Europäische „Biometrie-Strategien“

Andrea Knaut


Die „Vision für ein integriertes europäisches Grenzverwaltungssystem im
21. Jahrhundert“ der Generaldirektion Justiz, Freiheit und Sicherheit
der Europäischen Kommission ist der ideologische Motor der technischen
Neuerungen im Grenzregime. Mit Hilfe von Verordnungen werden dazu
informationstechnologische Instrumente wie das sich bis heute
verzögernde Schengener Informationssystem II (SIS II) bzw. das
Visa-Informationssystem (VIS) konzeptioniert.

[events.ccc.de] Letztgenannte sind Teil
dessen, was das deutsche Bundesministerium des Innern
„Biometrie-Strategie der (…) Europäischen Kommission“ nennt, „deren
Ziel es unter anderem ist, mittelfristig alle in den Schengenraum
einreisenden oder hier aufhältigen Drittstaatsangehörigen biometrisch
zu erfassen“ (BMI 2008). Auch Menschen, die StaatsbürgerInnen eines
EU-Landes sind, dürften allmählich bemerken, dass sich im Umgang mit
Ausweisen und Reisepässen einiges ändert. Die Verordnung „(EG) Nr.
2252/2004 des Rates vom 13. Dezember 2004 über Normen für
Sicherheitsmerkmale und biometrische Daten in von den Mitgliedstaaten
ausgestellten Pässen und Reisedokumenten“ ist rechtliche Grundlage für
die vielen neuen „ePässe”. Solche biometrischen Daten – Charakteristika
eines menschlichen Körpers oder Verhaltens, die zur automatisierten
Unterscheidung von Individuen dienen sollen – können unter anderem
Fingerabdrücke, die Iris des Auges oder das gesamte Gesicht sein.

Menschliches und biometrisches Identifizieren

Vermeintlich
objektive Personenmerkmale wie Körpergröße, Geschlecht und das Passfoto
wurden bisher genutzt, um die Personenkontrolle an einer Grenze relativ
gleichförmig und massenhaft durch GrenzbeamtInnen vornehmen lassen zu
können. GrenzbeamtInnen greifen auf das Wissen aus ihren Schulungen,
ihre Vorurteile, ihre Erfahrungen und ihre Intuition zurück, um Ein-
und Ausreisende an einer Grenze anhand des Passes als staatlich
legitimiert zu identifizieren. Ihre Entscheidungen sind durch aktuelle
Einsatzbefehle, Stress und sonstige aktuelle Umgebungsbedingungen
beeinflusst. Auch eine biometrische Grenzkontrolle ist stark
beeinflussbar und läuft immer anders ab, auch wenn man dies landläufig
nicht annehmen würde, da es sich um einen Automaten handelt.

Ein
biometrisches System vergleicht immer ein beim Enrolment erstmalig
aufgenommenes so genanntes Template, beispielsweise einer Fingerkuppe,
mit einem zum jeweiligen Zeitpunkt der Kontrolle aufgenommenen Bild
derselben Körperstelle. Ab wann das etwa auf dem RFID-Chip im Pass1
oder in einer Datenbank gespeicherte Template mit dem aktuell
aufgenommenen Bild ausreichend ähnlich ist, wird mit einem flexibel
einstellbaren Schwellenwert festgelegt. Die verglichenen Bilder sind
zuvor bereits mit diversen digitalen Filtern stark abstrahiert worden.
Die Filter und die Algorithmen, die bestimmte Merkmale aus den
Aufnahmen extrahieren, können fehlerhaft sein. Die Sensorik kann
schlechte Aufnahmen machen, die Lichtbedingungen können schlecht oder
die einzelnen technischen Komponenten des Systems defekt sein.

