[heise.de] Deutschland 2008 ist Datenschutzland. So sieht es zumindest aus, wenn man die Nachrichten Revue passieren lässt. Da ist ein neues Datenschutzgesetz in Planung und die Deutsche Telekom, die Datenschleuder der Nation, installiert einen Datenschützer im Vorstand. Doch nach wie vor sind auch in Deutschland Datenkraken am Werk, werden Daten von Firmen wie Behörden gesammelt und missbraucht, verscherbelt und vergessen. Am Freitagabend erfolgte in Bielefeld die Verleihung der Big Brother Awards 2008 an die von einer Jury aus Menschenrechtlern, Computerexperten sowie Daten- und Verbraucherschützern ausgewählten Preisträger. Es ist eine vergnügliche Prozedur, die auch als Livestream verfolgt werden kann und nicht ohne Spannung ist: Nach etlichen Jahren ohne mutige Preisträger vor Ort hatte diesmal einer der Ausgezeichneten sein Erscheinen zugesagt – wer dies sein würde, wurde vorab nicht verraten. Für eilige Leser mit TGIF-Verabredungen hier die prämierten Datenkraken im Einzelnen.
Die Deutsche Telekom hat zwar ihren Chefjustiziar Manfred Balz zum obersten Datenschützer ernannt und ihn mit einem Vorstandsposten mit der nötigen Macht ausgestattet, bei "Datenschutz und Compliance" durchgreifen zu können. Damit wurde just der Mann befördert, an den das Berliner Unternehmen Network Deutschland GmbH seine Rechnungen faxte – für die Arbeit, in Telekom-Verbindungsdaten einen Hinweis darauf zu finden, wer Interna an Journalisten weitergeben haben mag. Für diese illegale Nutzung von Telefon-Verbindungsdaten, für die Bespitzelung von Aufsichtsräten und Journalisten, erhält die Telekom den Big Brother Award 2008 in den zusammengelegten Kategorien "Arbeitswelt und Kommunikation". Dass ausgerechnet ein Konzern, der dem Gesetz nach verpflichtet ist, das Telekommunikationsgeheimnis zu wahren, die eigenen Spitzelinteressen höher einschätzt, reicht nach Ansicht der Jury eigentlich schon aus, den begehrten Preis zu bekommen. Wenn nebenbei noch das Grundrecht der Pressefreiheit beschädigt werde, passe das in die menschenverachtende Denkweise des Konzerns, heißt es in der Begründung. Den Preis nahm der bisherige Konzernbeauftragte für den Datenschutz der Telekom, Claus Ulmer, persönlich entgegen.
Gleich zwei Big-Brother-Preise in der Kategorie "Verbraucher" machen deutlich, dass dieser im laufenden Jahr nichts zu lachen hatte. Stellvertretend für die Mitglieder des 16. Deutschen Bundestags erhält der Bundestagspräsident Norbert Lammert einen Preis für das Durchwinken von Gesetzen, die die Speicherung und Weitergabe von Reisedaten der Bundesbürger gestatten. Zu diesen Gesetzen gehört das Gesetz (PDF-Datei) zur Änderung seeverkehrsrechtlicher, verkehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mit Bezug zum Seerecht, mit dem die Reisedaten von 29 Millionen Passagieren zur Untersuchung auf terroristische Gefahren freigegeben wurden. Weitaus bekannter ist wohl die umstrittene Verabschiedung des Flugdaten-Abkommens, das demnächst nicht nur außereuropäische, sondern auch innereuropäische Flüge umfassen soll. Die Auszeichnung des gesamten Deutschen Bundestages verbindet die Jury mit einem Appell an die Abgeordneten, bei der Verabschiedung des nächsten Datensammelgesetzes nachzudenken und nicht leichtfertig die Hand zu heben.
Ein weiterer Verbraucher-Preis geht gleich an vier Verbände, den Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute, die Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftliche Institute, den Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher und an die Deutsche Gesellschaft für Online-Forschung. All diese Verbände haben sich auf eine Richtlinie für telefonische Befragungen geeinigt, die den Datenschützern ein Dorn im Auge ist. Sie enthält nämlich die Empfehlung, Telefoninterviews bei Bedarf ohne Kenntnis der Gesprächspartner "zur Qualitätssicherung" heimlich mitzuhören, komplett mit der Empfehlung, die Beanstandungen von Datenschützern zu ignorieren. Der Preis an die versammelten Institute, die derartige Telefoninterviews durchführen, steht nach Ansicht der Jury in bester Tradition des Big Brother Awards 2007. Damals bekam Novartis Pharma den Preis für eine "vertrauliche" telefonische Befragung der Mitarbeiter zugesprochen, deren Ergebnisse im Personalbüro des Konzerns auftauchten.
