Oury Jalloh – Das war Mord!

Ein Schlag ins Gesicht

Die Eskalation beim Gedenken für Oury Jalloh droht in Dessau die mühsame Annäherung von Migranten und Behörden zu torpedieren

Als Mouctar Bah zu Boden ging, war eigentlich schon alles vorbei. Die Demonstration, die er zum Gedenken an seinen am 7. Januar 2005 in Polizeigewahrsam gestorbenen Freund Oury Jalloh organisiert hatte, war wieder am Dessauer Bahnhof angekommen. 200 Menschen hatten an den siebenten Todestag des Flüchtlings erinnert. Sie hatten gerufen, was sie seit Jahren rufen: »Oury Jalloh – das war Mord!« Die Polizei aber duldete die Parole, anders als früher, nicht. Als der Aufzug beendet war, wollten Beamte ein Transparent beschlagnahmen. Es kam zu Rangeleien; Mouctar Bah erhielt einen Schlag ins Gesicht. »Danach«, sagt er, »weiß ich nichts mehr.« 20 Minuten soll Bah bewusstlos gewesen sein; er landete im Krankenhaus. Auch Tage später leidet er unter Schwindel und Kopfschmerz. Doch die Auseinandersetzung hat viel mehr als Bahs Gesundheit beschädigt. Auch das seit 2005 mühsam gekittete Vertrauen zwischen Migranten und Behörden hat gelitten. Von Gesprächen jedenfalls will Mouctar Bah nichts mehr wissen. »Im Moment«, sagt er, »ist damit Schluss.«

Es droht ein Zustand, wie er ab Januar 2005 herrschte, als Jalloh in der Polizeizelle verbrannte, gefesselt an Händen und Füßen. Angeblich hatte er die feuerfeste Matratze selbst angezündet. Viele Afrikaner glaubten das nicht; böse Gerüchte über Polizisten kursierten. »Damals«, erinnert man sich im Rathaus, »herrschte Krieg.«

Seither hatte man sich bemüht, das Verhältnis zu entkrampfen. Die Stadt suchte das Gespräch mit Migranten; ein Netzwerk entstand, in dem die Zuwanderer, ihnen nahestehende Vereine, Verwaltung und Polizei miteinander redeten. Am Sonnabend gab es ein gemeinsames Gedenken an der Polizeiwache – erstmals seit Januar 2005. Man habe einen »Konsens der Deeskalation« gefunden, sagt Oberbürgermeister Klemens Koschig und spricht von einem »Weg in Richtung Normalisierung«.

So optimistisch sind viele Migranten nicht. Sie seien in Dessau nicht sehr willkommen, spürt Harold Ibanez Vaca, seit November Ausländerbeauftragter der Stadt. Der Bolivianer lebte einst in Freiburg: »Dort hat man sich gefreut, dass ich da war.« Dieses Gefühl hätten Ämter in Dessau nie vermittelt. Auch die japanische Sängerin Mika Kaiyama, die seit 16 Jahren in der Stadt wohnt, erlebt die Annäherung von Zuwanderern und »Mehrheitsgesellschaft« als »eher zäh«. Allerdings: Seit Juli 2011 gibt es einen Migrantenrat; ein Integrationskonzept wird erörtert. Es gibt Gespräche und kleine Zeichen: Die Polizei gab einen Kalender heraus, auf dessen Titel Polizisten und Schwarzafrikaner einträchtig beieinander stehen.

Am Samstag war von Eintracht nichts zu spüren; die Polizei ging rabiat wegen der Mordparole vor. Die billigt zwar auch Koschig nicht. Die Abkehr von früherer Toleranz indes kam unvermittelt: »Wir verstehen sie nicht.« Im Rathaus geht nun die Sorge um, dass im Verhältnis zu den Migranten »das Tischtuch zerschnitten ist«. Falls das eintritt, heißt es, »waren fünf Jahre Arbeit für umsonst.« Das scheint auch Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) zu ahnen. In einem Zeitungsinterview sagte er, die Vorfälle am Samstag seien »sicher nicht hilfreich« gewesen.

Während Mouctar Bah neue Gespräche ausschließt, wollen andere Ausländervertreter die Brücken nicht völlig abbrechen. Allerdings »brauchen wir jetzt deutliche Signale«, sagt Razak Minhel, Chef des Multikulturellen Zentrums. Er fordert vom Innenminister eine lückenlose Aufklärung – an der Migranten beteiligt werden müssten: »Nur so kann wieder Vertrauen entstehen.« Eine solche Bereitschaft ist jedoch nicht erkennbar. Der Innenausschuss des Landtags lehnte gestern einen Antrag der LINKEN ab, eine Anhörung mit Betroffenen durchzuführen. Man werde nun zu einer eigenen Anhörung einladen, sagte LINKE-Innenpolitikerin Gudrun Tiedge. Es stelle sich »sehr nachdrücklich« die Frage, warum jetzt die bisher tolerierte Mordparole »kriminalisiert« werde.

Auch beim Migrantenrat in Dessau erwartet man dringend Antworten auf derlei Fragen. Falls sie ausbleiben, werde das Folgen haben, fürchtet Mika Kaiyama. Die Sängerin spricht schon jetzt von einem »Riss in der Gesellschaft«. Unvermittelte Schläge ins Gesicht helfen sicher nicht, ihn zu kitten.

Source: http://www.neues-deutschland.de/artikel/215496.ein-schlag-ins-gesicht.html