisierten Staat handelt, der keine Skrupel hat, derartige Systeme flächendeckend gegen seine Bürger einzusetzen.
Die Hauptabsatzmärkte
Daran mangelt es in den beiden von Kent Tankersley als Hauptabsatzmärkte genannten Regionen Naher und Ferner Osten keineswegs. Zwei Länder, mit denen Siemens besonders lange und intensive Beziehungen unterhält, springen da ins Auge: China und der Iran.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass in diesen und anderen Staaten, in denen politische Dissidenten und unbotsame ethnische Minderheiten systematisch verfolgt werden, Systeme zum Einsatz kommen, die in München entwickelt wurden.
Bereits im Jahr 2000 hatte Siemens Chef Heinrich von Pierer China als den nach Deutschland wichtigsten Telefoniemarkt bezeichnet, 30 Millionen Festnetzanschlüsse mit EWSD-Switches waren da schon installiert.
Begonnen hatten die Beziehungen freilich bereits 1872 mit der Lieferung von Zeigertelegrafen durch die Siemens AG. Seit 1987 ist Siemens an einer Vielzahl von Joint Ventures mit chinesischen Unternehmen beteiligt.
Großaufträge im Iran
Ein ganz ähnliches Bild bietet der Iran. Bereits 1924 errichteten Siemens und Halske dort das Wählamt Teheran, 1954 kam ein Großauftrag über 180.000 Fernsprechanschlüsse zustande, 1992 ein ebensolcher zur Lieferung des EWSD-Systems.
In beiden Ländern, die sich in der totalen Kontrolle ihrer Bürger üben, was deren Kommunikation anbetrifft, gibt es auch Fertigungsstätten für Komponenten digitaler Telefonienetze, an denen Nokia Siemens beteiligt ist.
Mauern und Zensur
Während im Iran zum Beispiel der Betrieb von Satellitenschüsseln offiziell verboten ist, hat China ein vollständig kontrolliertes Intranet für seine Bürger eingerichtet, das durch die "große Firewall" umschlossen wird.
Dahinter wird von Google über die chinesische Suchmaschine Baidu, von Blogs bis Foren alles zensuriert, was nicht der offiziellen Lesart der kommunistischen Partei entspricht.
Jagdszenen aus Nahost
Warum Siemens im gesamten Nahen Osten aber auch in China bei Überwachungsanlagen für Telefonienetze sozusagen ein Heimspiel hat, erklärt die Marktsituation.
Der wichtigste Mitbewerber im Bereich Monitoring Centers und Telekom-"Geheimdienstlösungen" von NSN heißt Verint und ist ein Tochterunternehmen des Telekom-Ausrüsters Comverse.
Die Konkurrenz
Die Monitoring Centers von Verint können – wie auch die NSN-Produkte – in jedem digitalen Telefoniesystem eingesetzt werden.
Nach übereinstimmenden Aussagen aus der Branche werden sie von Verint bis zu 50 Prozent billiger angeboten als vergleichbares Überwachungs-Equipment der führenden Netzwerk-Ausrüster Nokia Siemens oder Ericsson.
Israel, die NSA
Der Grund, warum Verint dennoch keine Chance hat, im arabischen Raum oder auch in China mitzubieten: Die Firma stammt ebenso wie die an der NASDAQ notierte Mutter ursprünglich aus Israel.
Im Top-Management von Verint sitzen großteils Israelis sowie Kenneth A. Minihan, seines Zeichen ehemaliger Direktor des US-Supergeheimdiensts NSA.
Kompatibilität und Datenschutz
Auf die Frage, für wie kompatibel man bei NSN die "Intelligence Platform" mit europäischen Datenschutzgesetzen halte, antwortet Tankersley so: "Wir tun was wir nur können, um unsere Kunden in die Lage zu versetzen, allen relevanten Gesetzen und Praktiken zu entsprechen, was die gesetzlich autorisierte und kontrollierte Anwendung unserer Technologie sowie den Schutz der individuellen Privatsphäre betrifft. Wir implementieren wirksame Schutzmaßnahmen um den höchsten Schutz zu gewährleisten, um den Missbrauch des Systems für unautorisierte Verwendung zu verhindern."
Die Übersetzung
Aus dem Überwachungsmarketing-Rotwelsch übersetzt kann dies ebenso heißen: Wir tun alles, was wir nur können, um die Richtlinien des jeweiligen Militärgeheimdienstes umzusetzen, was die Überwachung der jeweiligen Staatsbürger betrifft. Dazu implementieren wir interne Kontrollmechanismen ["Audits"], um auszuschließen, dass fremde Geheimdienste Zugriff auf die Daten erhalten können.
Schlußendlich hat Mr. Tankersley noch betont, dass sich Nokia Siemens stets an die jeweiligen Gesetze zur Exportkontrolle halte. Ganz offensichtlich gibt es wenigstens in Deutschland keine Gesetze, die Entwicklung bzw. den Export derartiger Systeme in totalitäre Staaten behindern.
"Datenschutzfreundliche Technikgestaltung"
Die Juristen des Landesdatenschutzzentrums Schleswig-Holstein konnten jedenfalls auf Anfrage von ORF.at "keine unmittelbare Rechtspflicht für die Hersteller" derartiger Technologien ausmachen.
Das Bundesdatenschutzgesetz kenne in § 3a allerdings einen "Appell zur datenschutzfreundlichen Technikgestaltung, wobei insbesondere Datenvermeidung und Datensparsamkeit angesprochen sind."
Das "Einsteiger-System"
Das gilt nur sehr bedingt für die "Intelligence Platform" von Nokia Siemens, die laut Seite 43 des Verkaufsprospekts in der Regel "in Daten-Center-Dimensionen massive Datensätze im Terabyte-Bereich prozessiert."
Allerdings wird da auch ein "miniaturisiertes Einsteiger-System" angeboten, etwa für ebenso notorisch finanzschwache wie totalitär regierte Staaten in Fernost, in denen Siemens ebenso stark vertreten ist: Vietnam ist so ein Beispiel.