KABUL/BERLIN – Berlin bereitet sich auf
offensive Kampfeinsätze deutscher ISAF-Truppen in Afghanistan vor. Nach
entsprechenden Äußerungen aus Militärkreisen verlangen jetzt
Regierungsberater, deutsche Soldaten müssten aggressiver auftreten
sowie "die Aufstandsbekämpfung als neue Einsatzrealität (…)
akzeptieren". Als ersten Schritt solle die Bundeswehr eine Schnelle
Eingreiftruppe aufstellen und in Nordafghanistan stationieren, heißt es
in einem soeben veröffentlichten Papier der Berliner Stiftung
Wissenschaft und Politik (SWP). Ergänzend fordert die SWP, den
wachsenden afghanischen Widerstand durch "Verhandlungen mit einzelnen
lokalen Gruppen" zu spalten. Ein entsprechendes Modellvorhaben fördert
das Auswärtige Amt seit mehreren Jahren über die Heinrich-Böll-Stiftung
(Bündnis 90/Die Grünen). Allerdings stehen die Spaltungspläne im
Widerspruch zu den Kampfankündigungen: Bereits Anfang Februar 2007 war
ein Projekt zur Kooperation mit lokalen Stammesältesten
("Musa-Qala-Protokoll") an der Eröffnung neuer Militäroffensiven
gescheitert. Ein ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium der
Verteidigung vergleicht die Lage in Afghanistan mit der Entwicklung in
Algerien und in Vietnam kurz vor dem Zusammenbruch der westlichen
Kolonialherrschaft.
Offensiv operieren
Die Forderung der Stiftung Wissenschaft und Politik
(SWP), eine Schnelle Eingreiftruppe der norwegischen Streitkräfte nach
ihrem Abzug aus Afghanistan durch deutsche Einheiten zu ersetzen,
greift entsprechende Empfehlungen des Generalinspekteurs der
Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, auf. Der ranghöchste deutsche Soldat
hatte schon im November für eine deutsche "Quick Reaction Force" in
Nordafghanistan plädiert.[1] Damals war dort der erste bedeutendere
Kampfeinsatz unter deutscher Führung zu Ende gegangen: Befehligt von
einem deutschen Brigadegeneral hatten 900 afghanische Soldaten sowie
rund 260 Angehörige der "Quick Reaction Force" aus Norwegen größere
Gebiete im Nordwesten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Die
Bundeswehr war mit rund 300 Soldaten abseits der unmittelbaren
Gefechtshandlungen (Aufklärung, Logistik, Sanitäter) an der "Operation
Harekate Yolo II" beteiligt. In Zukunft sei eine "Durchführung
gezielter offensiver Operationen gegen radikale Aufständische" auch
durch deutsche Kampftruppen unumgänglich, erklärt jetzt die SWP.[2]
Den Widerstand spalten
Wie die Stiftung verlangt, soll die Ausweitung der
Militäroffensive vom Versuch begleitet werden, den wachsenden
afghanischen Widerstand zu spalten. Hintergrund sind die zunehmenden
Aufstände, die dieses Jahr trotz einer Kältewelle und heftigen
Schneefällen auch im Winter anhalten und am Wochenende erneut
zahlreiche Todesopfer gefordert haben. Am gestrigen Montag kam es sogar
zu einem mörderischen Überfall auf das am schärfsten bewachte Hotel in
der afghanischen Hauptstadt; dort sind unter anderem Beamte des
Bundeskriminalamtes (BKA) untergebracht. Die Unruhen, die auch im
deutschen Mandatsgebiet immer stärker aufflackern, dürften im Sommer
einen neuen Höhepunkt erreichen und sind allein mit militärischen
Mitteln nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen. Die SWP plädiert daher
für "Verhandlungen mit einzelnen lokalen Gruppen", um sie aus der
Aufstandsfront herauszubrechen und mit ihrer Hilfe die bewaffneten
Insurgenten zu isolieren.[3]
Stämme erschließen
Ein Projekt, das die Voraussetzungen dafür bietet,
finanziert Berlin seit mehreren Jahren über die Heinrich-Böll-Stiftung
(Bündnis 90/Die Grünen). Dabei handelt es sich um das "Tribal Liaison
Office", das auf "die Einbindung der traditionellen Stammesstrukturen
in den politischen Prozess" zielt.[4] "In vielen Regionen", schreibt
die Grünen-Stiftung, haben "Parallelstrukturen wie Stammesverbände,
Milizen, religiöse Gruppierungen das Gewaltmonopol" inne. Dort bestehe
"die Gefahr, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die nach dem
Sturz der Taliban keine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erfährt,
in eine erneute Solidarisierung mit Warlords oder fundamentalistischen
Kräften mündet." Dies will die Stiftung mit dem "Tribal Liaison Office"
verhindern. "Im Rahmen des Projekts werden Verbindungsbüros zwischen
Stämmen, Regierung und internationalen Strukturen aufgebaut", heißt es
über die Einrichtung, die vor allem in drei südostafghanischen
Provinzen (Paktia, Paktika, Khost) tätig ist und unterschiedliche
lokale Gruppen für die westlichen Besatzer und die Marionettenregierung
in Kabul erschließt.