Einem
biometrischen Verfahren sind ohnehin aufgrund des zentralen Vergleichs
zweier Muster immer zwei Fehlerquellen inhärent: Das System produziert
so bezeichnete falsche Rückweisungen (FR) einer Person, deren aktuell
erzeugte Muster nicht mit den von ihr hinterlegten übereinstimmen. Das
geschieht, wenn der Schwellenwert für die Ähnlichkeit zweier Muster
sehr intolerant ist und das System schon bei geringen
Musterabweichungen zwei Muster als unähnlich einstuft. (Keine zwei
Bilder einer Person sind komplett identisch!) Es kann auch sein, dass
das System eine falsche Akzeptanz (FA) einer Person ermöglicht, wenn es
so tolerant eingestellt ist, dass es auch bei sehr unähnlichen Mustern
noch durchlässt. Insofern stellt die Einstellung des Schwellenwerts
praktisch immer einen Kompromiss zwischen Sicherheits- und
Bequemlichkeitsbestreben dar. Die FA-Rate (FAR) und die FR-Rate (FRR)
werden häufig als Kenndaten der biometrischen Systeme betrachtet.
DatenschützerInnen verlangen bei einer Rückweisung einer Person durch
ein biometrisches System, immer von vornherein von einer FR auszugehen
und die FRR nicht zu kriminalisieren.

Biometrie an den Grenzen

Die
weltweite Standardisierung und Harmonisierung der Grenzkontrollprozesse
wird maßgeblich vorangetrieben durch die 1944 gegründete Spezialagentur
der UNO, die International Civil Aviation Organization (ICAO). Sie
forcierte die Adoption maschinenlesbarer Pässe und Visa, eine Grundlage
der über Ausweislesegeräte heute automatisierten Fahndungsabfragen bei
SIS oder beim polizeilichen Informationssystem INPOL in Deutschland.
Adaptiert werden die technischen Richtlinien der ICAO durch die
nationalen Grenzkontrollbehörden, die wiederum Aufträge an die
Sicherheitsindustrie vergeben. Große Auftragnehmer sind die Firma L-1
Identity Solutions, einer der Marktführer für die Implementierung von
biometrischen Erkennungsverfahren, und deren zertifizierten Partner.
Bosch, IBM oder Siemens integrieren die zahlreichen unterschiedlichen
Hardware- und Softwarekomponenten dann an den Grenzen zu einem
geschlossen erscheinenden biometrischen System. Das Biometrics Center
von Siemens in Graz beispielsweise zeichnet unter anderem für die
Implementierung der Biometrie-Pilotprojekte in Kroatien (National
Border Management System, NBMIS) und die Ausrüstung von Schweizer und
tschechischen Pässen mit biometrischen Daten verantwortlich. Die
Umstellung auf biometrische Grenzkontrollen in der EU läuft auf zwei
Ebenen: Zum einen erfolgt die zwingende Implementierung der
biometriegestützten Grenzkontrollen für Nicht-Schengen-Angehörige. Zum
anderen werden Programme für registrierte Vielreisende wie PRIVIUM in
den Niederlanden, PEGASE in Frankreich, RAPID in Portugal, die ABG in
Deutschland und IRIS in Großbritannien etabliert, an denen
EU-BürgerInnen bzw. Drittstaatsangehörige ohne Visapflicht (noch
freiwillig) teilnehmen können (FRONTEX 2008). Von AsylbewerberInnen ab
14 Jahren werden die Fingerabdrücke aller zehn Finger schon seit 2003
im Automatisierten Europäischen Fingerabdruckidentifizierungssystem
EURODAC gespeichert. In Zukunft wird dies für alle
Schengen-Visa-AntragstellerInnen zwingend werden. Die
informationstechnologische Vision hinter all dem ist letztlich die
Integration aller europäischen Fahndungs- und Migrationsdatenbanken und
die Nutzung des Biometric Matching System (BMS), das die interoperablen
biometrischen Daten all dieser verschiedenen Netze aufeinander abbilden
soll.