Stolzer Preisträger in der Kategorie "Politik" ist Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Der federführend von seinem Haus entwickelte elektronische Einkommensnachweis (ELENA), der ohne datenschutzrechtliche Fesseln verabschiedet wurde, bildet den Grundstock für eine neue Zentraldatei, die nach Auffassung der Jury unzureichend geschützt ist. Außerdem soll die mit ELENA verbundene Zwangseinführung der elektronischen Signatur nicht unproblematisch sein. Denn über den Datenabgleich von gehäuft anfallenden Zertifikats-Identifikationsnummern bei der Signatur könnten diese Nummern als Ordnungskriterium in Suchläufen (PDF-Datei) verwendet werden.
Zur CeBIT 2008 verpasste sich Microsoft einen grünen Anstrich und stellte eine Kooperation mit Yello Strom vor. Der unter Windows CE laufende "Sparzähler" des Stromanbieters beeindruckte die Preisjury und sicherte dem Unternehmen den Preis in der Kategorie "Technik". Besonders beunruhigend sei dabei, dass Yello ein Mitglied in jener Digitalstrom-Allianz ist, die den Stromspar-Chip einführen will, der über eine Digitalstrom-ID die Identifizierung aller elektronischen Geräte in einer Wohnung ermögliche, so die Jury. Obwohl bislang noch kein Datenmissbrauch des Yello-Stromzählers bekannt geworden ist und bei der Technik noch kein Datenleck entdeckt wurde, sei das Gesamtsystem dennoch preiswürdig, weil es keine Möglichkeiten zur Überprüfung gebe, welche Informationen der Zähler weiterleitet. Die Geheimniskrämerei rund um den gelben Zähler mache aus der gesamten Technik eine Black Box zum Nachteil des einzelnen Verbrauchers.
Die "Datenverarbeitung im Auftrag Dritter" ist in den vergangen Jahren immer wieder eine Quelle für besonders gelungene Big-Brother-Preise gewesen. In diesem Jahr punktet das Blaue Wunder von Hennigsdorf, die Firma Healthways. Im Auftrag der Krankenkasse DAK kontaktiert sie Kranke mit Diabetes, Herzinsuffizienz und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung per Telefon, um sie an anstehende Termine im Rahmen einer DMP-Behandlung zu erinnern. Dieses Verfahren der Krankenbetreuung stammt aus Schweden und hat mittlerweile in den USA Karriere gemacht. All das wäre keines Datenkraken-Preises würdig, wäre da nicht der Verfahrensfehler der DAK, die an ihren Subunternehmer Healthways 200.000 Datensätze schickte, ohne ihre Versicherten zuvor darüber zu informieren und eine Einwilligung eingeholt zu haben. Für diese Variante des illegalen Handels mit Kundendaten bekommt die DAK nun ihren ganz persönlichen Big Brother Award in der Kategorie "Gesundheit und Soziales."
Die Big Brother Awards sind nationale Auszeichnungen, die mittlerweile in vielen Ländern vergeben werden. Mitunter geraten so länderübergreifende Tendenzen ebenso aus dem Blickfeld wie lokale Datenverletzung. Anstelle der sonst sehr beliebten Kategorie "Regionales" wird diesmal in Bielefeld "Europa" geehrt. Ratspräsident Bernard Kouchner sowie der Generalsekretär Javier Solana erhalten stellvertretend für den gesamten Rat der Europäischen Union einen Big Brother Award für die Einrichtung und Aktualisierung der EU-Terrorliste. Wie mit dieser Terrorliste verfahren wird, sei skandalös und führe zu einer Art "ziviler Todesstrafe", wenn jemand auf der Liste eingetragen wird. Das hatte Dick Marty, Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in einer Untersuchung festgestellt. Basierend auf dem Bericht von Marty gibt es den Datenkraken-Preis für ganz Europa, obwohl der Bericht selbst für Verbesserungen gesorgt haben soll. Denn nach der Veröffentlichung des Berichts sind Personen zwar schriftlich informiert worden, dass sie auf der Terrorliste stehen. Einige Fälle wurden sogar von einem Geheimgremium untersucht, das die Betroffenen anhörte. Von der Liste gestrichen wurde indes niemand: das undemokratische Verfahren wird nach wie vor praktiziert. (Detlef Borchers) /
(vbr/c’t)
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