Gefängnisse
Erst vor wenigen Tagen hat das "Tribal Liaison
Office" seine Arbeit mit Hilfe der Heinrich-Böll-Stiftung ausgeweitet
und auf einer Konferenz in Kabul zahlreiche Stammesälteste aus zehn
Unruheprovinzen im Osten und Südosten Afghanistans versammelt.
Gegenstand der Gespräche waren Überlegungen, Verhandlungen mit den
Aufständischen einzuleiten und Teile von ihnen durch Zugeständnisse zum
Überlaufen zu bewegen. Wie es in der deutschen Presse heißt, werden
solche Initiativen inzwischen "von westlichen Diplomaten in Kabul mit
zunehmender Aufmerksamkeit registriert".[5] Die Erfolgsaussichten sind
recht unklar. "Wir sind von einem Gefängnis in ein anderes gesteckt
worden", urteilt ein Stammesältester über die westliche Besatzung; man
wolle jedoch "die Unabhängigkeit Afghanistans". Ein Entgegenkommen
gegenüber den afghanischen Clans wäre zudem mit einem weitgehenden
Zusammenbruch der westlichen Kriegspropaganda verbunden. So erklärt ein
hofierter Teilnehmer der Kabuler Konferenz: "Wir können keinen Frieden
ohne die Scharia haben".[6]
Zunichte gemacht
Die Erfahrungen mit einem früheren
Kooperationsprojekt lassen einen Erfolg der Bemühungen im Falle einer
weiteren Eskalation der Kämpfe, wie sie die SWP auch verlangt, ohnehin
als unwahrscheinlich erscheinen. Bereits im Sommer 2006 hatten
britische Besatzungskräfte das sogenannte Musa-Qala-Protokoll
akzeptiert; die Übereinkunft zwischen dem örtlichen Provinzgouverneur
und Stammesältesten aus dem Distrikt Musa Qala verband einen
Waffenstillstand mit der Zusage freien Zugangs für westliches Personal
zu dem Gebiet. Die Stammesältesten verpflichteten sich in dem Abkommen
darauf, "Sicherheit und Gesetz" zu garantieren und außerdem den
Ansprüchen der Zentralregierung in Kabul mit der Erhebung von Steuern
Rechnung zu tragen. Das "Musa-Qala-Protokoll" gewährte dem vorher
heftig umkämpften Distrikt für mehrere Monate relativen Frieden.[7] Der
Beginn einer neuen ISAF-Offensive Ende Januar 2007 führte jedoch auch
in Musa Qala zum Wiederaufflammen der Kämpfe und machte sämtliche
Ergebnisse der vorherigen Bemühungen zunichte.
Entscheidungs-Krisis
Die Dilemmata der Besatzung veranlassen einen
prominenten Militärexperten, den ehemaligen Staatssekretär im
Bundesverteidigungsministerium Lothar Rühl, zu vorausschauenden
Vergleichen mit dem Zusammenbruch der westlichen Kolonialherrschaft in
Algerien und in Vietnam. Wie Rühl erkannt zu haben meint, ist in vielen
Konflikten vor der "Entscheidungs-Krisis" ein "Nachlassen der
Kampfintensität oder der Aggressivität" zu beobachten.[8] "So war es
1952 im französischen Indochina-Krieg", schreibt er: "Die Lage schien
sich zu stabilisieren, bevor die französische Kriegführung 1953 wieder
in die Defensive gedrängt wurde und 1954 die Niederlage in der Schlacht
um Dien Bien Phu das Ende bedeutete." "Es war ähnlich in Algerien
1959", fährt Rühl fort – nach mehreren Erfolgen begann 1960/61 "der
Absturz in die Auflösung der französischen Herrschaft". Parallelen
erkennt der frühere Regierungsexperte ebenfalls im US-Krieg um Vietnam
sowie in der sowjetischen Besatzung Afghanistans; beide scheiterten
bekanntlich.
Übergangszustände
"In allen diesen Krisen gab es Abschwächungen, die
etwas Ruhe brachten und positive Aussichten eröffneten, die aber nur
Übergangszustände waren", urteilt Rühl: "Ein solcher Zustand scheint
gegen Ende des Jahres 2007 im Irak eingetreten und in Afghanistan in
Aussicht zu sein."[9]
[1] s. dazu Koloniales Modell
[2], [3] Strategien zur Aufstandsbekämpfung; SWP-Aktuell 3, Januar 2008
[4] Schwerpunkte der Arbeit in Afghanistan: Traditionelle Gesellschaft und Demokratie; www.boell.de
[5], [6] Der Kampf um die Herzen der unglücklichen Brüder; Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.12.2007
[7] Musa-Qala-Protokoll am Ende; SWP-Aktuell 13, Februar 2007
[8], [9] 2008 – Jahr der Krisis; Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.12.2007
Source: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57125