BIODEVII

Die
Studie BIODEV II war ein Test für die Realisierung von VIS. An dem
Mitte 2008 abgeschlossenen europäischen Pilotprojekt BIOmetrics Data
Experimented in Visas (BIODEV II) beteiligten sich zwischen August 2007
und Juli 2008 mit Österreich, Belgien, Deutschland, Frankreich,
Großbritannien, Luxemburg, Portugal und Spanien acht europäische
Staaten. Im Rahmen des Versuchs wurden die personenbezogenen Daten aus
dem Antrag, die Visumantragsnummer, das Gesichtsbild und zehn flache
Fingerabdrücke der VisumantragstellerInnen in zentralen Datenbanken
gespeichert. Die Daten wurden angeblich freiwillig erhoben. Die
eingangs erwähnte Verordnung des Rates der Europäischen Union hatte die
Verwendung von Fingerabdrücken von Kindern bereits ab sechs Jahren
vorgesehen. Die mit BIODEVII erhobenen Daten wurden dann im Nachhinein
als Beleg dafür herangezogen, dass die Abnahme von Fingerabdrücken von
Kindern ab sechs Jahren vertrauenswürdig und machbar ist. Allein die
beteiligten deutschen Konsulate in Ulan Bator und Damaskus steuerten
für die Studie Fingerabdrücke von 1649 Kindern als Datengrundlage bei,
die zu 93 Prozent als von guter Qualität befunden wurden. Eine
Freiwilligkeit der Abgabe aller zehn Fingerabdrücke in Zusammenhang mit
einem Reisewunsch und auch bezüglich der so jungen ProbandInnen ist zu
bezweifeln.

It’s not biometrics, it’s the whole system

Die
koloniale Traditionslinie der Forschung an Körpermerkmalen und
Körpervermessungen ist stark davon geprägt, Herrschaftsstrukturen, wie
sie in den Kategorien Race, Class oder Gender etabliert waren und sind,
biologisch empirisch zu belegen. Das älteste biometrische Verfahren,
die Fingerabdruckerkennung, wurde von Kolonialverwaltungsbeamten wie
William Herschel, Edward Henry, Henry Faulds und ForscherInnen wie
Francis Galton in Teilen in den britischen Kolonien Ende des 19.
Jahrhunderts getestet. Bis heute scheint das Muster gleich zu bleiben:
Die Technologien werden mit ihrer Umsetzung gerechtfertigt. Die mit
ihnen gesammelten Daten sind wichtiger für eine Stabilisierung der
Technik selbst – die wiederum als stabilisierte Gesellschaft begriffen
werden kann (Latour 2006) – als die Befindlichkeiten der davon
Betroffenen.

Die Intransparenz der Aneignung persönlicher Daten
und der Körperdaten stellt für alle NutzerInnen biometrischer
Technologien eine Gefährdung des Rechts auf informationelle
Selbstbestimmung dar. Niemand kann nachvollziehen, was mit diesen in
einem vernetzten Computersystem wirklich geschieht.
Fahndungsdatenbanken werden mit biometriegestützten Grenzkontrollen
immer ausgelesen. Hinzu kommt, dass die Implementierung von
automatisierten Grenzkontrollen durch nicht-staatliche Unternehmen die
Bestimmung des Verhältnisses des Einzelnen zur Nationalstaatlichkeit in
gewisser Hinsicht dem Staat entzieht und damit vielleicht auch einem
Rest demokratischer Kontrolle.

Ein Ansatz, der die Technik im
Sinne des Menschen implementiert und nicht den Menschen an die Technik
anpasst, muss eine grundlegende Infragestellung des Einsatzes der
Technologie bzw. der Grenze selbst gestatten.

1 RFID steht für
Radio Frequency Identification, da für das Lesen und Verarbeiten der
auf den Chips gespeicherten Daten zur Identifizierung einer Person
elektromagnetische Wellen genutzt werden.

Literatur

Bundesministerium des Innern: Europäisches Pilotprojekt BIODEV II, 27. 01. 2009. BIODEV II [12. 03. 09]

Europäische
Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der
Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (FRONTEX): BIOPASS. Study on
Automated Biometric Border Crossing Systems for Registered Passenger at
Four European Airports. Warschau: FRONTEX, August 2007. PDF Download [19. 02. 09]

Latour,
Bruno: „Technik ist stabilisierte Gesellschaft“. In: Belliger, Andrea /
David Krieger: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur
Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript-Verlag, 2006.

Andrea Knaut
ist Diplom-Informatikerin, lebt in Berlin und ist aktiv bei den Naturfreunden Berlin.

Source: http://events.ccc.de/congress/2009/Fahrplan/attachments/1385_EuropaeischeBiometrie2.pdf